07. November 2022 Lesezeit: ~10 Minuten

Malen mit der Lochkamera

Lochkameras haben den Ruf, unscharfe Bilder zu produzieren. Doch was passiert, wenn genau diese formale Bedingung gewünscht ist und gesteigert wird? Bewegungen werden als Spuren sichtbar und vieles, was sich zu schnell bewegt, hinterlässt im Foto nur eine Leere. Bewegungsspuren und Leere erzeugen dabei eine Bildsprache, die traumartig gemalte Landschaften entstehen lässt.

Wenn man mit Unschärfen arbeiten möchte, dann ist die Lochkamera ein hervorragendes Gerät. Denn sie bietet den Vorteil von sehr langen Belichtungszeiten bei Tageslicht, wenn das Belichtungsloch nur klein genug gemacht wird. Ich stellte mir damals vor, dass eine lange Belichtungszeit doch genau zu den Effekten auf einem Foto führen müsste, die ich bisher nur in der Malerei und Grafik hatte umsetzen können.

Bäume

Moorbirken bei Oldenburg / 1. Selbstbau

Dort konnte ich einen Bildraum anlegen, der in sich stabil oder homogen war, also ein Zimmer oder eine Stadtszene als gemeinsamer Rahmen für Aktionen einzelner Teile oder Objekte des Bildes, die nicht zueinander passten. Diese widerständige Lebendigkeit als ein Teil des Lebens dieser Welt war für mich immer der Ausgangspunkt, dies auch als Bild selbst erzeugen zu wollen.

Die Lochkamera kam als Medium sehr spät dazu. Es dauerte seine Zeit, bis ich verstand, dass mit ihrer grundsätzlich unscharfen, aber doch immer noch recht kühlen und sachlichen Ablichtung des anvisierten Bildraumes genau der Rahmen gesetzt wird, in dem sich dann Bewegungen unterschiedlich vollziehen können. Also wurde dies zu meinem offenen Projekt, die Lochkamera so zu bauen und auszurichten, dass sie unterschiedliche Bewegungen in ihrem Bildraum erfassen kann.

Kühe hinter Bäumen

Kühe, Hunte-Wiesen bei Oldenburg / 1. Selbstbau

Jetzt kann man sagen: Ja, aber genau das macht eine Lochkamera doch automatisch. Genau. Deshalb sind natürlich auch die Bedingungen zu bedenken, die in den möglichen Bildmotiven liegen, also die unbewegten und bewegten Dinge, Bäume, Menschen, Tiere und so weiter – und dann wird es kompliziert, da diese in der Regel bei sehr langer Belichtungszeit kaum bis gar nicht zu kontrollieren sind. Das macht das Fotografieren zu einer spannungsgeladenen Sache, denn in zwanzig langen Belichtungssekunden kann sich praktisch alles ändern.

Mögliche Fotomotive sind deshalb für mich lange im Vorfeld des Fotografierens zu erkunden. Wie verhalten sich die Bewegungen im später zu fotografierenden Bildraum? Wie werden sie sich im Bildraum entwickeln und gestattet der Bildraum das Spiel unterschiedlicher Bewegungsschärfen? Alle diese Planungen führen jedoch nicht zwingend zu einem guten Bild.

Sonnenblumen unscharf

Sonnenblumenfeld bei Oldenburg / 2. Selbstbau

Das Foto der Sonnenblumen ist so ein Bildmotiv, das wenig spannend wirkt. Ein Acker eben. Dennoch lässt das Zusammenspiel von Wind und langer Belichtungszeit in ihm eine unterschiedliche Bewegungsunschärfe entstehen. Denn manche der Sonnenblumen-Stängel wollen sich aus der starken Bewegungsunschärfe der Blütenkörbe und Blätter schärfer herausschälen. Sie grenzen sich gegen die starke Bewegung der Blüten und Blätter ab und gleichen in ihrer Ruhe und Klarheit eher der ruhig daliegenden Matschfläche rechts.

Die Blütenkörbe nehmen dagegen die Bewegungsunschärfe der Wolken auf. Man meint sich laufend die Augen reiben zu müssen, weil die unterschiedlichen Konturverläufe nicht zusammenpassen wollen. Ich mag das Foto sehr, weil gerade dieses unspektakuläre Motiv dann doch sehr viel Bewegungsspannung in sich trägt.

Aber mir wurde damals anhand der ganzen Baumschulen-, Moorwiesen- und Acker-Fotos noch nicht wirklich klar, was noch in ihnen stattfindet, oder vielmehr, was die äußeren Bedingungen und die formalen Kriterien der Lochkamera auf einem Foto zusammenbringen. Dazu brauchte es die Stadtbilder und ihre vollkommen unkontrollierbaren bewegten Körper und Dinge.

Die Aufzeichnung von Dauer und die Zeit

Das mit Gegenlicht fotografierte, in seinen Farb-, Helligkeits- und Kontrastwerten eher schwierig wirkende Foto „Rathaus Münster“ wäre digital sicher noch zu optimieren. Aber Negativ ist Negativ und ich mag die zurückgenommenen Farben darin, die an den Bildseiten zunehmend in eine Dunkelheit übergehen. Die dunklen Seiten rahmen das ganze Bild und verleihen ihm eine Stabilität. Ebenso die ruhig dastehenden Menschen, links ein paar und rechts ein paar.

Straßenszene

Rathaus Münster / 2. Selbstbau

Sie bilden Ankerpunkte für das Auge, denn zur Bildmitte hin treten viele unruhige Spuren auf. Ein Bus zieht quer durch die rechte Bildhälfte und hinterlässt nur durchlässige Streifen. In der Bildmitte links unten wird ein kaum wahrnehmbares milchiges Feld von vorbeiziehenden Menschen erzeugt. Ein starker Bewegungskontrast entsteht zwischen Ruhe und Aktivität.

Mit dem Tageslicht fotografiert, erscheinen die unterschiedlichen Bewegungen und Bewegungsgeschwindigkeiten von Menschen nicht zwingend deutlicher. Auch hier neigen sie dazu, im Bild zu verblassen. Doch solche Fotos wie der Markt auf dem Domplatz machen auch sehr große Freude. Sie zeigen eine Schokoladenseite der Lochkamera, jedoch nicht ihr ganzes Potential. Das Foto des Doms schwingt zwischen der sachlichen Kühle klarer Grenzkonturen, wie etwa das Dach des Standes rechts und den malerisch erscheinenden Farbflächen der ganzen oberen Bildhälfte, Bäume, Dom und Himmel, wo die Farben ineinandergreifen wollen und Konturen weich werden. Und die untere Bildhälfte ist bestimmt von den Effekten der Bewegungspole Ruhe und Aktivität.

Marktplatz unscharf

Markt, Domplatz in Münster / 2. Selbstbau

Vielfache Bewegungen zeichnen sich unterschiedlich ab. Eine durchscheinende Spur zeigt die Menschen, die in den Markt hineingehen oder aus ihm heraus. Die Dauer ihrer anhaltenden Bewegungen verdichtet sich in der gegebenen Belichtungszeit zu einem nebelartigen Gebilde. Wie bei dem Bus im vorhergehenden Foto „Rathaus Münster“. Seine Spur ist Ausdruck einer andauernden Bewegung, deren zeitliche Anfangs- und Endpunkte auf dem Foto nicht einsehbar sind.

Er fuhr schon lange vor dem Foto los und fuhr auch noch nach dem Foto und das Foto zeigt nur einen zeitlich begrenzten Ausschnitt seiner andauernden Bewegung, eben den Ausschnitt der Belichtungszeit. Genauso verhält es sich mit den Bewegungsspuren der Menschen auf dem Markt.

All diese Spuren von unterschiedlichen Bewegungsgeschwindigkeiten in den Fotos lassen zwei Zeitdimensionen aufscheinen: die der anhaltenden Dauer von Bewegungen und die der in Sekunden zu bemessenden Ausschnitte der Bewegungen durch die Belichtungszeit. Für gewöhnlich fallen diese beiden Zeitphänomene in einem Foto mit kurzer Belichtungszeit zusammen. Doch die Lochkamera friemelt sie auseinander und zeichnet sie sichtbar auf. Die Dauer der anhaltenden Bewegungen zieht sich ohne zeitlichen Anfangs- und Endpunkt durch das Foto hindurch und über es hinaus.

In unserer Vorstellung können wir ihr weiter folgen und den oft so abschließenden Rand des Bildes mit ihr überschreiten. Oder andersherum, uns mit ihr in das Bildgeschehen hineinführen lassen.

Lochkamera

Der zweite Selbstbau

Die Lochkamera als magische Kiste

Meine Lochkamera besteht hauptsächlich aus Holz-, ein paar Metall- und wenigen Plastikteilen. Bis auf den runden Lochverschluss handelt es sich Produkte, die alle in einem üblichen Baumarkt zu finden sind. Alles an ihr ist einfach, ich verstehe ihre Mechanik und das Verhältnis von Lochgröße, Lochqualität und Brennweite und nach fünf Bildern ist Schluss. Auch der lichtchemische Prozess auf dem Film und die sich entwickelnde Opazität der Farben sind für mich nachvollziehbar, sowie die Prozesse der Filmentwicklung und der Belichtung von Fotopapier.

Das habe ich alles während eines Kunststudiums gelernt. Meine Lochkamera ist deshalb ein Stück Technik, die ich in ihren wesentlichen Bedingungen erfassen kann. Das gestattet mir, mit ihren formalen Aspekten, wie etwa ihrer Tiefenschärfe und Belichtungszeit kontrolliert zu arbeiten. So dachte ich – und denke auch heute noch so.

Meine Lochkamera hebt sich über diese Idee der Beherrschung durch Technik allerdings mühelos hinweg. Ich liebe sie dafür. Dass manche Fotos große Überraschungen werden, liegt also nicht nur an den hinzukommenden und nicht kontrollierbaren äußeren Bedingungen, sondern auch an oder in ihr. Als die Black Box, die sie wortwörtlich ist, vollzieht sie Prozesse, die mir rätselhaft bleiben.

Wenn ich etwa plane, am Samstag um 12 Uhr am Markt auf dem Domplatz in Münster eine Menschenmasse vorzufinden, die fotographisch gut einsetzbar ist, dann ist es am Ende doch ein Zufall, wenn Planung, Foto und Menschenmasse zusammen ein gutes Bild erzeugen. Die meisten Bilder sind zufälligerweise nicht glücklich getroffen, was oft genug und auch klar einsehbar an den äußeren Bedingungen liegt.

Einige wenige sind zufällig gut getroffen und es ist immer eine große Freude, meine Beteiligung in Form von Absicht und Planung daran zu erkennen. Und ein großes Staunen setzt bei mir ein, wenn so ein Foto entsteht wie das vom Prinzipalmarkt.

Straße

Prinzipalmarkt Münster, samstags um 12 Uhr, mit sehr vielen Menschen auf ihm unterwegs, 2. Selbstbau.

Straßenszene

Prinzipalmarkt Münster, anderer Samstag um 12 Uhr, Handy-Kamera.

Eigentlich war der Prinzipalmarkt sehr voll mit schön langsam flanierenden Menschen. Dicht gedrängt zogen sie ruhig an der Kamera vorbei. Und was kommt raus – 3 bis 4 höchst durchlässige Körpersphären, die irgendwie auf der Stelle tanzen. Der sie umgebende Prinzipalmarkt wirkt dagegen merkwürdig leer. Eine Leere, die den Eindruck hinterlässt, dass doch irgendetwas da sein sollte. Eine milchige Spur, irgendetwas, was auf eine langsam vorbeiziehende Menschenmasse hinweist. Stattdessen ist der Prinzipalmarkt nicht eingetrübt, sondern blitzblank und leer. Eine große Überraschung.

Gesteigert erscheint mir diese Leere noch im Foto „Rathaus Münster“. Die darauf in der unteren Mitte stehende Menschengruppe verliert sich in der sonst so merkwürdig leer wirkenden Stadtszene. Zudem sind die Farben des Bildes sehr reduziert, die ganze Szene wirkt dunkel-glimmend und irgendeine gebogene Lichtspur zieht sich vor der Menschengruppe um die Ecke. Eine Szene, eher wie gemalt oder wie geträumt. Kontrolliert erscheint mir in diesen Fotos gar nichts mehr, denn Absicht und Planung wollten etwas ganz anderes.

Straße

Rathaus Münster, 2. Selbstbau.

Straßenszene

Rathaus Münster, Handy-Kamera; anderer Samstag, gleiche Uhrzeit.

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