Amorfo
Wie stellt man eine Bewegung, ein schwereloses oder formloses Objekt dar? Dies ist wahrscheinlich die komplizierteste Aufgabe, die die Fotografie seit ihrer frühen Entwicklungsgeschichte zu bewältigen versucht. Es ist klar, dass das Medium Fotografie den Moment nicht erfasst, in dem die Dauer der Bewegung zu einem verewigten, durch den Fluss der Zeit erweiterten Objekt wird.
Auch wenn die Fotografie nur einen Bruchteil einer Sekunde, also einen Bruchteil der Bewegung, verewigt, hindert uns dieser Unterschied zwischen einem fotografischen und einem kinematografischen Bild nicht daran, uns eine andauernde und vielleicht nie endende Bewegung und das Phänomen der Bewegung im Allgemeinen vorzustellen und darüber nachzudenken.
Diese Gedanken über ein Objekt, das schwerelos, formlos und im Moment der Bewegung eingefroren ist, wurden von einem internationalen Künstlerduo – dem Litauer Žilvinas Kropas und dem Argentinier Guillermo Alvarez – in mir angeregt. Seit einiger Zeit entwickeln sie den fotografischen Zyklus „Amorfo“.
Bevor wir uns der Analyse ihrer Werke zuwenden, ist es wichtig, die wesentlichen Fakten der Biografien der beiden Künstler festzuhalten. Guillermo Alvarez ist ein professioneller Künstler und Lehrer, der in Buenos Aires, Argentinien, lebt und arbeitet. Er kuratiert Kunstveranstaltungen, organisiert Seminare und kreative Projekte.
Derzeit ist er der Gründer und Hauptdozent des Kulturprojekts „Camara Viajera“ für visuelle Kunst. Der Künstler hat ein Studium der audiovisuellen Medien absolviert. Normalerweise wendet Guillermo Alvarez alte, alternative fotografische Techniken wie etwa Lochkamera, Nasskollodium oder Cyanotypie an.
Seit 2014 nimmt er an Gruppenausstellungen in Argentinien, Mexiko und Ecuador teil. Von 2010 bis 2017 arbeitete Alvarez als Lehrer für Fotografie und alternative fotografische Methoden. Im Jahr 2015 erhielt der Künstler den nationalen Preis für seine Arbeit in öffentlichen Schulen.[1]
Žilvinas Kropas lebt und arbeitet in Panevėžys, er ist Pädagoge und Schöpfer alternativer Fotografie. Seit 2012 ist der Künstler Mitglied der Panevėžys Photography Society, seit 2017 Mitglied der Gabriele’s Art Gallery in Kaunas. 2019 wurde ihm vom litauischen Kulturministerium der Status eines Kunstschaffenden verliehen und 2020 wurde Žilvinas Kropas Mitglied des Litauischen Fotografieverbandes.
Der Künstler organisiert persönliche Ausstellungen und nimmt aktiv an Kollektivausstellungen teil; seine Fotografien wurden in Litauen, Polen, dem Vereinigten Königreich, Südkorea, Vietnam, Argentinien, Chile, Mexiko, Weißrussland usw. ausgestellt. Über das Schaffen von Žilvinas Kropas wird in der Kulturpresse Litauens, der USA, Frankreichs, Spaniens, Mexikos usw. ausführlich berichtet.
In der Mehrzahl der Fotografien des Zyklus „Amorfo“ sehen wir Portraits mit verschwommenen Konturen, undeutlichen Details – Gesichter, die in einer zufälligen Bewegung aufgenommen wurden. Die sich bewegenden Subjekte oder Personen könnten als unerkannte Objekte bezeichnet werden. Diese Beobachtung bezieht sich auf die vom Philosophen Roland Barthes (1915–1980)[2] aufgestellten Begriffe der Fotografieanalyse.
Sichtbare Formen können als corpus bezeichnet werden, was für den äußeren Körper der Vergangenheit steht, der durch ein Bild in unsere Gegenwart zurückgebracht wird. Interessanterweise können die von diesem Künstlerduo geschaffenen Bilder als schiefe Spiegel betrachtet werden, die den Körpern der Vergangenheit helfen, sich zu verformen und ungewöhnliche Formen anzunehmen, die an Flüssigkeit oder Nebel erinnern.
Die Nebelmetapher ist wirklich relevant, denn im wirklichen Leben gewinnen von Nebel bedeckte Objekte einen zerbrechlichen, vorübergehenden und sich auflösenden Anblick. Der Nebel zeigt uns die Zerbrechlichkeit, die Instabilität, die Bewegung der Realität, ihre Abhängigkeit von den Veränderungen von Raum und Zeit. Das internationale Künstlerduo verhält sich mit den Gesichtern, die sie portraitieren, auf die gleiche Weise.
Wenn wir Barthes’ Idee zustimmen, dass der corpus den äußeren Körper der Vergangenheit durch ein Bild wiederherstellt, sollten wir die sichtbare Verformung des Bildes auch mit einem anderen Begriff in Verbindung bringen, den der Denker vorgeschlagen hat: sténopé. Er bezeichnet das Loch der Linse und kann als indirekte Verbindung zum Phänomen der camera obscura gesehen werden, die den Beginn der Technologie markiert.
Das künstlerische Duo sagt uns also, dass das Medium der Fotografie zwar immer versucht hat, die Realität so genau wie möglich abzubilden, dass es aber nie absolute Objektivität erreichen konnte. Das Moment der Ersetzung der Realität ist immer vorhanden. Im audiovisuellen Diskurs existiert alles in Bezug auf die Migration visueller Informationen aus dem Raum in die Ebene, wo der realitätsverkratzende, natürliche, in sich geschlossene und nicht immer programmatisch vorweggenommene Moment eines Fehlers auftritt.
Kropas und Alvarez entlarven den Fehler, sie vergrößern ihn und führen ihn uns nicht als Phänomen einer technischen Lösung, sondern als ästhetischen Ansatz vor. „Amorfo“ betont den fotografischen Konflikt zwischen einem Objekt und einem Subjekt im Moment der Verwandlung von Leben in Nicht-Leben und umgekehrt.
R. Barthes hat auch festgestellt, dass fotografische Bilder die Kategorie des spectrum erweitern, das heißt das Bild zeigt etwas, das einem spectre ähnelt und wie in einem spectacle funktioniert. Das festgehaltene Objekt führt uns die Realität vor. In den Fotografien sehen wir also ein „Anderes“, das auf die Trennung zwischen Bewusstsein und Identität hinweist. R. Barthes sprach auch von den zwei Schichten, die im fotografischen Bild zu finden sind – studium und punctum. Der Philosoph sagt:
Studium (lat.) – […] was nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, „Studium“ bedeutet, sondern die Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit. Aus studium interessiere ich mich für viele Photographien, […] denn als Angehöriger einer Kultur (diese Konnotation ist im Wort studium enthalten), habe ich teil an den Figuren, an den Mienen, an den Gesten, an den äußeren Formen, an den Handlungen.
Punctum (lat.) – […] Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. […] als es auch die Idee der Punktierung reflektiert und die Photographien, von denen ich hier spreche, in der Tat wie punktiert, manchmal geradezu übersät sind von diesen empfindlichen Stellen;
[…] Dies zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).[3]
Studium in Fotografien ist nach Barthes alles, was objektiv diskutiert werden kann (Komposition, Licht, Form, Kontrast, Farbpalette usw.), während punctum das ist, was in der fotografischen Erzählung zu „knacken“ scheint, das heißt die restgehaltenen Momente, die wahrgenommenen Elemente, die bedeutungsvolle und suggestive Assoziationen hervorrufen, die interkulturell erkennbar und leicht zu identifizieren sein können.
Sie können auch aggressiv sein und persönliche Einsichten und Beobachtungen hervorrufen, die weit von den formal im Bild festgehaltenen Formen entfernt sind. Ich muss feststellen, dass der fotografische Dialog von Kropas und Alvarez mich in die Labyrinthe des punctum geführt hat.
Sprechen wir nun über das Phänomen des Portraits, das Kropas und Alvarez in ihren Werken dekonstruieren. Die Portraits, die sie schaffen, laden nicht zu der Frage ein, was auf dem Foto abgebildet ist, welche Identifikationselemente, die es erlauben, eine Persönlichkeit zu benennen, dominieren, sondern sie laden dazu ein, zu aktualisieren, was mit uns, den Betrachter*innen, geschieht.
Dabei ist es wichtig, wie wir die ängstlichen, formlosen Gesichter im Bild annehmen, die halb tote, halb lebende Gespenster darzustellen scheinen. Dieses transparente, verstreute Portrait ist viel intimer als dasjenige, in dem eine Person leicht identifiziert werden kann. Das liegt daran, dass Kropas und Alvarez Bilder schaffen, die von einem Geheimnis umhüllt sind. Hier bleiben die Fremden vom Beginn des Schauens bis zu seinem Ende bizarre Anonyme, namenlose „Andere“.
Wenn wir über das Phänomen der Bewegung in der Fotografie nachdenken, führt uns die Arbeit von Kropas und Alvarez zu Henri Bergson (1859–1941)[4]. Der Denker betrachtete Kreativität als den höchsten Wert, der den Menschen von seinem alltäglichen Leben ablenkt und ihn in die geistige Ebene der Realitätswahrnehmung versetzt.
Auf diese Weise verschwinden das persönliche „Ich“ und seine Beziehung zur gegenwärtigen Welt. Durch die Schöpfung entfalten sich die Dramen der inneren Welt, wie die notwendige Ergänzung, die das Verständnis der Realität und die persönliche Verbesserung ermöglicht, bezogen auf Zeit und Dauer.
Hier ist die Dauer das beherrschende Element, das in zwei Unterelemente unterteilt ist: die wirkliche Dauer (Schöpfung) und die reine Dauer (das schöpferische Prinzip, das für den Bereich der kinematografischen Bewegung charakteristisch ist).[5]
In diesem Fall kann man behaupten, dass Kropas und Alvarez die reine Dauer bevorzugen, die auf uns wirkt, auch wenn sie in einer einzigen fotografischen Aufnahme zum Ausdruck kommt. Die reine Dauer ist durch Teilung, Verteilung und Kombination gekennzeichnet.[6]
Betrachten wir also die in einem Raum ausgestellten Werke der beiden Künstler, so werden wir durchaus den Eindruck der reinen Dauer erleben, da die Bildfolge in der Ausstellung verändert und neu zusammengesetzt werden kann; nebeneinander liegende Aufnahmen schaffen einen Kontrast und gleichzeitig eine gemeinsame lineare Erzählung.
Die wirkliche Dauer sollte als Intuition der Schöpfers wahrgenommen werden, und in der reinen Dauer demonstrieren Kropas und Alvarez ihren Intellekt, ihre Fähigkeit, die Momente in der Zeit zu erfassen, sie zu trennen, zu teilen und in einem Bild zu verewigen.
Daher kann das Gesamtwerk der beiden Künstler als ein kinematografisches Band oder ein Kaleidoskop von Bildern betrachtet werden, in dem spectren auftauchen, die nicht leicht zu identifizieren sind, die an der Oberfläche unserer Realität kratzen und uns zwingen, über ihre Echtheit oder vielleicht Fälschung nachzudenken.
Quellen und Anmerkungen
1. ↑Alvarez, G., Kropas, Ž., Venckus, R. (2021-01-20). Korrespondenz per E-Mail.
2. ↑ Barthes, R. (1982). Die helle Kammer: Überlegungen zur Fotografie. New York: Hill and Wang. Übersetzt von Richard Howard.
3. ↑ ebd., S. 26–27. (Hier entnommen der deutschen Übersetzung von Dietrich Leube, Suhrkamp Taschenbuch, 14. Auflage 2012.)
4. ↑ Siehe Bergson, H. (2004). Kreative Entwicklung. Vilnius: Margi raštai. Übersetzt aus dem Französischen von Petras Račius.
5. ↑ Andrijauskas, A. (2008). Der Rausch der Vitalität: Interpretationen der Bergsonschen Philosophie. Vilnius: Lietuvos kultūros tyrimų institutas, S. 41.
6. ↑ ebd., S. 182.
Dieser Artikel wurde für Euch von Redakteurin Aileen Wessely aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.