07. Juli 2023 Lesezeit: ~8 Minuten

Graubaum und Himmelmeer

„Graubaum und Himmelmeer“, die neue Serie von Loredana Nemes, entstand in den letzten Jahren auf der Insel Rügen. An einem ganz besonderer Ort am Meer. „Vielleicht hat er mich entdeckt oder eher gerufen“, so die in Berlin lebende Künstlerin.

Ihr fotografisches Werk entsteht vorrangig in schwarzweiß und hat auf den ersten Blick einen sehr klassischen Zug. Ihre Portraits umkreisen Themen wie Identität und Persönlichkeit. Zwischen Schärfe und Unschärfe, zwischen präziser Abbildung und Abstraktion mäandert ihre Kunst – wissend, dass gerade zwischen diesen offenen Grenzen das künstlerische Glück zu machen ist.

Drei Bäume am Strand

Grenzen sind ohnehin ein Thema für Nemes. Sie wanderte auch topografisch, hat Erfahrung mit mehreren Kulturkreisen. Geboren wurde sie in Sibiu in Rumänien und hat in ihrer Kindheit auch im Iran gelebt. Für eine ihrer neuesten Serien ist Nemes wieder gewandert. „Graubaum und Himmelmeer“ entstand über einen Zeitraum von vier Jahren, zu allen Jahreszeiten, auf der Insel Rügen. Hier fand Nemes eine Natur, die sie an ihre Heimat erinnert, wie sie schreibt. Ihre Zeilen erzählen von dem poetischen Zug, der auch ihre hochformatigen Bilder umweht:

Das Atmen fällt leichter in Sassnitz. Ein schnelleres Licht dort und die Blätter im Mai wie Schmetterlinge auf den feinen Zweigen. Der Boden um die Buchen ist näher und Fliehen nicht nötig. Die Muskeln entspannen. Graue Bäume, die mich kennen, denn vom Karpatenrücken komme ich, aus zurückgelassenem Buchenland. In Sassnitz noch ein Meer am Waldesrand. Es kann nicht nach mir schnappen. Es wirft das Licht zurück und kennt alle Grau. Dann stehen wir an diesem Rand mit Armen und Zweigen und Wurzeln, die einander fassen und nähren und nichts tut mehr weh.

Die Bilder der Serie „Graubaum und Himmelmeer“, fotografiert im Mittelformat und abgezogen als Silbergelatinedrucke, waren im vergangenen Jahr bereits in einer Einzelausstellung im Stadthaus Ulm und auch im Showroom der Kölner Fotoexpertin Simone Klein zu sehen: Bilder von Buchen und dem Meer, Bilder eines Rückzugsortes, aber auch Bilder der Weite. Wir sprachen mit der Künstlerin über ihr Projekt, zu dem in den nächsten Monaten auch ein Buch im Stuttgarter Verlag Hartmann Books erscheinen wird.

Liebe Frau Nemes, wie haben Sie diesen Ort für sich entdeckt?

Vielleicht hat er mich entdeckt oder eher gerufen. Nach einer sehr großen und erschöpfenden Ausstellung war er mir Rückzugs- und Erholungsort, aber auch ein Novum, denn ich kannte Sassnitz und den Jasmund nicht. Vierzehn Besuche über knapp vier Jahre haben mich diesen Buchenwald und sein angrenzendes Meer sowie die steten Veränderungen beider kennenlernen lassen.

War Ihnen gleich klar, dass Sie hier eine neue Serie fotografieren möchten?

Nein, es war die Notwendigkeit, dem Vielen den Rücken zuzuwenden, um wieder bei mir und in der Ruhe anzukommen. Jedoch haben die ersten Aufnahmen sofort einen solchen Zauber in sich getragen, dass schnell klar war: Hier wird es weitergehen! Hier kann ich Arbeit mit Wohltat verbinden.

Ein Reiz der Serie liegt in der jahreszeitlichen Veränderung der gleichen Motive. Beschreiben diese Bilder eher die Veränderung – oder die Ruhe, die Konstanz, ja sogar: die Ewigkeit?

Wissen Sie: Die Veränderung ist schön und schöner noch für mich die Konstanz. Der immer gleiche Weg, die immer gleichen Buchen und doch war jedes Mal alles anders. Die Kargheit des Winters war der Beginn, dann die Explosion des Frühlings, dieses Grün von einer Zartheit wie Schmetterlingsflügel. Das Gleißen des Sommers und dann die Farben des Herbstes, das Geschenk vor der nächsten Kargheit, die aber keine war, denn es kam Schnee.

Der letzte bleibende Schnee auf Rügen war elf Jahre her und mir wurde er einfach so geschenkt – mit allen Höhepunkten: fast horizontal peitschende Flocken und die Stille danach, glasklarer Horizont und harte Schatten auf dem unberührten sonnengeweißten Schnee, denn auch Corona hat in den Jahren 2019 bis 2023 mitgewirkt und die Urlauber*innen von der Insel ferngehalten. So gehörte der Wald oft nur meinem Mann, mir und dem Fuchs, der uns bereits so gut kannte, dass er uns gelassen und saucool entgegen promenierte, anhielt, grüßte und gelassen links abbog, um im Unterholz zu verschwinden.

Bäume

Die Werkgruppe ist ein Lob der Farbe Grau, der vielen feinen Grautöne. Was schätzen Sie an den Grautönen?

Diese Grau kannte ich noch nicht. Dass Buchenblätter oder Meereshaut so viele Grautöne haben können, habe ich auch erst in dieser Zeit gelernt. Buchen sind majestätische Bäume, hoch, oft karg im unteren Bereich und irgendwie distanziert. Ihre vielen Töne ins Grau der Silbergelatine zu übersetzen war eine Wucht. Das Grün des Monats Mai deckte sich mit dem Gelb des Oktobers, das Werden und Vergehen wie eine Klammer um das pralle Leben dazwischen. Ja, ich lobe meine Farbe Grau und danke ihr für die Reduktion aufs Wesentliche.

Welches Verhältnis haben die Bäume zum angrenzenden Meer?

Das habe ich sie auch oft gefragt! Sie schauen es gern an, sie trotzen ihm, sie verfluchen es, sie verneigen sich schließlich vor seiner Weite und fallen hinein. Dann stehen neue Bäume in der ersten Reihe und werden geblendet.

Ihre fotografischen Serien wie „Nadelstreifen“, „Über Liebe“, „Gier“, „Ocna. Eine Annäherung“, „beyond“, „23197“, „Blütezeit“, „Auftritt“ oder „beautiful“ tragen in ihrer Bildsprache durchaus sehr verschiedene Züge. Was verbindet sie?

Ich verbinde sie. Sie alle haben mit mir zu tun und mit Menschen, denn diese finde ich von Grund aus gut. Sie interessieren mich, ihr Leid, ihre Freud’, ihr Lieben und Staunen, ihr Fürchten und Raunen, ihr Groß- und wieder Kleinwerden und schließlich ihr Vergehen. Aber ein weiterer Aspekt interessiert mich ebenfalls und wohnt allen Projekten inne: dieses Medium der Fotografie und seine Möglichkeiten, Welt in Bild zu übersetzen.

Sind sie nicht alle Versuche einer Annäherung? Versuche, Fremdheit zu überwinden? Nähe herzustellen?

Auf eine Art JA, aber ich weiß auch um die Relevanz der Distanz, um einen klaren Blick zu bewahren und ein allgemeingültiges Bild zu schaffen. Gewiss rücke ich stets erst ran, schaffe Nähe, fühle und rücke dann wieder weg, um auslösen zu können. Mich im anderen zu erkennen, rührt mich an, unsere Zerbrechlichkeit vereint zu wissen. So wie die Öffnung eines gänzlich Fremden für einen kleinen Augenblick – welch Geschenk.

Sie sagten einmal: „So wie die Begegnung enthält auch die Fotografie das Magische, das Unbeschreibbare, das Einzigartige.“ Ist das der Kern Ihrer Fotografie?

Hab’ ich das gesagt? Schön. Worte kommen nicht auf Kommando, auch nicht Bilder. Es bedarf der Zeit und Geduld und auch der harten Arbeit – dran bleiben gegen alle Hindernisse. Aber auf jeden Fall bedarf es der tiefen Verankerung in mir, einer klaren Frage, die mich antreibt und Antwort sucht. Und des Mutes, denn auf Menschen zuzugehen kostet Kraft und all ihre Geschichten müssen wieder verdaut werden, aber sie sind einzigartig, ja, und dann und wann auch magisch.

 

Information zur Ausstellung

Von dem Wald und der Gier
Eröffnung: Samstag, 8. Juli 2023, 11–13 Uhr
Zeit: 8. Juli – 15. Oktober 2023
Ort: Caspar-David-Friedrich-Zentrum, Lange Straße 57, 17489 Greifswald

 

Information zum Buch

„Graubaum und Himmelmeer“ von Loredana Nemes
Einband: Hardcover-Dreiviertelband mit Siebdruck und Prägung
Seiten: 136, 51 Abbildungen, Triplex
Maße: 24 × 31,4 cm
Verlag: Hartmann Books
Preis: 45 €

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