12. August 2022 Lesezeit: ~8 Minuten

Erfahrungen, zu schmerzhaft für Worte

Hallo Sissel! Danke, dass Du Dir die Zeit für ein Interview genommen hast. Bitte erzähl uns zunächst ein wenig über Dich: Wer bist Du und was machst Du?

Ich bin eine Künstlerin, die in Norwegen lebt und arbeitet. Als Fotografin und Filmemacherin habe ich in den letzten 15 Jahren an persönlichen, freien Projekten gearbeitet. In diesen untersuche ich verschiedene thematische Aspekte und fordere mich dabei auch persönlich heraus.

Wenn ich an einem persönlichen Projekt arbeite, wende ich mich dafür der analogen Welt zu. Ich verwende verschiedene Kameras, Schwarzweißfilme, analoge Verfahren und auch Mischtechniken. Indem ich mir selbst erlaube, im Prozess offen zu sein, bin ich auch offener dafür, mit meinen kreativen Fähigkeiten das zum Ausdruck zu bringen, was ich erreichen möchte.

Portrait, bei dem das Gesicht im dunkeln liegt, darauf mit weiß gezeichnete, sich überlappende OvaleCollage eines Arms mit Pflanzenelementen

Das jüngste Projekt, an dem ich gearbeitet habe, nennt sich „Emotional Alchemy“. In diesem habe ich mich auf Menschen konzentriert, die Traumata ganz unterschiedlicher Arten erlebt haben. Ich habe Interviews mit ihnen geführt und sie gebeten, zu erzählen, was ihnen widerfahren ist. Ich bat sie auch, zu beschreiben, wie sie sich vor, während und nach dem jeweiligen Vorfall gefühlt haben.

Nachdem ich mit Menschen auf der ganzen Welt darüber gesprochen habe, was ihnen passiert ist, habe ich versucht, diese Beschreibungen bildlich umzusetzen. Ich wollte, dass die Bilder universell sind, damit möglichst viele Menschen sich mit ihnen identifizieren können. Das ist auch der Grund, warum man die Gesichter der Menschen auf den Bildern nicht sehen kann.

dunkles Portrait zweier Menschen, die sich die Handflächen vor die Augen haltendrei menschliche Silhouetten, in denen Bäume wachsen

Welche Erkenntnisse über Trauma-Erfahrungen waren für Dich in den Interviews, die Du geführt hast, am überraschendsten oder bereicherndsten?

Am überraschendsten und bereicherndsten waren die Menschen, die Traumata erlebt haben und es schafften, sich davon zu trennen. Die vollbrachten, sich selbst zu vergeben, die Erfahrung für sich umzudrehen, daraus zu lernen, sich selbst zu lieben und anderen Menschen helfen zu wollen, anstatt in Bitterkeit und Wut zu leben.

Es ist auch erstaunlich zu sehen, wie schnell Kinder die richtige Unterstützung für einen Erwachsenen bekommen haben. So gelingt es ihnen, selbst die schrecklichsten Erfahrungen loszulassen. Dinge, die wir nicht verstehen, sind schädlich.

dunkles, surreales PortraitMehrfachportrait mit Farn im Hintergrund

Wie bist Du darauf gekommen, Dich mit dem Thema Trauma zu beschäftigen, welche Umstände haben das Projekt ausgelöst?

Schon seit ich klein war, haben mir Menschen ihre Seele ausgeschüttet. Sogar Menschen, die ich noch nicht einmal besonders lange kannte, manchmal erst seit ein paar Stunden. Es ist oft eine große Verantwortung, aber es lohnt sich, auch wenn es sehr schmerzhaft sein kann, sich diese Geschichte anzuhören.

Als ich durch Mittel- und Südamerika reiste, bemerkte ich, dass ich ganz besonders Menschen anzog, die ein sehr schwieriges Leben hatten. Viele Jahre lang wusste ich nicht, wie ich ihre Geschichte erzählen sollte, bis ich mit der Arbeit an der Serie „Emotional Alchemy“ begann.

Es gibt ja tatsächlich Hoffnung in dieser Welt, wenn betroffene Menschen die richtige Aufmerksamkeit und Hilfestellung für ihre Probleme bekommen. In vielen der ärmsten Länder sind leider die traumatischen und dysfunktionalen Familien und Erfahrungen irgendwie normalisiert.

Ich möchte mich auch selbst weiterentwickeln und denke, das ist der Grund, warum ich mir die schwierigsten Themen aussuche. Wir leben in dieser oberflächlichen Welt und in diesem oberflächlichen Bewusstsein. Ich brauche im Kontrast dazu einfach etwas, das mehr Tiefe hat.

Portrait mit Collagedunkles Portrait

An welchen anderen Themen arbeitest Du sonst noch, gibt es wiederkehrende Motive in Deiner künstlerischen Praxis und weißt Du, warum sie auftauchen?

In meinen früheren Arbeiten ging es zum Beispiel darum, zu lernen, wer man ist und verschiedene Aspekte meiner Persönlichkeit zu erleben. Ich stoße dabei an den Rand meiner eigenen Komfortzone. Es geht mir auch darum, meine eigene mentale sowie emotionale Erfahrung und das Bewusstsein zu erweitern, um die beste Version meiner selbst zu werden. Das hat einen kreativen Prozess ausgelöst und ist auch sehr aufregend.

Wie bist Du überhaupt zur Fotografie gekommen und was hat Dich dazu veranlasst, bei diesem Medium zu bleiben?

Ich war etwa 14 Jahre alt, als ich Fotografie als Wahlfach in der Schule belegt habe. Schon als ich das erste Mal in der Dunkelkammer saß, war ich total verliebt in dieses Handwerk. Das erste Bild, das ich je entwickelt habe, war ein Foto von meinem Pferd und es fühlte sich einfach magisch an. Dieses Gefühl habe ich immer noch jedes Mal, wenn ich ein Bild im Entwickler habe.

drei Frauen in weißen Kleiderndrei Frauen in weißen Kleidern

Wie sah Dein persönlicher künstlerischer Werdegang aus?

Ich habe als Fotojournalistin angefangen und dann Workshops gegeben. Dort habe ich erst gelernt, wie wichtig es ist, persönliche Geschichten aus der eigenen Perspektive heraus zu erzählen. Ich habe dann noch etwa zehn weitere Jahre gebraucht, um meine künstlerische Stimme zu finden. Das ist ein Prozess, den man einfach nicht beschleunigen kann.

Die Fotografie und die Filmkunst können sich gegenseitig sehr viel darüber lehren, wie man Geschichten erzählt. Aber die besten Lektionen waren die über das Licht. Die verschiedenen Techniken dafür, wie man eine Szene oder eine Person beleuchtet, waren große Wendepunkte für meine Sichtweise und meinen Umgang mit Licht.

drei Frauen in weißen Kleiderndrei Frauen in weißen Kleidern

Die analogen Verfahren, die Du verwendest, sind ja eher speziell. Hast Du auch andere fotografische Verfahren wie etwa die Digitalfotografie ausprobiert?

Ich bin kein großer Fan der Digitalfotografie. Ich empfinde sie als Einschränkung meines kreativen Ausdrucks. In der Dunkelkammer habe ich viele Jahre lang mit verschiedenen Techniken experimentiert, die ich in Photoshop so niemals umsetzen könnte – es sei denn, ich wäre eine Photoshop-Expertin, was ich einfach nicht bin.

Bei der digitalen Technik gibt es diese glücklichen Zufälle nicht, die man in der analogen Fotografie und der Filmkunst umsonst mit dazu bekommt und die meiner Meinung nach völlig unterschätzt werden. Ich mag es auch nicht, wenn das Digitale sehr digital aussieht. Das nimmt dem Handwerk für mich den Zauber.

zwei Mädchen in langen Kleidern hinter einem transparenten Schirm, an einem Seeufer stehendzwei sich umarmende Personen in Mänteln vor Bäumen an einem See

Wie sieht Dein Arbeitsablauf aus? Wie kommst Du etwa auf neue Konzepte, wie entwickelst Du eine Idee zu einem Bild, wie arbeitest Du mit Modellen?

Ein neues Projekt beginnt bei mir mit einem Gefühl oder einem Look, den ich erreichen möchte. Ich probiere dann verschiedene Techniken aus, bis ich etwas Spannendes und Neues gefunden habe, das mich dazu bringt, weiterzuarbeiten. Die Bedeutung dahinter kann ein Jahr auf sich warten lassen. Es kommt darauf an. Manchmal arbeite ich mit Modellen und manchmal mit mir selbst.

surreale Collagesurreale Collage

Was denkst Du darüber, Deine Werke online zu präsentieren? Vor allem bei analogen oder Mixed-Media-Arbeiten wie Deinen, die eine haptische Qualität haben, die sich nur schwer oder gar nicht in digitaler Form transportieren lässt.

Ich habe meine Arbeiten schon früher auf Online-Ausstellungen und in Magazinen präsentiert. Bei meinem aktuellen Projekt „Emotional Alchemy“ sehe ich kein Problem mit der digitalen Präsentation. Mein nächstes Projekt hingegen wird sehr schwierig online zu präsentieren sein, also muss ich damit experimentieren, bevor ich mehr darüber verraten kann, aber es wird eine große Herausforderung sein.

Was sind Deine Ziele und Träume?

Ach, die ganze Welt liegt mir noch offen! Ich habe Träume, aber im Moment nehme ich jeden einzelnen Tag, wie er kommt.

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