06. März 2023 Lesezeit: ~4 Minuten

Eulenkopf. Eine Wohnsiedlung.

In den 1970er Jahren entstanden in ganz Deutschland Studierendeninitiativen, die sich zum Beispiel in Psychiatrien oder Obdachlosensiedlungen engagierten. Eine Initiative gründete sich in Gießen in der Wohnsiedlung „Auf dem Eulenkopf“. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter schloss sich dieser Initiative an.

50 Jahre danach begebe ich, seine Enkelin, mich auf fotografische Spurensuche und frage mich: Was ist eigentlich heute aus der Wohnsiedlung geworden? Entstanden sind dokumentarische Einblicke und Interviews über die Siedlung und ihre Bewohner*innen.

Im April dieses Jahres wäre Horst, mein Opa, 100 Jahre alt geworden. Meine Oma Bergrun ebenfalls, allerdings einen Monat früher. Als sich meine Großeltern früher über den „Eulenkopf“ unterhielten, verstand ich nie, worum es ging. Auf jeden Fall klang der Name für mich sonderbar. Erst 2020, als ich zu einem neuen Projekt recherchierte, verstand ich, was der „Eulenkopf“ ist.

Die Siedlung „Auf dem Eulenkopf“ wurde in den 1950er Jahren als Notunterkunft für nicht-sesshafte Menschen in Gießen errichtet. Die Menschen wurden dort von der restlichen Stadtbevölkerung segregiert und lebten in prekären Verhältnissen. Die Studierendengruppe solidarisierte sich mit den Bewohner*innen und unterstützte sie zehn Jahre im Kampf zur Selbstbefreiung. Daraufhin verbesserten sich ihre Lebensumstände.

Eine Person macht Bankdrücken

Der „Eulenkopf“ hat meine Großeltern bis in den Tod begleitet. In seinem letzten „Brief an die Urenkel“ schrieb Horst:

Ihr werdet davon hören, dass Bergrun und ich zusammen mit einer Studentengruppe 10 Jahre 120 Bewohner einer Obdachlosensiedlung im Kampf um Selbstbefreiung beigestanden haben, die unsere Freunde geworden sind.

Ich wollte nun wissen, was aus der Wohnsiedlung geworden ist. 50 Jahre später.

Zunächst habe ich durch die Sozialarbeiter*innen, die in der Siedlung in der Gemeinwesenarbeit tätig sind, den ersten Zugang zur Siedlung erhalten. Sie kennen die Bewohner*innen gut und konnten mich vernetzen, das war sehr hilfreich. Der eigentliche Türöffner war dann schlussendlich aber mein Großvater:

Alle, die damals dort auch schon gewohnt haben, konnten sich noch gut an ihn erinnern. Die meisten waren damals noch Kinder. Das lief oft ungefähr so ab: „Hallo, ich bin Merle. Ich bin Fotografin und möchte hier ein Fotobuch über den Eulenkopf machen.“

„Aha.“ – „Ja, ich bin die Enkelin von Horst-Eberhard Richter.“ „Ach, Du bist die Enkelin des Professor Richter. Ja, dann komm mal rein. Willst Du einen Cappuccino?“ Es gab also einen direkten Anknüpfungspunkt.

Offene Buchseite

Irgendwann „verschwand“ er dann und ich war nicht mehr die Enkelin, sondern Merle. In den letzten zwei Jahren bin ich mehrere Male für mehrere Wochen nach Gießen gereist und habe mit den Bewohner*innen Gespräche geführt und den Alltag in der Siedlung fotografiert. Die Bewohner*innen, die ich fotografiert habe, mögen ihre Wohnsiedlung.

Für Adelheid ist das ihre Heimat, obwohl sie damals in prekären Verhältnissen gelebt hat: „Hier war alles nur Schutt.“ Rosi sagt: „Ich habe mich tierisch gefreut, als wir eine Klingel bekommen haben, ich konnte es nicht fassen, eine eigene Klingel.“

Rosis Sohn, Kevin, ist im letzten Jahr weggezogen. Seine Freundin fühlte sich nicht mehr wohl und die Wohnung war zu klein geworden. Jetzt wohnen sie direkt in der Nähe und kommen fast täglich zum „Eulekopp“. Kevin ist Lehrer am Gymnasium in Butzbach. Darüber habe ich mich gefreut, dass jetzt die Kinder der Kinder Bildungsaufsteiger*innen sind.

Theo erinnert sich noch an damals: „Wir kamen hier als Kinder nicht groß weg. Das Highlight war, wenn wir mal ins Schwimmbad sind.“ Die Student*innen machten mit den Kindern damals Ausflüge und ermöglichten ihnen, dass sie mal raus kamen. Darüber hinaus übernahm 1974 der Caritasverband die Gemeinwesenarbeit und wurde der Aufgabenträger für die örtliche Sozialarbeit, Alten- und Kinderbetreuung sowie Hausaufgabenhilfe. Diese Investition hat sich gelohnt.

Die schöne und intensive Zeit am „Eulenkopf“ mit den Bewohner*innen werde ich nie vergessen. In dieser Zeit war ich bei Gitti und John zum Thanksgiving eingeladen, habe mehrmals bei Rosi und ihrem Hund Tipsi im Gästezimmer übernachtet, habe Familien- und Hundeportraits von den Bewohner*innen gemacht, habe Veggie-Wurst bei Edo im Garten gegessen und außerdem wurde ich von Gelas Papagei ins Ohr gebissen.

Die Fotografien werden voraussichtlich Anfang Mai in einem Fotokunstbuch beim Verlag Kettler veröffentlicht. Das Layout ist von Jonny Bauer, der auch Herausgeber ist. Aktuell läuft dafür ein Crowdfunding bei Startnext.

Informationen zum Buch

„Eulenkopf. Eine Wohnsiedlung“ von Merle Forchmann
Herausgeber: Jonny Bauer
Verlag: Kettler
Format: 18 x 23 cm
Seiten: 120
Bindung: Schweizer Broschur
Preis: 22,75 €

Ähnliche Artikel