Wer war Signe Brander?
Heute machen wir einen Ausflug ins örtlich sowie zeitlich weit entfernte Finnland des beginnenden 20. Jahrhunderts. Dort fotografierte vor über hundert Jahren Signe Brander als erste Museumsfotografin unter anderem das Stadtbild sowie die Menschen in Helsinki.
Sie wurde 1869 in Parkano im Südwesten Finnlands geboren. Dort besaß ihr Vater Ernst Brander einen großen Bauernhof, ihre Mutter Jenny Brander (geb. Rääf) stammte aus Schweden. Signe Brander hatte weitere sechs Geschwister. Die Familie zog in die weiter nördlich gelegene Küstenstadt Kokkola, als der Vater dort 1873 eine Stelle als Zollbeamter antrat.
Nach dem Tod des Vaters 1891 zog die Mutter mit den drei Töchtern nach Helsinki um. Dort absolvierte Signe Brander zunächst ein Studium, das sie zur Zeichenlehrerin ausbildete, allerdings arbeitete sie nie als Lehrerin. Stattdessen wandte sie sich der Fotografie zu und setzte in diesem Medium auch die erworbenen künstlerischen Fähigkeiten ein.
Es war Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus üblich, dass Frauen als Studiofotografinnen arbeiteten. Das Medium wurde vor allem als Handwerk begriffen und die „großen Künste“ wie die Malerei waren überwiegend den Männern vorbehalten. Wo Signe Brander die Grundlagen der Fotografie erlernte, ist nicht dokumentiert, sie arbeitete aber nachweislich im Studio des wichtigen finnischen Portraitfotografen Daniel Nyblin.
Der Beginn von Signe Branders Karriere verlief zunächst schleppend. In den Jahren 1896 bis 1898 arbeitete sie als Studiofotografin in Savonlinna im Südosten Finnlands, wo sie auch ihre ersten Landschaftsfotografien aufnahm. 1904 eröffnete sie zurück in Helsinki ein Portraitstudio namens Helikon, das sie allerdings zwei Jahre später wegen großem Konkurrenzdruck schon wieder schließen musste.
Im Jahr 1906 gründete die Stadt Helsinki einen Rat für Altertümer, dessen Hauptaufgabe darin bestand, den Zustand der Stadtviertel zu dokumentieren, die bereits im Wandel begriffen waren oder sich in absehbarer Zeit verändern würden. Der Vorstand betraute Signe Brander, die im Jahr zuvor bereits Stadtansichten fotografiert hatte, mit der Umsetzung des Vorhabens.
Darin ging sie nun erstmals richtig auf und spezialisierte sich auf die Stadt-, Landschafts- sowie Milieufotografie, nachdem die Arbeit im Studio und das Anfertigen von Portraitaufnahmen sie nicht erfüllt hatten. Sie bezeichnete sich selbst schon zu diesem Zeitpunkt als kulturhistorische Fotografin und war sich offensichtlich des zukünftigen Werts ihrer Aufnahmen absolut bewusst.
Ihre Arbeit begann sie 1907 im Stadtviertel Kruununhaka, wo es zu dieser Zeit noch viele einfache Holzhäuser aus der Kaiserzeit gab und arbeitete sich von dort über die Altstadt weiter vor. Waren für die fotografische Dokumentation zunächst nur vom Abriss bedrohte Häuser vorgesehen, erweiterte sich ihr Auftrag schon bald auf alle Gebäude, die auf die eine oder andere Art interessant waren.
Bei gemeinsamen Sonntagsspaziergängen durch die Stadt besprach die Fotografin gemeinsam mit dem Vorstand des Rats, welche Objekte fotografiert werden sollten. Die Aufnahmen fertigte sie dann unter der Woche selbstständig an. In den Fotografien wird ihr künstlerisches Können sowohl in den gewählten Kompositionen als auch dem gekonnten Einsatz des Tageslichts sichtbar.
Auch wenn ihr Auftrag sich grundsätzlich nur auf die Dokumentation der Gebäude beschränkte, bezog sie oft Menschen in ihre Aufnahmen mit ein. Fotografien ganzer Straßenzüge zeigen die zufällig anwesende Bevölkerung auf ihren Alltagswegen durch die Stadt, für Ansichten einzelner Häuser ließ sie oft Kinder, Bewohner*innen oder Passant*innen davor posieren.
So entstanden historisch einzigartige Zeugnisse des alten Helsinki, die nicht nur viele inzwischen zerstörte oder umfangreich veränderte Gebäude zeigen, sondern auch Details des täglichen Lebens der Menschen dokumentieren. Unter Signe Branders Arbeiten finden sich auch einzelne Bilder, die etwa Gruppen von Wäscherinnen oder Bauarbeitern zeigen. Ebenfalls spannend sind Bilder, die den gleichen Ort aus mehreren Perspektiven oder zu verschiedenen Jahreszeiten zeigen.
Innerhalb von nur zwei Jahren war eine so stattliche Menge von Fotografien bei der Stadtdokumentation zusammengekommen, dass 400 davon in einer großen Ausstellung des Finnischen Nationalmuseums gezeigt wurden. Insgesamt erstellte Signe Brander über 900 Aufnahmen des sich verändernden Stadtbilds, bis die Zusammenarbeit 1913 wegen Meinungsverschiedenheiten endete.
Ein weiterer großer Werkzyklus ab 1907 umfasst Aufnahmen von Schlachtfeldern sowie Denkmälern des Russisch-Schwedischen Krieges, in dem sich 1808/1809 die zwei Großmächte um Finnland gestritten hatten, das erst 1917 in Folge der Oktoberrevolution unabhängig werden sollte.
Dafür machte Signe Brander etwa 80 Aufnahmen in verschiedenen Teilen Finnlands, von denen 22 in einem Buch von Generalmajor Hugo Schulman zum 100. Jahrestag des Kriegsendes verwendet wurden. Weitere 25 Bilder wurden vom Verleger des Buches als Postkarten gedruckt, weitere von der Fotografin an das Finnische Nationalmuseum verkauft.
Ihr drittes großes Hauptwerk besteht aus der Dokumentation finnischer Villen überall im Land. Wer den Auftrag initial vergab, ist unbekannt, aber möglicherweise kam er einfach durch ihre bestehenden Kontakte über das Nationalmuseum zustande. Im Sommer 1910 machte Signe Brander die ersten über 120 Aufnahmen.
Die Qualität dieser Arbeiten sprach für sich, sodass sie bis in die 1920er Jahre hinein von immer weiteren Villenbesitzern beauftragt wurde, die Anwesen zu fotografieren. Das Werk umfasste am Ende 2.200 Aufnahmen von 250 Anwesen, über 700 dieser Bilder wurden ebenfalls vom Nationalmuseum angekauft.
Anders als die Studiofotografie war das Fotografieren unterwegs in der Stadt und auf dem Land durchaus beschwerlich, vor allem das Gesamtgewicht der benötigten Ausrüstung machte es körperlich anstrengend. Signe Brander brauchte zum Fotografieren in den Straßen Helsinkis ihre große Plattenkamera, ein stabiles Stativ, die Objektive, Glasnegativplatten sowie Kassetten zum Verstauen der Negative.
All das beförderte sie oft auf einer Kutsche durch die Stadt. Für besonders schwierige Ausflüge – etwa wenn die Fotoausrüstung auf einen Kirchturm oder das Gerüst des Nationalmuseums hinaufgeschafft werden sollte – wurde sie auch von einem Assistenten begleitet.
Ebenso hatte das Dokumentieren der Villen überall im Land seine Tücken. Für die Reisen in die teilweise entlegenen Ortschaften führte die Fotografin wahrscheinlich Hunderte Glasplatten mit, die transportiert werden mussten. Des Weiteren verbrachte sie für durchschnittlich drei oder vier Aufnahmen einer Villa sicherlich mehrere Tage vor Ort, um das bestmöglichste Wetter abzupassen und in der Zeit die Perspektiven zu planen.
Für ihre Fotografien verwendete Signe Brander Glasplattennegative, zunächst in der Größe 12 x 24 cm mit einem Einzelgewicht von 180 g. Später nutzte sie Negative im kleineren Format von 12 x 18 cm, die nur noch jeweils 80 g wogen und sich als Standardformat durchgesetzt hatten. Fünf Aufnahmen von 1929/1930 sind im Halbformat 9 x 12 cm aufgenommen worden.
Die Qualität ihrer Aufnahmen ist, verglichen mit dem Werk anderer Fotograf*innen der Zeit, hervorragend. Dies zeugt zum einen davon, dass Signe Brander ihr Handwerk technisch sehr versiert umsetzte und ist zum anderen auch der Tatsache zu verdanken, dass ihr Werk im Finnischen Nationalmuseum fachgerecht archiviert wurde.
So können wir noch heute ihre Arbeiten in einer fantastischen Detailgenauigkeit erleben. Es lohnt sich, einmal die hochauflösenden Bilder etwa bei Wikimedia Commons genau zu betrachten. Man sieht, dass die Aufnahmen – kompositorisch oft ähnlich wie Gemälde angelegt – dazu gedacht sind, in einer entsprechenden Größe betrachtet zu werden.
Bereits in den 1930er Jahren begann Signe Branders Gesundheitszustand sich zu verschlechtern. Durch grauen Star war sie bald auf dem rechten Auge blind und dem linken beeinträchtigt. Dennoch und obwohl sie nie geheiratet oder eine eigene Familie gegründet hatte, nahm sie weiterhin aktiv am gesellschaftlichen Leben teil.
1941 kam sie ins Krankenhaus. Als Helsinki bombardiert wurde, wurden alle Patient*innen in die Nervenheilanstalt in Sipoo, etwas außerhalb von Helsinki, verlegt. Durch die Kriegsumstände war die Versorgung teilweise so schlecht, dass sich in diesen Jahren im Klinikum schwere Krankheiten ausbreiteten und Hunderte Patient*innen verhungerten.
Unter ihnen war 1942 auch Signe Brander, gestorben vermutlich an Unterernährung und Vitaminmangel. Sie wurde auf dem Friedhof des Krankenhauses bestattet. Ihr fotografisches Vermächtnis bildet die Grundlage für das 1911 gegründete Helsinki City Museum.
Quellen und weiterführende Literatur
- YLE Elävä arkisto: Brander tallensi katoavan Helsingin
- YLE Teema: Signe Brander kaupunkikuvaajana
- Sofia 1-2 2005: Signe Brander – Helsingin kuvaaja (PDF)
- Wikimedia Commons: Fotografien von Signe Brander
- Wikipedia: englisch / finnisch
Wow! Was für ein spannender, detailreicher und beeindruckender Artikel!!!
Er hat mich beim Lesen ins alte Helsinki gezogen, hat mir die Person der Signe Brander nähergebracht, mir herausragende Bilder gezeigt und mich über den Sinn der Fotografie nachdenken lassen (einer davon: Dokumentieren und Erhalten).
Liebe Aileen, ich hoffe, dass Du noch viele solcher spannenden Persönlichkeiten auf Lager hast und Dir weiter die Zeit nimmst, sie uns vorzustellen.
Begeisterte Grüße, Stefan
Ein gut gemachter Bericht, der einerseits die Frau Fotografin zeigt und andererseits auch ein echter Beitrag zur visuellen Geschichte ist. Sehr instruktiv und informativ.
Hallo Aileen,
danke für diesen tollen Blick auf ein Arbeit/Photographin, die ich nun auch nicht kannte.
Anfangs dachte ich bei der Serie, das Du uns in die „erste Liga“ -zugeben interessante Welt- von Capa, Cartier-Bresson, Lange, Maier, Arbus etc. erneut führen möchtest.
Weit gefehlt! Chapeau dafür!
Habe ich wieder gerne gelesen.
Einer der Gründe, warum ich immer noch bei kwerfeldein regelmäßig vorbei schaue.
Weiter so
Eric
PS
Mich würde auch ein zeitlich nicht so weiter Rückblick auf Akteure interessieren.
Beispielsweise bin ich erst letztlich auf Sabine Weiss durch einen Artikel vor Eurer Erwähnung in den BrowserFruits gestoßen.
Hallo Eric, ein zeitlich nicht so weiter Rückblick würde uns natürlich auch interessieren, ist aber rechtlich bzw. finanziell schwierig. Die Werke von Fotograf*innen, die seit mindestens 70 Jahren tot sind, sind nach dem Urheberrecht gemeinfrei und können wir damit „einfach so“ zeigen. Für alle jüngeren gilt das nicht, für die Verwendung selbst einzelner Fotos fallen dann schnell Lizenzgebühren in einer Höhe an, die wir uns leider einfach nicht leisten können.
Hallo Aileen,
danke für Deine Ausführungen.
Jetzt halte ich natürlich meinen Mund wie auch meine Tastatur geschlossen und erwarte mit Freuden die nächsten Werke von vor mehr als 70 Jahren.
Glück auf
Eric
Hallo,
danke für diesen tollen Artikel.
Es ist wirklich bemerkenswert, was die Menschen damals auf sich genommen haben, um mit solch einer schweren Ausrüstung die Städte zu dokumentieren.
Auch gelungen umgesetzt finde ich auf Bild 11 und 12 die Idee der Fotografin, die alten Holzhäuser und die dahinter dargestellten „moderneren“ Backsteinhäuser miteinander zu einem Bild zu komponieren, um den Umbruch der Wohnart zu dokumentieren.
Abermals vielen Dank für das Vorstellen von Signe Brander :).
Viele Grüße, Sébastien
Früher war alles besser ;-) Nein, sicher nicht, aber mit derartigen Fotos taucht man doch gerne in die Vergangenheit. Jetzt haben wir 2022. Es wird sicher keine 80 Jahre mehr dauern, bis aus den heutigen Jahren nur noch wenig zu entdecken sein wird. Über die Qualität derMillionen/Milliarden (?) Smartphonefotos kann man sicher streiten. Dass die im Nirvana verschwinden, ist sicher kaum Verlust. Aber was ist mit den restlichen digitalen Fotos. Sind die alle so gesichert, dass davon in 80 Jahren noch genug zu finden sein wird? Gerne habe ich die Fotos von Signe Brander betrachtet. Und was für eine Wohltat: KEIN (Super)Weitwinkel, KEIN (Super)Tele. Vermutlich alles mit dem Normalobjektiv. In der Brennweite passend zum Platten-/Filmformat. Gerne mehr davon!
Ich bin auch begeistert und habe eine neue Fotografin kennen gelernt.
Die Bildqualität ist wirklich klasse – ebenso der Blick fürs Motiv und die Gestaltung.
Herzlichen Dank dafür …
Liebe Grüße
Elke
Blogartikel dazu: Umleitung: Wo kommen die ganzen Millionär*innen her? Heißzeit, Volksseele, Kultur mit Kick, Fliegen ist für’n Ar****, Vorfahrt fürs Fahrrad und mehr … – zoom
Danke für diesen gut geschriebenen informativen Artikel. Die gezeigten Bilder sind wirklich großartig. Schade, dass das Leben dieser besonderen Fotografin ein so tragisches Ende nahm.
….exzellenter Artikel und noch exzellenteren Bildern, die von der Qualität auch von letzter Woche hätten sein können. Danke für die Teilhabe.
F.
Ps: was soll der Blogartikelhinweis in mitten der Kommentare ?
vom Thema gehört der da sicher nicht hin, oder?
Wahnsinn, absolut beeindruckend. Die Fotos sind vor weit mehr als hundert Jahren entstanden und strotzen vor Brillanz, Schärfe und Detailreichtum.
Endlich mal etwas Schönes aus der Zeit der Fotografie. Nicht falsch verstehen, ich sehe schon das Leid und die ärmlichen Verhältnisse der Zeit. Aber wer würde sich noch heute so eine Mühe mit derartigen Motiven, die jede Zeit überdauern, machen wollen? Sie sind noch in einem super Zustand und sollten es auch nach der Digitalisierung bleiben. Eine respektable Leistung der Fotografin. Danke für die Vorstellung, der Artikel war sehr interessant.