29. März 2023 Lesezeit: ~13 Minuten

Wer war Jessie Tarbox Beals?

In einer Zeit, in der die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen Hausfrauen waren und die wenigen, die sich beruflich an die Fotografie wagten, nur häusliche Portraitstudios führten, wurde die US-Amerikanerin Jessie Tarbox Beals dafür bekannt, die erste Pressefotografin zu sein.

Dieser Beruf führte sie nicht nur heraus aus der Sicherheit des eigenen Heims, sondern da draußen auch regelmäßig in Situationen, die damals als zu hart für Frauen galten. Der Fotojournalismus war besonders in der damaligen Zeit eine körperlich anstrengende Arbeit, da die Ausrüstung schwer und unhandlich war.

Ihre große Glasplattenkamera mitsamt 25 kg schwerem Zubehör beherrschte sie allerdings spielend. Sie war stolz auf ihre körperliche Stärke sowie Beweglichkeit und hatte eine besondere Freude an der Selbstdarstellung. Diese in Kombination mit einer ausgesprochenen Beharrlichkeit sorgten dafür, dass sie sich in diesem stark umkämpften Feld lange behaupten konnte.

Geboren wurde Jessie Tarbox am 23. Dezember 1870 in Hamilton, Ontario als jüngstes Kind von John Nathaniel Tarbox und seiner Ehefrau Marie Antoinette Bassett. Sie hatte drei ältere Geschwister: Paul Walter Tarbox (1856–1925), Edward Bassett Tarbox (1859–1943) und Grace Bassett Tarbox (1861–1907).

John Tarbox war als Erfinder einer tragbaren Nähmaschine in Partnerschaft mit dem größten Nähmaschinenhersteller Kanadas zu einem bequemen Wohlstand gekommen, sodass die Familie in einem schön angelegten Herrenhaus leben konnte. Dies änderte sich allerdings schlagartig, als sein Patent im Jahr 1877 auslief und er durch eine Fehlinvestition seine gesamten Ersparnisse verlor.

Er versuchte, bei einem Glashersteller zu arbeiten, scheiterte aber. Marie Antoinette Bassett trennte sich von ihm, verkaufte das Haus samt Einrichtung und bestritt fortan durch den Verkauf von Handarbeiten mehr schlecht als recht den Unterhalt für sich und die Kinder. John Tarbox wurde schließlich schwer alkoholkrank. Im Jahr 1899 starben die Eltern innerhalb weniger Monate.

Jessies Schwester Grace Tarbox war ab 1896 bis zu ihrem Tod im Jahr 1907 als Missionarin in Venezuela. Ihr Bruder Edward Tarbox war 1898/1899 mit seiner Frau Maude ebenfalls als erster protestantischer Missionar in Ecuador tätig. Noch im Alter von 70 Jahren begann er, in Iowa als Fotograf sein lebenslanges Hobby zum Beruf zu machen. Sein Fotostudio wurde leider durch ein Feuer zerstört.

Jessie Tarbox galt als „klug und frühreif“, sie war eine gute Schülerin. 1884 wurde sie am Collegiate Institute of Ontario aufgenommen und bestand dort 1887 ihr Lehrerinnenexamen. Daraufhin zog sie zu ihrem Bruder Paul nach Williamsburg in Massachusetts und trat dort ihren Dienst als Lehrerin an einer örtlichen Schule an.

Sie war wohl schon immer künstlerisch interessiert, versuchte sich in ihrer Freizeit beispielsweise im Zeichnen, war aber von den Ergebnissen enttäuscht. Im Jahr 1888 erwarb sie sehr günstig ihre erste Kamera, indem sie ein Abonnement für die Zeitschrift Youth’s Companion verkaufte.

Damit fotografierte sie ihre Schüler und die Umgebung. Sie kaufte sich für 12 $ sehr schnell eine größere Kamera und verdiente damit für kleinere Aufträge schon bald etwas Geld, sodass sie auch diese Kamera durch ein hochwertigeres Modell von Kodak ersetzen konnte.

In ihrem Haus in Wiliamsburg richtete sie ihr erstes Fotostudio ein, die Fotografie blieb dennoch für sie zunächst Hobby und Zuverdienst. Etwa bot sie während der Sommermonate den Student*innen der nahegelegenen Colleges vier Portraits für einen Dollar an. So etablierte sie eine Quelle für ein regelmäßiges weiteres Einkommen.

1893 trat Jessie Tarbox eine neue Stelle als Lehrerin in Greenfield an. Im gleichen Jahr besuchte sie außerdem die World’s Columbian Exposition in Chicago, wo sie auf einer Ausstellung mit den Fotografinnen Frances Benjamin Johnston sowie Gertrude Käsebier in Kontakt kam. Dieser Austausch weckte ihr Interesse am Reisen und nährte die Idee, sich der Fotografie beruflich stärker zu widmen.

Im Jahr 1897 heiratete sie den Fabrikmechaniker und Absolventen des renommierten Amherst College Alfred Tennyson Beals. Ihm brachte sie die fotografischen Grundlagen bei, sodass er ihre Arbeit ganz praktisch durch Hilfe etwa in der Dunkelkammer unterstützen konnte.

Noch während sie in Teilzeit unterrichtete und nur nebenbei fotografierte, begann ihre professionelle Karriere als Fotografin, als sie 1899 von der Tagezeitung The Boston Post den beauftragt wurde, das Staatsgefängnis von Massachusetts zu fotografieren. Im Jahr 1900 beendete sie dann ihre Lehrtätigkeit und arbeitete gemeinsam mit ihrem Mann als Wanderfotografin.

Dieser Plan ging finanziell nicht ausreichend auf und das Paar siedelte 1901 nach Buffalo in New York um. Im Jahr darauf wurde ihr erstes Kind zu früh geboren und starb wenige Stunden nach der Geburt. Ebenfalls 1902 gelang es ihr, die Aufmerksamkeit der Herausgeber des Buffalo Inquirer und The Buffalo Courier zu erregen, die sie als erste weibliche Fotojournalistin fest einstellten.

Sich durch besonderes Selbstbewusstsein hervorzuheben und gerade nicht, wie es sich für Frauen der Zeit geziemte, brav ruhig im Hintergrund zu bleiben, wurde in diesen Jahren zu einer Art Markenzeichen von Jessie Tarbox Beals. Immer wieder öffnete sie sich selbst dadurch die jeweils nächste Tür.

1903 erhielt sie ihren ersten Exklusivbericht über einen Mordprozess, bei dem der Presse untersagt worden war, vor Ort Fotos zu machen. Mit der Hilfe von anderen Reportern kletterte sie auf ein Bücherregal und machte von dort oben mehrere Aufnahmen durch ein Oberlicht in den Nebenraum hindurch, wo der Prozess abgehalten wurde.

1904 wurde sie zur Eröffnung der Louisiana Purchase Exposition nach St. Louis geschickt. Um besondere Aufnahmen dieser Weltausstellung zu machen, kletterte sie vor Ort auf hohe Leitern oder stieg mit einem Heißluftballon auf, um Fotografien aus den Perspektiven zu bekommen, die sie sich vorgestellt hatte.

Bei den parallel zur Ausstellung stattfindenden dritten Olympischen Sommerspielen, die insgesamt nur eine geringe Beachtung erfuhren, interessierte sie sich vor allem für die Vertreter der indigenen Völker. Sie fing bei den Wettbewerben viele spontane Bilder ein, die nicht in das damals verbreitete Bild des „Rassen- und Entwicklungsfortschritts“ passten.

Mit ihrem fotografischen Stil, der konzeptuell einen hervorragenden journalistischen Ansatz demonstrierte, sorgte sie auch bei dieser Gelegenheit wieder dafür, dass man sich nach ihr umdrehte. Statt wie bis dahin üblich die passenden Bilder für bereits vorbereitete Reportagen zu liefern, erarbeitete sie selbst Ideen für mehrere eigene Bilderserien, auf deren inhaltlicher Grundlage die Zeitungen, die sie veröffentlichten, dann Geschichten schrieben.

Die Frau, die am Tag ihrer Ankunft bei der Weltausstellung noch Beamte überreden musste, ihr eine nachträgliche Pressegenehmigung auszustellen, wurde die offizielle Messefotografin. In dieser Funktion berichtete sie für diverse Zeitungen wie den New York Herald, Leslie’s Weekly und The Tribune. Die Werbeabteilung der Messe stellte sie ein und veröffentlichte ihre über 3.500 Fotografien und 45.000 Drucke der Veranstaltung.

Unter anderem fertigte sie auf der Ausstellung auch eine Bilderserie mit dem Präsidenten Theodore Roosevelt an, indem sie sich an seine Fersen heftete und jede einzelne Station dokumentierte, die er besuchte. Diese Begegnung ermöglichte es ihr, im darauffolgenden Jahr die Reise des Präsidenten nach Texas zur „Rough Riders Reunion“ zu fotografieren.

1905 konnte sie ihr eigenes Fotostudio in der Sixth Avenue in New York City eröffnen. Sie hatte Erfolg, musste aber auch bereit sein, alles zu tun, um am Ball zu bleiben. Dies wird auch in der Vielfalt ihrer Aufträge und Veröffentlichungen aus dieser Zeit klar, die von den Schwierigkeiten berichten, als freie Fotojournalistin nicht unterzugehen.

Jessie Tarbox Beals fotografierte Stadtszenen, Autorennen und bot ihre Dienste bekannten Persönlichkeiten. Die architektonischen Ikonen von New York City hielt sie ebenso fest wie die Leute auf den Straßen von Chinatown, im Central Park oder der Lower East Side. Sie fotografierte die Kinder in den Slums und die High Society der Greenwich-Village-Bohème.

Ihre männlichen Kollegen dominierten den hart umkämpften Markt der professionellen Portraitfotografie in New York und dennoch beauftragte die American Art News Jessie Tarbox Beals und Zaida Ben-Yusuf damit, 17 Portraits prominenter Künstler anzufertigen, die 1905 veröffentlicht wurden.

Diese Serie führte zu weiteren Aufträgen von namhaften Zeitschriften, für die sie in der Folge zahlreiche Maler*innen, Bildhauer*innen, Schriftsteller*innen und Schauspieler*innen portraitierte. In dieser Zeit brachte Jessie Tarbox Beals sich selbst bei, wie man mit Blitzlichtpulver Fotos bei Nacht machte und wurde so die erste Nachtfotografin.

Während die erfolgreiche Fotografin bald selbst zu einem festen Bestandteil des schillernden Kunst- und Szeneviertels Greenwich Village wurde, das sie fotografierte, lebte ihr Mann Alfred lieber zurückgezogener. Sie begannen, getrennte Leben zu führen. Alfred verbrachte mehr Zeit mit seinem Botanik-Hobby und weniger damit, seine Frau bei ihren fotografischen Aufträgen zu unterstützen.

1911 wurde ihre Tochter Nanette Tarbox Beals geboren, die aber höchstwahrscheinlich aus einer anderen Beziehung stammt. Jessie und Alfred trennten sich im Jahr 1917, sie ließen sich 1923/1924 schließlich offiziell scheiden. Und dennoch liebten beide Tochter Nanette.

Als das Geschäft nach dem Ersten Weltkrieg boomte, zog Jessie Tarbox Beals schließlich ins Greenwich Village. Dort eröffnete sie 1920 ein neues Fotostudio mit Galerie und bewohnte ein großes Loft in der Fourth Avenue. Während die Zahl der Fotografinnen zunahm, konzentrierte sie sich mehr und mehr auf öffentliche Vorträge.

Nanette litt an rheumatoider Arthritis, die zu häufigen Krankenhausbehandlungen und intensiver Pflegebedürftigkeit führten. Die Menge an mütterlicher Fürsorge, die ihre kranke Tochter nötig hatte, war oft nicht mit ihrer Arbeit als Fotografin in Einklang zu bringen. Daher wohnte Nanette zeitweise überwiegend bei Alfred und in einem Internat.

Von all den Künstler*innen umgeben, wandte sich auch ernsthaft der Poesie zu, einige Gedichte wurden in kleineren Zeitschriften veröffentlicht. 1928 gab sie im Selbstverlag „Songs of a Wanderer“ heraus, einen mit ihren eigenen Fotografien illustrierten Gedichtband.

Als Jessie Tarbox Beals 58 Jahre alt war, konnte sie das Bild der starken, schnellen Frau so nicht mehr aufrechterhalten. Sie stellte auf leichtere Kameras und Film um. Sie wurde älter und jagte weiter jeder Möglichkeit hinterher, Aufträge als Fotografin zu bekommen, aber es wurde immer schwieriger, angemessene Aufträge zu finden.

Mit ihrer Tochter zog sie 1928 nach Santa Barbara und Hollywood, Kalifornien, wo die Reichen und Berühmten nur allzu gern ihre großzügigen Anwesen von einer angesagten New Yorker Fotografen fotografieren lassen wollten. Der Börsenkrach beendete dieses Projekt jedoch schon 1929 wieder. 1933 zogen sie nach Chicago, Illinois, und wieder zurück nach New York City.

Sie mietete sich in einer Dunkelkammer ein und wohnte in einer Souterrainwohnung, gar nicht weit von ihrem ersten New Yorker Studio entfernt. Jessie Tarbox Beals fotografierte weiterhin Gärten und Anwesen. Sie gewann Preise, aber sie erreichte nie wieder ihr früheres Niveau.

Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und ihr jahrelang gepflegter, verschwenderischer Lebensstil forderten ihren Tribut. Im Alter verarmte Jessie Tarbox Beals. Am 30. Mai 1942 verstarb sie im Alter von 71 Jahren im Bellevue Hospital in New York City. Sie wurde im Familiengrab in Williamsburg mit ihren Eltern, ihrer Schwester und ihrem Bruder Paul Walter beigesetzt.

Ihre Tochter Nanette Beals engagierte sich danach ihr ganzes Leben lang für die Veröffentlichung des Werks und der Lebensgeschichte ihrer Mutter. Sie arrangierte posthume Ausstellungen und Publikationen. Ab 1982 übergab sie alle Papiere und die verbliebenen Fotografien ihrer Mutter der Schlesinger Library in Radcliffe. Dort stehen sie Wissenschaftler*innen und allen, die sich für Frauengeschichte interessieren, zur Verfügung.

Dass Jessie Tarbox Beals so lange erfolgreich bleiben konnte, hatte sie auch ihrer Vielseitigkeit zu verdanken. Zu dieser war sie gezwungen, weil sie jeden möglichen Auftrag annehmen musste, um als Fotografin überleben zu können. Am Ende ihres Lebens bedauerte sie es jedoch, sich deshalb nie spezialisiert zu haben.

Womöglich dadurch blieb ihr die langfristige Anerkennung verwehrt und ihr finanzieller Erfolg endete. Infolgedessen gingen viele ihrer Negative und Abzüge verloren oder wurden zerstört. Sie hatte schlicht nicht die Möglichkeit, genug Platz zu bezahlen, um alles adäquat aufbewahren zu können.

So geriet ihr Werk in Vergessenheit, bis der amerikanische, in Russland geborene, Fotograf Alexander Alland auf ihr Vermächtnis aufmerksam wurde. Er sammelte alles, was er über Jessie Tarbox Beals finden konnte und schrieb eine Biografie mit dem Titel „Jessie Tarbox Beals. First Woman News Photographer“, die 1978 veröffentlicht wurde.

Jessie Tarbox Beals sollte nicht erneut vergessen werden. Sie war eine hingebungsvolle Pionierin der Nachrichtenfotografie, die dieser Passion ihr Leben gewidmet hat. Nicht zuletzt war sie eine beharrliche Kämpferin gegen Geschlechterbarrieren, die mit ihrem selbstbewussten Beispiel andere inspiriert hat, Fotografinnen zu werden.

Quellen und weiterführende Literatur

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