Wer war Anna Atkins?
Was für eine bahnbrechende Erfindung die Fotografie war und wie allgegenwärtig sie heute ist, macht man sich selten bewusst. Manchmal gibt es kleine Begebenheiten, die einen dieser Erkenntnis gewahr werden lassen. Wie neulich, als ich auf Instagram über die frühe Fotografin Anna Atkins stolperte.
Als ich beim Herumscrollen an diesem Beitrag vorbeikam, dachte ich zuerst, es handele sich um ein Bild von @itroia, die mir im letzten Jahr mit ähnlichen Abbildungen erneut aufgefallen war.
Beim Lesen der Bildbeschreibung hatte ich dann das seltsame Gefühl, das einen manchmal überfällt, wenn man sich größerer Zusammenhänge bewusst wird. Die ausgerechnet auf Instagram gezeigte Cyanotypie, die mich an die experimentellen Arbeiten einer zeitgenössischen, experimentellen Künstlerin erinnerte, stammte von Anna Atkins – möglicherweise die erste Frau, die jemals mit einer Kamera fotografiert hatte.
Wie sah ein Leben ohne die Fotografie aus? Abgesehen davon, dass vor 200 Jahren wirklich vieles ganz anders war, sind Fotos aller Arten und Formen für uns heute allgegenwärtig. Selbst so einfache fotografische Verfahren wie die von Anna Atkins verwendete Cyanotypie, die ohne Linse auskommen, dürften viele in jungen Jahren schon im Kunst- oder Physikunterricht selbst verwendet haben.
Die meisten von uns können sich eine Welt ohne soziale Medien, ohne Internet und je nach Jahrgang und wo genau man aufgewachsen ist, vielleicht sogar ohne Fernseher und Telefon noch ganz gut vorstellen, weil wir uns an unsere Kindheit erinnern, in der es diese Dinge noch nicht gab oder sie zumindest in unserem Alltag nicht allgegenwärtig waren.
Anna Atkins könnte es also ähnlich gegangen sein wie vielen von uns: Als Joseph Nicéphore Niépce die erste (dauerhafte, erhaltene) Fotografie der Welt aufnahm, war sie schon 27 Jahre alt. Über ihren Vater, ebenfalls Wissenschaftler, war die Botanikerin und Illustratorin mit dem Fotopionier William Henry Fox Talbot sowie Sir John Herschel, dem Erfinder der Cyanotypie bekannt. So gelangte die noch ziemlich neue Technik auch relativ schnell zu ihr.
Und dort fiel sie auf sehr fruchtbaren Boden. Anna Atkins war zuvor schon als Illustratorin tätig und hatte beispielsweise 200 Muschelzeichnungen für ein Buch beigesteuert, das ihr Vater übersetzt hatte. Mit dem Aufwand vertraut, den die akkurate Bebilderung wissenschaftlicher Publikationen erforderte, erkannte sie also das Potential der Fotografie für ihren Tätigkeitsbereich und erlernte sie umgehend.
So konnte sie bereits ab 1841 ihre Bücher über Algen und Farne veröffentlichen, die durchgängig mit ihren Cyanotypien der verschiedenen Algen- und Farn-Arten illustriert waren, die sie selbst dafür gesammelt und getrocknet hatte. An diesen mehrbändigen Projekten arbeitete sie bis 1854 und fertigte in dieser Zeit Hunderte (andere Quellen berichten von Tausenden) betitelte Cyanotypie-Fotogramme an.
Und an diesen Bildern bleibe ich nun 180 Jahre später beim Herumscrollen auf Instagram hängen. Einerseits finde ich es etwas verwunderlich, wenn ich einmal bedenke, was für ausgefallene Fotoprojekte es heute sonst noch so gibt, die teilweise ihren Reiz auch erst durch ganz moderne Technik erhalten.
Andererseits handelt es sich bei meiner Faszination für minimalistische Pflanzendetails auch um einen persönlichen alten Hut. Schon als ich in einer Restekiste der lokalen Bücherei einmal über einen Band von Karl Blossfeldts „Urformen der Kunst“ stolperte – lange, bevor ich anfing, mich ernsthaft mit der Fotografie zu beschäftigen – war ich hin und weg.
Pflanzen faszinieren mich einfach. Und genau diese wissenschaftliche Faszination fängt auch Anna Atkins ein. Betrachtet man ihre Bilder und das Werk von Karl Blossfeldt, ergeben sich ein paar interessante Parallelen. Beide waren wohl kaum bis gar nicht an den künstlerischen Aspekten ihrer eigenen Werke interessiert, sondern nutzten die Fotografie ganz einfach als Werkzeug für ihre wissenschaftlichen Anliegen.
Anna Atkins verfasste in ihrem späteren Leben noch eine 300-seitige Biografie über ihren Vater sowie fünf Romane und fertigte gemeinsam mit ihrer Freundin Anne Dixon drei weitere Alben mit Cyanotypie-Fotogrammen von Pflanzen an. Aus einem davon stammt auch die Cyanotypie des Klatschmohns, dank der ich auf sie aufmerksam wurde und anschließend meine kleine Recherche begann.
Davon abgesehen ist leider kaum etwas über ihr Leben bekannt. Ich muss sagen, dass mich das besonders schmerzt. Sie hat definitiv kein für eine Frau ihrer Zeit übliches Leben geführt, sondern war in der besonderen Position, sich der Wissenschaft wohl ganz nach ihren eigenen Präferenzen widmen und ihre Tage mit dem Forschen und Fotografieren füllen zu können.
Wie spannend es gewesen wäre, wenn etwa ein Tagebuch, Briefe von ihr oder andere Aufzeichnungen erhalten wären. Ich hätte gern gewusst, welche Gedanken sie sich über die Zeit, in der sie lebte, gemacht hat. Was sie an der Wissenschaft und der Fotografie reizte. Oder was sie über die sich bereits verändernde Rolle der Frauen in ihrer Gesellschaft dachte.