Solargrafie
08. April 2022 Lesezeit: ~13 Minuten

Das Phänomen der Sonnenschrift

Die Welt der leicht reproduzierbaren Bilder ist zum Begleiter unseres täglichen Lebens geworden. Wir widmen jeden freien Moment unseres Lebens der Produktion und dem Betrachten von Videoaufnahmen und Fotografien, ohne einen bewussten Gedanken daran zu verschwenden.

Ich frage mich oft, ob wir jemals darüber nachdenken, dass wir mit diesem Prozess des unendlichen Bildkonsums die künstlerische Kraft eines Bildes einfach abtöten. Das ist vielleicht der Grund, warum einige Künstler*innen, die ich kenne, beschließen, die Geschichte der Bilderzeugung zu revidieren und eine neue Sprache der Fotografie zu erfinden, wobei sie die perfekte zeitgenössische Fotooptik, Elektronik und IT-Software für die Bildbearbeitung konsequent ignorieren. Diese besondere Art der Kreation wird vom Fotokünstler Žilvinas Kropas aus Panevėžys praktiziert.

Žilvinas Kropas (geb. 1983) beschäftigt sich seit 2012 aktiv mit alternativer Fotografie (Lochkamera, Solargrafie, Luminogramm). Seit 2012 ist er Mitglied der Panevėžys Photography Society, seit 2017 Mitglied der Gabriele’s Art Gallery (Kaunas). In den Jahren 2016 bis 2018 nahm er an neun Gruppenausstellungen teil, die in Litauen, Kolumbien, Belarus, Argentinien und Großbritannien organisiert wurden. Seine Fotografien wurden in internationalen Kunstmagazinen und in der Fachpresse in den USA und Mexiko veröffentlicht.[1]

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Die Arbeit von Žilvinas Kropas führt uns zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich auf der Suche nach einem fotografischen Medium und einer authentischen Sprache für die Fotokunst die Trennung der Fotografie von der bildenden Kunst manifestierte. Die Suche nach einer authentischen Sprache erfolgte auf zweierlei Weise:

Erstens durch optische bzw. mechanische Experimente, die eine perfekte Bildprojektion auf der Oberfläche zu erzeugen versuchten, und zweitens durch chemische Verfahren, die es ermöglichten, das „eingefangene“ Bild zu erhalten.[2] Žilvinas Kropas seinerseits scheint in der Lage zu sein, beide Methoden anzuwenden.

Er setzt sich mutig mit dem Wesen der Fotografie auseinander, das schon in ihrem Titel verschlüsselt ist, der auf einen reinen Zufall hindeutet, frei von jeglichen vorgefassten menschlichen Wünschen. Hier bleibt dem Künstler nichts anderes übrig, als das Instrument des Fotografierens neu zu erfinden und mutig die Spuren des Lichts zu sammeln. Werfen wir einen Blick auf seine Erfahrungen mit dem Prozess des Fotografierens und der dabei eingesetzten Werkzeuge:

[…] Meine Kamera ist eine leere Bierdose mit einem Stück lichtempfindlichem Fotopapier darin. Anstelle des Objektivs gibt es ein kleines Loch in der Metalloberfläche der Dose, das mit einer Nadel gestochen wurde, die das Licht einlässt und das Bild auf das Fotopapier zeichnet.

Mehr gibt es nicht – keine Elektronik, keine Batterie, keine Optik. […] Mit der Blechdose fotografiere ich die Spur der Sonne, die zu jeder Jahreszeit anders ist. Die Belichtung eines Fotos dauert manchmal mehrere Monate, manchmal ein ganzes Jahr. […]

Ich habe mich für diese Art des Fotografierens entschieden, weil ich all diese schönen und stark bearbeiteten Bilder nicht mag. Ich mag auch nicht, dass jeder ein Bild machen kann, das einem anderen, bereits existierenden Bild ähnelt. Ich möchte ein anderes, einzigartiges, echtes und langfristiges Abbild der Welt.[3]

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Warum gefällt es dem Künstler nicht, dass jeder ein Bild erstellen kann, das einem bereits existierenden Bild ähnelt? Ich denke, die Antwort findet sich in Susan Sontags (1933–2004) Buch „Über Fotografie“ (1973), in dem die Autorin behauptet, dass die Fotografie als Botschaft uns gleichzeitig transparent und geheimnisvoll erscheint. Auf diese Weise ist die Wahrnehmung der Fotografie selbst nur eine Illusion, wobei das fotografische Sehen die ästhetische Selbstwahrnehmung fördert und die emotionale Isolation verstärkt.[4]

Man kann also behaupten, dass Žilvinas, indem er versucht, den authentischen Wechsel des Lichts einzufangen, der über einen bestimmten ununterbrochenen Zeitraum anhält, auf diese Weise seine Isolation von der Welt der reichlich reproduzierten Bilder zum Ausdruck bringt. Er zeigt uns ein eher objektives Dokument des Zeitflusses, das unsere Aufmerksamkeit fesselt.

Schon der Titel des fotografischen Zyklus – „Illumination of solar scripts“ – verweist auf die Geste der Fotografie als Hingabe. Einerseits kann man behaupten, dass Žilvinas sein Werk auf diese Weise der Sonne, einer der grundlegenden Quellen des Lebens, widmet; andererseits können sich die Betrachter*innen ihnre eigenen assoziativen Adressaten/Objekte/Subjekte dieser Widmung vorstellen (zum Beispiel den Sonnengott, die Astronomie, litauische Sonnenuhren, Sonnenkalender oder Ähnliches). Alle diese Widmungen sind assoziativ, sie verstärken das Geheimnisvolle der Kunstwerke, zusammen mit der Ungewissheit, die uns zum Träumen einlädt.[5]

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Als Vertreter der experimentellen Fotografie, die als Solargrafie bekannt ist, stellt der Künstler das Phänomen der Schrift in Frage und gibt den Betrachter*innen absichtliche Anweisungen, die uns über den Ursprung des Titels der Fotografie nachdenken lassen: Das griechische phos (φως) bedeutet Licht, während graphis (γραφις) der Pinsel ist. Das bedeutet, dass Žilvinas Kropas mit minimalen Mitteln in der Lage ist, das einzufangen, was die Natur geschrieben oder gemalt hat. Das sind seine Gedanken dazu:

Ich bin ein Chronist der Zeit, die ganze Zeit, die vergangen ist, wird in einer Fotografie überlagert, da kann ich als Künstler wenig tun… Das endgültige Foto ist voller Überraschungen und Ungewissheiten, vieler seltsamer Dinge. Die Fotografie kann unvorhersehbar und geheimnisvoll sein, irgendwie nicht von dieser Welt, wie eine andere abstrakte Welt.

Sie weckt den Wunsch, sie sehr lange zu beobachten und mit den eigenen Gedanken in sie einzutauchen. […] Meine Kunstwerke werden praktisch von der Sonne, der Luft, dem Wasser geschaffen, also von der gesamten natürlichen Umgebung, die nicht von mir abhängt. Alle Kunstwerke sind einzigartig, sie sind unmöglich zu reproduzieren.[6]

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Wenn ich die Fotografien von Žilvinas Kropas betrachte, frage ich mich immer wieder, was Fotografie ist. Ich komme zu dem Schluss, dass wir uns einerseits daran gewöhnt haben, der Fotografie die Funktion zuzuschreiben, die erkennbare Welt zu dokumentieren oder die Realität zu verschönern; andererseits vergessen wir dabei, dass Fotografien kapriziös, charakteristisch und kompromisslos sein können – wie schillernde Persönlichkeiten. In dieser zeitgenössischen Welt der allgemeinen Abwertung des Bildes bringen Künstler wie Žilvinas Kropas den Charakter der Fotografie zurück in den Olymp der Künste.

Žilvinas Kropas’ Einstellung zur Fotografie ist teilweise und intuitiv mit dem Ursprung eines Begriffs verbunden, der das von William Henry Fox Talbot (1800–1877) erfundene Negativ-Positiv-Verfahren definiert. Kalotypie ist der Name einer Fototechnik, die sich ähnlich wie die Poesie entwickelt hat: Erstens hieß sie zu Beginn der Technik „fotogenische Zeichnung“ oder „héliographie“, was Sonnenschrift bedeutet, zweitens bedeutet das griechische kalos (καλός) schön und tupos (τύπος) ist Eindruck. Zweifellos vermitteln die Kunstwerke von Žilvinas Kropas einen Eindruck von Schönheit.

Eine weitere intuitive Parallele besteht zum Buch „The Pencil of Nature“ (1844–1846), das mit Fotografien von W. H. F. Talbot illustriert ist.[7] Zweifellos sind die Parallelen zwischen Kropas und Talbot wirklich intuitiv und ziemlich weit entfernt, doch verbindet sie eine äußerst intime und sensible Einstellung zum Phänomen der Fotografie. Talbot, wie auch Kropas, wird von Fragen zum Wesen der Fotografie beunruhigt, die sich stellen, sobald man versucht, sich mit dem ungehorsamen Arbeitsinstrument (Fotokamera, Fotopapier und Fotochemie) auseinanderzusetzen.[8]

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Eine weitere, nicht weniger interessante Parallele lässt sich zwischen den Werken von Žilvinas Kropas und der Geschichte des Fotogramms ziehen. Das Fotogramm ist eine kreative Methode, bei der Objekte auf lichtempfindliches Material (in der Regel Fotopapier) gelegt werden und ihre Formen sowie die Abstände zwischen ihnen durch das Licht selbst nachgezeichnet werden. So konkurrieren Fotogrammkünstler, ähnlich wie Žilvinas, mit dem natürlichen Licht und versuchen, es einzufangen und uns als das authentischste Kunstwerk zu präsentieren.

Susan Sontag erinnert uns daran, dass solche Fotoexperimente wie Fotogramme (oder Žilvinas Kropas’ Illuminationen von Sonnenschriften) oft als marginale Erfolge in der Geschichte der Fotografie angesehen werden. Künstler aus diesem Bereich haben immer einen bewussten Widerstand gegen den oberflächlichen Fotorealismus angestrebt.[9] Ian Jeffrey schreibt sehr präzise über das Phänomen des Fotogramms und die Probleme, die es mit sich bringt:

Laszlo Moholy-Nagy (1895–1946), Edmund Kesting (1892–1970), Theo Ballmer (1902–1965), Man Ray (1890–1976) in Frankreich produzierten Fotogramme, indem sie nur Objekte (Dinge) und lichtempfindliches Papier verwendeten, ohne eine Fotokamera. […] Die Ergebnisse waren schwer vorhersehbar und oft verblüffend. Ein Fotogramm zu erstellen ist wie das Würfeln – es ist eine Frage des Glücks. […] Fotogrammer schauen in Experimentierwerkstätten und Schnittplätze, sie interessieren sich auch für Objekte, die leicht zu manipulieren sind, die zur Hand sind.

Wie die Meister der künstlerischen Fotografie der letzten Jahrhunderte idealisieren sie, verallgemeinern sie. […] sie verwandeln eine Banalität in eine „leuchtende ungewöhnliche Welt“. […] wie besessen von der Anziehungskraft der Gegensätze neigen sie zum Subjektivismus, zur Spiritualität und zur Natur, zu Kräften, die nicht leicht zu messen oder zu beherrschen sind.[10]

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Man könnte behaupten, dass die Verbindung zwischen Žilvinas Kropas und den Fotogrammern in dem Bedürfnis besteht, ein Geheimnis zu lüften, das sich hinter den erkennbaren Dingen, den Formen der natürlichen Objekte verbirgt, doch leider schafft die Enthüllung des Geheimnisses nur ein weiteres Geheimnis, das die Veränderung des Raums und den Fluss der Zeit auf eine einzige Fläche bannt. Die Fotografie macht alle eingefangenen Komponenten zu paradoxen Geiseln der zweidimensionalen Oberfläche. Wohl deshalb fordern die Arbeiten von Žilvinas Kropas immer wieder die Aufmerksamkeit der Betrachter*innen und provozieren das Nachdenken über sie als besonders ausgeprägte Formen der Realitätsdekonstruktion.

Auch wenn immer noch die Meinung zu hören ist, dass Fotografie als technische Reproduktion von Dingen und Ordnung der Wirklichkeit zu verstehen sei, so kommt Žilvinas Kropas doch den Ideen Walter Benjamins (1892–1940) über den Ursprung der Fotografie nachdrücklich nahe.[11] Žilvinas schafft originäre Bilder, die dem menschlichen Auge in der alltäglichen Umgebung nicht zugänglich sind. Er nimmt Bilder auf, die nicht nur mit dem natürlichen Sehvermögen, sondern auch mit den perfektionierten optischen und elektrotechnischen Maschinen nicht erfasst werden können.

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Die Fotografien von Žilvinas Kropas sind menschenleer und verleihen der Belichtung selbst einen Wert – langes und geduldiges Warten, während das Licht wandert und die Flugbahn seiner Bewegung aufzeichnet. Paradoxerweise bewundern wir heute, da wir in der Lage sind, hochwertige Optiken zu verwenden und Fotografien von den besten Druckmaschinen überhaupt ausdrucken zu lassen, die experimentellen Arbeiten wie die von Žilvinas Kropas. Die Erklärung dafür findet sich bei Walter Benjamin:

Als das Zeitalter der mechanischen Reproduktion die Kunst von ihrer Grundlage im Kult trennte, verschwand der Anschein ihrer Autonomie für immer. Die sich daraus ergebende Veränderung der Funktion der Kunst ging über die Perspektive des Jahrhunderts hinaus […] Zuvor war viel vergeblich über die Frage nachgedacht worden, ob die Fotografie eine Kunst sei. Die primäre Frage, ob die Erfindung der Fotografie nicht das gesamte Wesen der Kunst verändert hat, wurde nicht gestellt.[12]

Žilvinas Kropas, der eine rein alternative Fotografie und ein eigenes künstlerisches Programm verfolgt, ist derjenige, der den im Zeitalter der Reproduktion verschwundenen kultischen Hintergrund für die Kunst wiederbeleben will. Er stattet die Fotografie mit dem aus, was traditionell zur bildenden Kunst gehört:[13] das Original, die Authentizität und die Kultivierung des guten Geschmacks!

 

Quellen und Anmerkungen

1. ↑ Kropas, Ž. (2018-08-15). Künstlerische Biografie, gesendet per E-Mail an R. Venckus.
2. ↑ Jaškūnienė, E. (2018). Fotografischer Ausdruck: Geschichte, Mittel, Stil. Audiovisuelle Medienanwendung für Innovation: Materialien für informelle Bildungsprogramme für Kinder. Vilnius: Vilnius Gediminas Technical University (Mitverfasser*innen Venckus, R., Ruokis, R. Barevičiūtė, J.).
3. ↑ Kropas, Ž. (2018-08-15). E-Mail an R. Venckus über die Erstellung von Fotografien. Kuizinaitė, G. (2018). Žilvinas Kropas: Über Grenzen und Verbreitung der Fotografie. Kultūros tiltas. (Zugriff am 28.09.2018).
4. ↑ Sontag, S. (2000). Über Fotografie. Vilnius: Baltos lankos, S. 115 (Übersetzung: Laurynas Katkus).
5. ↑ Kropas, Ž. (2018-10-05-06). E-Mail an R. Venckus über die Erstellung von Fotografien.
6. ↑ Kropas, Ž. (2018-08-15). E-Mail an R. Venckus über die Erstellung von Fotografien. Kuizinaitė, G. (2018). Žilvinas Kropas: Über Grenzen und Verbreitung der Fotografie. Kultūros tiltas. (Zugriff am 28.09.2018).
7. ↑ Siehe Talbot, W. H. F. (1969). The Pencil of Nature. London: Library of Alexandria.
8. ↑ Siehe Jeffrey, I. (1999). Fotografie: eine kurze Geschichte. Vilnius: Verlag R. Paknis, S. 16 (Übersetzung: Milda Dykė).
9. ↑ Sontag, S. (2000). Über Fotografie. Vilnius: Baltos lankos, S. 60 (Übersetzung: Laurynas Katkus).
10. ↑ Siehe Jeffrey, I. (1999). Fotografie: eine kurze Geschichte. Vilnius: Verlag R. Paknis, S. 116 (Übersetzung: Milda Dykė).
11. ↑ Benjamin, W. (2005). Illuminationen. Vilnius: Vaga, S. 217 (Übersetzung: Laurynas Katkus).
12. ↑ ebd., S. 225
13. ↑ Sontag, S. (2000). Über Fotografie. Vilnius: Baltos lankos, S. 60 (Übersetzung: Laurynas Katkus).

Dieser Artikel wurde für Euch von Redakteurin Aileen Wessely aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

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