23. August 2023 Lesezeit: ~12 Minuten

Warum Claudia Warneke Lipödemkämpferinnen portraitiert

Claudia Warneke hält als Hochzeitsfotografin die glücklichsten Tage vieler Menschen fest. Sie ist mit ihrer Kamera immer nah dran, wenn es um Emotionen geht. Aber sie engagiert sich auch ehrenamtlich und begleitet Frauen, die unter der Krankheit Lipödem leiden. Warum sie das tut, wollte ich in diesem Interview von ihr wissen.

Du bist eigentlich Hochzeitsfotografin. Wie kam es dazu, dass Du Menschen mit Lipödem portraitierst?

2019 schrieb mich eine junge Frau namens Natalie an und fragte, ob ich eine Gruppe von Frauen mit Lipödem fotografieren könnte. Ich hatte davor noch nichts von Lipödem gehört und in der Nachricht wurde auch nur kurz angerissen, worum es sich bei der Krankheit überhaupt handelt. Deshalb schlug ich ihr ein Treffen vor, in dem sie mir ihr Anliegen besser schildern konnte. Sie kam kurz darauf mit ihrer Mutter ins Studio und erzählte mir von ihrer Diagnose sowie der Gruppe von betroffenen Frauen, die ich fotografieren sollte.

Wollten die Frauen in erster Linie Portraits von sich haben oder wollten sie, dass Du diese Krankheit dokumentierst?

Im Grunde wollten sie beides. Sie wollten einfach einmal schöne Portraits von sich machen lassen und gleichzeitig auch den Fokus auf die Krankheit lenken. Außerdem wollten sie dieses Treffen als Erinnerung festhalten. Diese Treffen sind sehr wichtig für sie, weil sie sich dabei mit anderen Betroffenen austauschen können und Mut finden.

Konfetti in Händen

Du hast schon gesagt, dass Du die Krankheit vor dieser Anfrage nicht kanntest. Bei meiner Recherche zu diesem Interview habe ich festgestellt, dass in Deutschland fast jede zehnte Frau unter Lipödem leidet. Warum ist die Krankheit dennoch so unbekannt?

Das ist echt eine gute Frage und das fragen sich die Frauen teilweise auch. Es kommt in den Gesprächen immer wieder heraus, dass die Krankheit kaum oder erst sehr spät diagnostiziert wird. Meist tritt Lipödem in der Pubertät auf, in der junge Menschen ganz natürliche Gewichtsschwankungen haben und wird deshalb dann noch nicht erkannt. Viele Ärzt*innen scheinen häufig auch nicht gut genug für die Krankheit sensibilisiert zu sein. Den Frauen wird dann geraten, sie sollten ihre Ernährung umstellen und mehr Sport machen.

Viele Frauen wissen lange selbst nichts von der Krankheit, verstecken sich und ihren Körper, leiden unter den Schmerzen und kämpfen am Ende gegen sich selbst. Das ist, denke ich, auch eine große Aufgabe, die sich die Frauen gestellt haben. Sie möchten andere Betroffene darauf aufmerksam machen. Die Botschaft ist: Du bist vielleicht krank und weißt es gar nicht.

Bei den Treffen entstehen sehr intime, mutige Fotos. Warum möchten sich die Frauen genau so zeigen?

Zum einen ist es ihr Wunsch, anderen Mut zu machen. Sie zeigen mit den Bildern: Du bist nicht allein! Zum anderen soll durch solche Fotos aber auch die Gesellschaft sensibilisiert werden. Die Frauen hören oft, sie seien dick und einfach nicht diszipliniert genug, abzunehmen. Für Krankheiten, die zu Mehrgewicht führen, gibt es in der Gesellschaft kaum Verständnis.

Die Betroffenen sind aber auch so mutig, weil sie kämpfen müssen. Die Krankenkassen übernehmen in den meisten Fällen nur die Kosten für Kompressionsstrümpfe und Lymphdrainagen. Diese Maßnahmen lindern jedoch nur die Symptome, bekämpfen aber nicht die Krankheit an sich.

Was laut vielen Frauen wirklich hilft, ist eine sogenannte Liposuktion, bei der die krankhaften Fettablagerungen operativ entfernt werden. Diese zahlen die Krankenkassen aber nur im letzten Stadium der Krankheit. So eine OP ist sehr teuer und die Frauen können sie sich privat häufig nicht leisten. Nicht zuletzt, weil sie durch die Krankheit oft auch nur noch eingeschränkt arbeiten können.

Beine mit Lichteffekten

Du hast mittlerweile bereits mehrere dieser Treffen fotografisch begleitet. Hinter den Gruppenbildern steckt dabei auch immer ein anderes Konzept. Entwickelst Du diese Ideen mit den Frauen gemeinsam?

Nein, meistens kommen die Fotoideen von Natalie, die mich damals angefragt hatte. Sie hat ihr Projekt „Kämpferliebe“ genannt und organisiert regelmäßig die Treffen für Betroffene. Sie schickt mir ihre Idee und fragt, ob ich das so umsetzen kann und was ich dafür brauche. Ich bin 2019 auch Mutter geworden und musste Natalie deshalb damals schon sagen, dass ich mich konzeptionell leider nicht beteiligen kann. Ich unterstütze das Projekt aber sehr gern mit meinen Bildern.

Wie sehr hilft Dir Dein Blick als Hochzeitsfotografin für diese Bilder?

Am Anfang habe ich mich wirklich gefragt, ob ich als Hochzeitsfotografin die richtige Person für das Projekt bin. Mittlerweile weiß ich, dass mir mein Wissen über Hochzeitsreportagen sehr hilft. Wir machen für das Projekt einerseits diese sehr gestellten – und ja, auch plakativen – Bilder, zwischendurch aber auch immer sehr dokumentarische Aufnahmen. Ich fotografiere, wenn die Frauen sich umziehen, wenn sie sich gegenseitig begrüßen, wenn sie sich austauschen und in den Gesprächen wachsen.

Sie haben bei diesen Treffen endlich das Gefühl, dass sie sich nicht verstecken müssen. Sie können einfach sein, wie sie sind. Außerhalb der Treffen gehen viele nur heimlich in ein Schwimmbecken oder möglichst bedeckt ins Schwimmbad. Sie sind immer darauf bedacht, dass niemand irgendwas sieht. Bei den Treffen kann ich ganz frei dokumentieren und die Frauen zehren auch nachträglich von diesen Bildern. Sie schreiben mir häufig im Nachhinein noch, dass sie sich beim Betrachten der Bilder wie an einen unbeschwerten Urlaub erinnern.

Ja, das deckt sich auch mit den vielen positiven Kommentaren der Frauen zu Deinen Bildern in den sozialen Medien. Diesen Kommentar fand ich besonders schön, ich habe ihn auf Instagram bei Natalie entdeckt:

[…] kaum war ich dort gemeinsam mit den Teilnehmerinnen, habe ich keine Gedanken mehr verschwendet, wie ich was verstecken kann. Vielen Dank für eine weitere Motivation und einen weiteren Schritt Richtung Selbstakzeptanz.

Oh, ja, das ist wirklich schön.

Ich habe mich gefragt, ob am Ende vielleicht für die Frauen der Prozess des Fotografierens sogar wichtiger ist als die Fotos selbst.

Das kann ich mir gut vorstellen. Ich würde sagen, dass 95 % aller Menschen von sich selbst behaupten, nicht besonders fotogen zu sein, aber dann gibt es auch Menschen, die sich wirklich nicht auf Fotos mögen. Das sind meistens Menschen, die sehr mit sich zu kämpfen haben. Dazu gehören all diese Frauen. Deshalb ist es so schön und besonders, wenn die Frauen auf den Fotos strahlen. So haben sie sich oft schon seit vielen Jahren selbst nicht mehr gesehen. Das macht ganz viel mit ihnen.

Das macht leider auch noch einmal die Verletzungen deutlich, die sie erlitten haben. Oft ja auch schon in der Pubertät, einer so prägenden Zeit für das Selbstbild. Gerade bei so unsicheren Personen: Wie gehst Du beim Fotografieren vor, damit sich jede Frau wirklich wohl und zu nichts gedrängt fühlt?

Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich zu Beginn erst einmal sehr unbedarft an das Ganze herangegangen bin. Natalie hat mir natürlich im Vorfeld alles erklärt und ich habe mir auch ein paar Fakten über die Krankheit angelesen, aber einen durchdachten Plan, wie ich das alles umsetze, hatte ich so nicht.

Ich frage natürlich immer, wie nah ich rangehen darf, das ist ganz klar. Wenn man neue Menschen kennenlernt, hält man immer diesen natürlichen Abstand zu ihnen, über den man auch nicht nachdenken muss. Sobald ich fotografiere, muss ich aber irgendwann auf jeden Fall näher ran, als es dieser intuitive Abstand zulässt. Das erfrage ich immer.

Zu Beginn der Treffen mache ich auch erst einmal ein paar Portraits, dabei kann man gut auf Abstand gehen. Ich zeige dann hin und wieder gemachte Bilder auf dem Display und wenn die Frauen das erste Foto von sich sehen, auf denen sie sich schön finden, darf ich meist auch etwas näher rangehen. Ich taste mich also langsam vor.

Was mir auch sehr hilft, ist das große Gemeinschaftsgefühl vor Ort. Das stärkt sehr das Selbstbewusstsein und die Souveränität der Frauen. Ich denke und hoffe sehr, dass sich immer alle trauen, auch Nein zu sagen, wenn ihnen etwas zu nah ist.

Wenn ich mal nicht sicher bin, frage ich einfach nach. Zum Beispiel hatten einige der Frauen ganz viele kleine Narben an den Beinen. Als ich diese das erste Mal gesehen habe, habe ich einfach nachgefragt, was das überhaupt ist und ob ich davon Nahaufnahmen machen darf.

Was waren das für Narben?

Die Narben entstehen durch die Liposuktionen, die operative Fettabsaugung. Die erste Frau, bei der mir die Narben aufgefallen waren, erzählte mir auf meine Nachfrage von der OP. Dann fragte ich zurück, wie teuer das ist, wie schmerzhaft – so entsteht auch ein emotional sehr nahes Gespräch.

Ich habe zum Beispiel auch Fragen gestellt, als ich das erste Mal gesehen habe, wie die Kompressionsstrümpfe und Leggins angezogen werden. Die Frauen haben davon teilweise Blasen an den Händen! Erst durch solche Gespräche kann ich erfahren, was die Krankheit im Alltag eigentlich überhaupt bedeutet.

Um etwas zu fotografieren, musst Du es auch verstehen.

Ja, genau.

Hast Du noch Tipps für andere Fotograf*innen, wie man Barrieren abbaut? Gerade wenn es um sensible Themen geht, zu denen man bisher keinen persönlichen Bezug hatte?

Ich denke, man macht sich oft zu viele Gedanken: Oh, wie viele Fettnäpfchen sind da? Wie trete ich möglichst nicht hinein? Dann wird man sehr, sehr vorsichtig. Beim Gegenüber kommt das vielleicht falsch an und aus dieser Unsicherheit wird eher Mitleid gelesen. Also am besten immer einfach nachzufragen. Ein aufrichtiges Interesse an den Menschen ist wichtig.

Du bist eigentlich Berufsfotografin. Warum fotografierst Du dieses Projekt ehrenamtlich?

Es ist so schön, dass ich vom Fotografieren leben kann. Wenn ich durch meine Bilder etwas in die Öffentlichkeit tragen kann, was gehört werden muss, finde ich es großartig, dadurch auch ein bisschen was zurückgeben zu können. Zumal ich wie gesagt einen eher geringen Aufwand mit dem Projekt habe. Die Organisation übernehmen die Frauen, ich bin dann mit meiner Kamera da und durch meine jahrelange Erfahrung bin ich mit der anschließenden Bildbearbeitung auch sehr schnell.

An der Stelle vielleicht auch ein kleiner Appell an alle, die Fotos machen können und Spaß daran haben: Es gibt überall kleine Vereine oder auch ehrenamtlich arbeitende Menschen, die immer Fotos brauchen. Fotos schaffen Aufmerksamkeit. Gerade hier im ländlichen Raum habe ich festgestellt, wie viele Leute ehrenamtlich wirklich tolle Sachen machen, aber einfach nirgendwo damit präsent sind. Fotos können viel bewirken.

Was können Deine Fotos für die Frauen mit Lipödem bewirken? Sie erleben momentan sehr viel Diskriminierung und auch keine große Hilfe durch die Krankenkassen. Können Bilder daran etwas ändern?

Ich denke schon. Ich weiß zum Beispiel von Natalie, dass sie vereinzelt auch unschöne Kommentare unter den Fotos findet. Viele Leute sehen die Bilder, lesen nicht und kommentieren dann einfach schnell unüberlegtes Zeug darunter. Natalie klärt die Leute dann über die Krankheit und das Projekt auf.

Dabei sind auch schon sehr tiefgründige Gespräche entstanden, nach denen sich Menschen am Ende entschuldigten. Allein das bringt doch schon ganz viel. Diese Menschen werden das nächste Mal anders handeln und nicht mehr so überstürzt vorverurteilen.

Das hoffe ich sehr! Vielen Dank für das spannende Gespräch und Deine Arbeit!

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