26. September 2023 Lesezeit: ~15 Minuten

Fragile as Glass – Ein Fotobuch über LGBTQIA+-Menschen in der Ukraine

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine begann vor über 570 Tagen. Langzeitserien wie „Fragile as Glass“ von Sitara Thalia Ambrosio sind unglaublich wichtig: Sie beschäftigen sich abseits der vielen schockierenden Bilder, die zu Beginn des Krieges die Titelseiten der großen Zeitungen illustrierten, mit dem Alltag im Krieg.

Sie bringen uns die Menschen nahe, die ihm ausgesetzt sind und machen ihre Ausnahmesituation verständlicher. Aktuell wird diese wichtige Serie in Buchform per Kickstarter finanziert.

Zum Zeitpunkt dieses Interviews war es exakt Tag 442. Es erschien erstmalig im Magazin Fotoforum. In den deutschen Nachrichten hört man nur noch vereinzelt etwas von den Ereignissen. Neue Krisen und Tragödien sind ins Medieninteresse gerückt. Doch der Krieg geht weiter.

Sitara, Du hast in Deiner Serie „Fragile as Glass“ queere Menschen in der Ukraine portraitiert. Macht es im Krieg denn einen Unterschied, welche Identität man hat oder wen man liebt?

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist natürlich erst einmal für alle Menschen im Land schrecklich. Wir lesen und hören in Deutschland immer wieder von Kriegsverbrechen an Zivilist*innen, die vom russischen Militär begangen werden. Aber gerade deshalb müssen wir in Kriegen auch besonders auf vulnerable Gruppen achten.

In Russland herrscht ein sehr homo- und transfeindliches gesellschaftliches Klima. Wenn wir konkret über queeres Leben in der Ukraine reden, dann müssen wir das mitbetrachten. Laut amerikanischen Medienberichten gibt es im Kontext dieses Krieges zum Beispiel Deportations- und Todeslisten der russischen Regierung, auf denen sich auch Namen von LGBTQIA+-Aktivist*innen befinden sollen.

Wenn wir von Flucht aus der Ukraine reden, dann müssen wir anerkennen, dass es für trans Personen sehr viel schwieriger ist, zu fliehen. Nach ukrainischem Kriegsrecht ist die Ausreise von Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren grundsätzlich verboten. Wenn beispielsweise in den Personalausweisen von Transfrauen noch das falsche Geschlecht eingetragen ist, werden sie oft an der Grenze abgewiesen.

Eine Gruppe Menschen unterhalten sich

Edward R. ist Projektassistenz bei der Organisation KyivPride. Hier organisieren sie einen Filmabend für die Community. Der Filmabend ist für viele junge queere Menschen wichtig, nicht nur um abzuschalten, sondern auch um Erfahrungen aus ihrem Alltag auszutauschen.

In Deiner Serie habe ich auch das Portrait von Edward gesehen. Eine trans Person, die sich in Deinen Bildern am Fenster schminkt. Wurde Edward an der Grenze abgewiesen?

Nein, Edward möchte die Ukraine nicht verlassen und arbeitet bei KyivPride, einer der größten Organisationen in der Ukraine, die sich für die Rechte von queeren Personen einsetzen. Edward hat einen Platz in diesem Krieg gefunden, hilft anderen Menschen der LGBTQIA+-Gemeinschaft, spricht auf öffentlichen Veranstaltungen und kämpft auf diese Weise.

Die Herausforderung für Edward ist eine andere: Zu Kriegsbeginn war Edward mitten in einer geschlechtsanpassenden Phase. Weil der Zugang zu den nötigen Hormonen im Krieg nicht immer möglich ist, kann Edward mit der Hormontherapie nicht beginnen. Das ist natürlich eine enorme psychische Belastung, weil Edward sich im eigenen Körper endlich wohlfühlen möchte.

Wie war die Lage für die LGBTQIA+-Gemeinschaft in der Ukraine bis zum Krieg?

Die Ukraine und vor allem ihre Hauptstadt Kyjiw sind in den vergangenen Jahren zu einem Zufluchtsort für viele queere Menschen geworden, die einfach ein Leben in Würde führen wollten. Viele sind aus den umliegenden repressiven Staaten wie Belarus und Russland vor den homophoben Regierungen in die Ukraine geflohen, weil sie wissen, dass queere Menschen dort nicht aktiv durch den Staat diskriminiert werden.

Trotzdem muss man natürlich sagen, dass es auch in der Ukraine Homofeindlichkeit gibt. Die Räumlichkeiten von KyivPride in der Hauptstadt, die ich auch fotografieren durfte, sind zum Beispiel nicht öffentlich zu finden, weil die Angst vor Angriffen einfach zu groß ist. Aber insgesamt ist die gesellschaftliche Akzeptanz im Land in den letzten Jahren stark gestiegen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die Ukraine eine junge Demokratie ist, die sich in Richtung der europäischen Menschenrechte und dem europäischen Wertekompass bewegt.

Ein mann beim Einkaufen

Seit mehreren Wochen greift Russland mit Luftangriffen lebenswichtige Infrastruktur wie Energieversorger an. Die Folge sind ständige Stromausfälle im größten Teil des Landes. Auch Sasha N. spürt die Auswirkungen in der Westukraine. In einem kleinen Lebensmittelsupermarkt in Lemberg kauft er Obst und Gemüse ein, während mehrere Stunden lang der Strom ausfällt. Bargeld ist in diesen Zeiten besonders wichtig, da viele Kartenlesegeräte ohne Strom nicht funktionieren.

Wenn solche Einrichtungen wie KyivPride nicht öffentlich sind und die queere Gemeinschaft im Krieg besonders verletzlich ist, wie hast Du als Außenstehende dennoch den Kontakt zu den Menschen gefunden?

In den ersten Tagen nach dem Beginn des Angriffskrieges bin ich für einen Auftrag mit Kolleg*innen im Westen der Ukraine gewesen und habe dort zum Thema Flucht fotografiert. Es war gerade die Zeit, als die russischen Truppen die Vororte von Kyjiw eingenommen hatten und man nicht sicher war, wie weit sie noch vorrücken würden. Es war auch die Zeit, in der man von den Kriegsverbrechen in Butscha gehört hat.

Damals sind viele Leute aus Kyjiw in den Westen des Landes geflohen. Darunter auch der 20-jährige Yehor mit seinem Partner. Ich habe ihn während meines Auftrags kennenlernen dürfen und ihm mein Thema zu verdanken. Wenn er nicht so offen und ehrlich über seine Gefühle als schwuler Mann in diesem Krieg gesprochen hätte, wäre ich nie so intensiv mit der Thematik in Berührung gekommen. Nach den Gesprächen mit ihm habe ich angefangen, mehr zu recherchieren und nach weiteren queeren Menschen gesucht.

Vor allem die sozialen Medien haben mir dabei sehr geholfen, ich habe aber auch queere Organisationen angeschrieben und mich bei Privatpersonen gemeldet, die schon einmal öffentlich über das Thema gesprochen haben. Mit diesen Menschen habe ich mich dann öfter getroffen, Kaffee getrunken oder einen Nachmittag im Luftschutzbunker verbracht.

Woher stammt der Titel Deines Projekts „Fragile as Glass“?

Er stammt tatsächlich von Yehor. In meinem ersten Interview mit ihm hat er zu mir gesagt: „Ich fühle mich instabil. Alles, was derzeit in der Welt geschieht, zeigt, dass die Welt zerbrechlich wie Glas ist. In diesen Tagen, da in meinem Land Krieg herrscht, habe ich Angst vor allem.“

Polaroid auf einem Tisch liegend

Auf Sasha N.s Regal neben dem Bett liegen Polaroidfotos aus der Vorkriegszeit.

Das ist sehr berührend. Du zeigst in Deinen Bildern die Gesichter der Menschen, teilweise auch ihre Wohnorte. Bedeutet eine solche Veröffentlichung nicht auch eine zusätzliche Gefahr für sie?

Die Frage, was man zeigen kann, ohne die Menschen in aktive Gefahr zu bringen, ist ein journalistisches Dilemma. Es erfordert viel Feingefühl und natürlich auch eine enge Abstimmung mit den Menschen. Alle Fotos, die ich zeige, werden nur in Absprache mit den jeweiligen Personen veröffentlicht. Es ist ein Tanz auf dem Drahtseil.

Es gibt auch Fotos, die ich gemacht habe und nicht veröffentlichen werde. Die Räumlichkeiten der Organisation KyivPride werden in meinem Projekt zum Beispiel nur von innen gezeigt. Es wurde auch besonders darauf geachtet, dass die Fenster nicht genau zu sehen sind, um zu vermeiden, dass man anhand des Blicks nach draußen erkennen könnte, wo dieses Gebäude steht. Zusätzlich veröffentliche ich nie die Nachnamen der Menschen in meinem Projekt.

Du begibst Dich bei Deiner Arbeit in Kriegs- und Krisengebieten auch immer selbst in Gefahr. Wie bereitest Du Dich auf solche Reisen vor?

Die Vorbereitungen und auch die Gefahren sind je nach Land sehr unterschiedlich. In der Ukraine gibt es eine Front, deren Verlauf man relativ gut nachvollziehen kann. Es gibt zudem in jeder größeren Stadt Zugang zu Luftschutzbunkern. Die Situation in Syrien, von wo ich gerade zurückgekommen bin, ist in Teilen eine ganz andere.

Ein Schritt, der in der Vorbereitung meiner Arbeit aber immer gleich ist, ist die Einrichtung eines Backoffice. Dabei geht es darum, dass ich in Deutschland Kolleg*innen habe, die meinen genauen Zeitplan kennen. Sie wissen genau, wo ich bin, wohin ich mich bewege und mit wem ich mich treffe, soweit das möglich ist. Manchmal geht das aus Quellenschutz nur bedingt. Wenn ich mich zu bestimmten Zeiten nicht wie vereinbart melde, setzt das sozusagen eine Lawine in Gang und diverse Schritte werden eingeleitet. Im Grunde ist das Backoffice eine der wichtigsten Sicherheitsvorkehrungen für mich.

Menschen an einem Tisch feiern Geburtstag

Sasha N. feiert Geburtstag gemeinsam mit Mitbewohner*innn in der WG. Sasha wird 21 Jahre alt. Die Freundesgruppe bestellte Sushi und kaufte Alkohol. Doch auch an diesem Abend drehen sich die Gespräche immer wieder um den Krieg und die Frage: Wie geht es weiter?

Wie ist es vor Ort? An wen wendest Du Dich, wenn Du weder Land noch Sprache kennst?

Viele Journalist*innen arbeiten mit sogenannten Fixer*innen zusammen. Das ist tatsächlich der Fachbegriff dafür. Oft handelt es sich dabei um einen örtlichen Journalist*innen. Ich sage jedoch lieber Kolleg*innen. Es sind Personen aus den jeweiligen Orten, die für mich übersetzen, die die Gegend kennen und so weiter. Sie haben ebenfalls Kontakt zu meinem Backoffice und koordinieren mit, weil sie die Gefahren und Situationen im eigenen Land natürlich viel besser einschätzen können als ich.

Sprichst Du selbst Russisch oder Ukrainisch?

Nein, aber für dieses Projekt hatte ich vorrangig mit jungen Menschen zwischen 19 und 35 Jahren Kontakt, die alle sehr gut Englisch sprechen. Es gab nur eine Situation, in der ich mit einem Ukrainischen Dolmetscher gearbeitet habe. Da bin ich nach Nikopol im Süden des Landes gefahren. Die Stadt liegt gegenüber dem Atomkraftwerk Saporischschja in der Nähe der Front. Dort leben die Großeltern eines meiner Protagonisten.

Im Laufe der Gespräche mit ihm habe ich gemerkt, was für ein einschneidendes Thema es für ihn ist, in dieser ständigen Angst um seine Oma und seinen Opa zu leben. Nikopol war seine Heimatstadt, doch nun konnte er sie nicht mehr besuchen. Um mit den Großeltern reden zu können, habe ich mit dem ukrainischen Dolmetscher Dmytro Boguslavskiy zusammengearbeitet. Er ist selbst dort in der Gegend aufgewachsen.

Ein Mensch spielt Klavier, ein zweiter sitzt neben ihm auf einem Bett

Yehor H. sitzt neben seinem Freund Arkedii auf dem Bett. Seit einigen Wochen lebt Yehor H. hier in Arkediis Wohnung. Nachdem er im Sommer mit seinem Freund Andrew in die Hauptstadt zurückgekehrt war, war ihre Beziehung nicht immer einfach. Das Zusammenleben funktionierte nicht mehr und Yehor H. musste ausziehen. Während des andauernden Krieges ist es sehr schwierig, eine Wohnung zu finden.

In dieser Woche gab es die traurige Nachricht, dass der französische Journalist Arman Soldin bei seiner Arbeit in der Ukraine getötet wurde. Wie gehst Du selbst mit einer solchen Nachricht um? Zweifelst Du da nicht an Deinem Beruf?

(nach längerer Gedankenpause) Das ist eine Frage, die man sich selbst so ungern stellt.

Ich bin davon ausgegangen, dass Du Dich das oft fragst.

Wenn man sich dafür entscheidet, in Kriegs- und Krisengebieten zu arbeiten, dann weiß man auch, dass es immer gefährlich ist. Du kannst diesen Beruf nicht ausüben, ohne Dich in Gefahr zu bringen. Du musst für diese Geschichten vor Ort sein, die lassen sich nicht vom Schreibtisch aus erzählen. Klar kann man sich immer bestmöglich vorbereiten und alles so sicher wie möglich gestalten. Aber trotzdem bin ich mir immer bewusst, dass etwas passieren kann.

Mir hilft es unglaublich, die Geschichte, die im Prozess ist, immer im Blick zu haben. Mir immer wieder bewusst zu machen: Warum bin ich hier? Warum erzähle ich diese Geschichte? Warum ist diese Geschichte so relevant, dass sie erzählt werden sollte? Wenn ich das im Fokus behalte, dann habe ich das Gefühl, handlungsfähig in meiner Arbeit und auch vor Ort zu bleiben.

Für mich ist eines der relevantesten Dinge auch der Moment der Veröffentlichung. Wenn die Geschichte dann auch wirklich von den Menschen gesehen und gelesen werden kann. Im besten Fall kommt dann auch Feedback zurück, dass diese Perspektive bisher noch nicht gesehen wurde oder die Menschen jetzt dadurch das Thema besser verstehen und sich mehr dafür interessieren. Das hält mich am Leben. Dann wird man sich auch wieder bewusst, warum man dieses Risiko eingeht und warum es so wichtig ist. Ich denke, das ist der Kern.

Jetzt warst Du für diese Geschichte als freie Fotojournalistin vor Ort und weißt ohne Auftraggeber*innen gar nicht, ob und wo die Bilder erscheinen werden. Wie geht es Dir damit? Du sagst ja, dass gerade die Veröffentlichung das ist, was Dich antreibt. Hinzu kommt in diesem Fall auch eine finanzielle Belastung.

Ja, die Geschichte „Fragile as Glass“ ist eine rein freie Arbeit gewesen. Da ist die Herausforderung vor allem die Finanzierung. Als Freiberuflerin funktioniert das nur über Kolleg*innen, die das gemeinsam mit Dir stemmen wollen oder über Projektförderungen. Dann überlegt man natürlich die ganze Zeit, wie und wo man die Arbeit präsentieren könnte, sei es in einem Magazin, als Ausstellung oder als Buch. Bei „Fragile as Glass“ war mir relativ klar, dass es ein Buch werden könnte. Es passt einfach vom Konzept her sehr gut in ein Fotobuch.

Als wir das letzte Mal telefoniert haben, warst Du auf dem Weg zu einem Auftrag in die kurdischen Gebiete Syriens. Behältst Du dennoch den Kontakt zu den Menschen in der Ukraine?

Ich halte zu allen Protagonist*innen aus meinem Projekt Kontakt. Natürlich nicht in einer ständigen Regelmäßigkeit, aber immer wieder. Ich sende ihnen zum Beispiel Neuigkeiten, wie sich das Projekt entwickelt. Gerade wurden die Bilder im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau ausgestellt. Davon habe ich ihnen natürlich auch Fotos und Videos geschickt.

Oft geht es natürlich darum, wie es ihnen aktuell geht und wie sich ihr Leben entwickelt. Ich denke, das ist auch so essentiell, weil es ein so großes und intensives Projekt ist. Die Leute haben mich sehr nah an sich herangelassen und sich damit auch sehr verletzbar gemacht. Deshalb ist es mir auch so wichtig, ihnen immer mitzuteilen, wo ihre Geschichten landen.

Informationen zum Buch

„Fragile as Glass“ von Sitara Thalia Ambrosio
Sprache: Englisch
Einband: Hardcover
Preis: 35 € (Vorverkauf per Kickstarter)

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