14. Februar 2023 Lesezeit: ~12 Minuten

Zehn Jahre Backstage mit Martin Kohlstedt

Vor zehn Jahren begann Peter Runkewitz damit, den Thüringer Pianisten, Komponisten und Produzenten Martin Kohlstedt zu portraitieren. Bei über 300 Gelegenheiten entstanden seitdem intime Portraits auf und abseits der Bühne.

Nun erscheint ein erstes Buch aus dem Langzeitprojekt. Ich habe mit Peter darüber gesprochen und wollte wissen, wie er auf die Idee kam und warum das Projekt sich auch nach zehn Jahren für ihn noch nicht auserzählt hat.

Hallo, Peter. Gisbert zu Knyphausen, Faber und Käpt’n Päng: Du hast schon einige Musiker portraitiert und auf Konzerten begleitet, aber niemanden so lange wie Martin Kohlstedt. Wie kam es dazu?

Das Projekt mit Martin Kohlstedt begann bereits vor zehn Jahren. Damals hatte ich die vage Idee, dass ich einen Musiker langfristig fotografisch begleiten wollte. Nicht nur ein oder zwei Jahre, sondern wirklich lange. Mein Freund und Videokollege Marcus Grysczok wusste von dem Vorhaben und machte mich auf Martin aufmerksam, der damals kurz vor seinem ersten öffentlichen Solokonzert stand.

Das Konzert fand am 17. Februar 2013 statt. Ich bin etwa eine Stunde vor Konzertbeginn zu Martin gegangen und habe ihn angesprochen. Er war naturgemäß sehr nervös. Es war immerhin sein erster Soloauftritt! Aber er hat mir die Genehmigung gegeben, Fotos zu machen. So begann die Zusammenarbeit.

Klavier wird an einem Kran auf einen Balkon gehoben

Mann unter einer Plane am Klavier

Er wusste zu diesem Zeitpunkt aber noch gar nichts von Deinem langfristigen Plan?

Nein, tatsächlich nicht. Ich hatte das Wort „Langzeitdokumentation“ nur kurz erwähnt und die Fragezeichen in seinen Augen gesehen. Er hat direkt abgewunken und gesagt, ich solle jetzt erst einmal diese Show fotografieren und dann sehen wir weiter. Ich denke nicht, dass er verstand, was ich eigentlich von ihm wollte.

In den letzten zehn Jahren hat Martin Kohlstedt ein eigenes Label gegründet, fünf Alben veröffentlicht und es geschafft, sich in den ausverkauften, großen Saal der Elbphilharmonie in Hamburg hochzuspielen. Das alles war nicht vorhersehbar.

Absolut! In nur 43 Minuten die Elbphilharmonie auszuverkaufen – das war wirklich überraschend für alle. Es sind am Ende sogar mehr als nur fünf Alben, weil auch die Reworks dazu zählen. Aber ja, das ist alles richtig: Das konnte ich vorher nicht ahnen.

Ich hatte aber nach dem ersten Auftritt 2013 das Gefühl, dass Martin die Fähigkeiten und das Talent hat, sehr groß zu werden. Am Ende braucht es natürlich, egal wie talentiert und arbeitsam man ist, vor allem auch viel Glück. Das hatten wir.

Viele Schuhe in einem Flur

Auto beladen mit Cases

Vor allem auch Glück, dass es menschlich zwischen Euch gepasst hat. Ohne dieses Element wäre eine solche Dokumentation wohl kaum möglich gewesen, oder?

An diesem ersten Tag wussten wir natürlich noch nichts voneinander. Mittlerweile kann ich sagen, dass wir uns auch menschlich sehr gut verstehen. Nichtsdestotrotz waren die ersten ein bis zwei Jahre nicht immer einfach. Es war ein Kennenlernen von uns beiden und des Teams, das sich um Martin entwickelte. Sowohl menschlich als auch wirtschaftlich war der Beginn eine echte Härteprobe. Aber in dieser Zeit verstand Martin auch immer mehr, was das für ein Fotoprojekt ist und welches Potenzial darin liegt.

Ganz simple Dinge waren es am Ende, die die Bilder für ihn zu etwas Besonderem gemacht haben. Sei es das Foto des ersten Tourautos, in das mittlerweile nicht mehr alle Instrumente passen würden. Die Menschen, die Crewmitglieder und ihre Gesichter und Körper, denen man die vergangene Zeit ansah. Die zeitliche Entwicklung ist in den Bildern festgehalten und sehr wertvoll. Natürlich sieht man darin auch die Erfolgsgeschichte.

Wobei ich diese Erfolgsgeschichte in Deinen Bildern nicht sehe. Du hattest mir ja die größere Vorauswahl der Bilder gezeigt – das Buch wird etwas anderes erzählen.

Da hast Du völlig Recht. Im Buch geht es um den Oberbegriff „Backstage“. Damit meine ich nicht nur den Ort hinter der Bühne, sondern alles, was für das Publikum nicht live zu erleben ist: Die Proben zu Hause, die Aufnahmen zum Album und manchmal sogar der Urlaub.

Natürlich sieht man dazwischen auch einige dieser glorreichen Augenblicke, aber sie sind nur ein kleiner Teil im großen Ganzen. Ich wollte diese großen Bühnenmomente auch nicht so stark in den Fokus nehmen, denn die kennen die Menschen ja bereits! Das haben sie alles live gesehen und vielleicht sogar selbst fotografiert. Für mich sind die Momente dahinter viel wichtiger. Diese zeigen bei all dem Erfolg, dass dahinter eben auch noch ein Mensch steckt.

Wohnzimmerkonzert

Mann liegt auf dem Boden

Ich muss zugeben, dass ich Portraits von Pianisten am Flügel auch sehr langweilig finde. Mein Lieblingsbild von Martin ist tatsächlich ein ganz anderes: Da sitzt er an seiner Steuer, umringt von kleinen Stapeln aus Rechnungen. Darin erkenne ich mich wieder.

Da nennst Du ausgerechnet das eine Bild aus Hunderten, das die Öffentlichkeit nicht sehen wird. Vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren, aber nicht jetzt.

Kann man die Rechnungen in großer Auflösung etwa lesen?

Man kann auf jeden Fall sehr viele Logos auf den Rechnungen wiedererkennen. Es ist ein wunderschönes Bild, aber einfach zu sensibel. Es ist sehr interessant, dass Du gerade dieses Bild nennst. Über die Jahre hat sich ein enormes Vertrauensverhältnis zwischen Martin und mir aufgebaut. Das sieht man, denke ich, gerade in Bildern wie diesem.

Ich habe im Laufe der Langzeitdokumentation an die 200.000 Fotos gemacht. Darunter natürlich auch jede Menge Fehlschüsse. In der Vorauswahl für das Buch waren dann ein paar Hundert Bilder. Es gibt wirklich nur ein einziges Bild, das ich ganz persönlich bei Martin zur Freigabe angefragt habe: Das Steuerfoto.

Die Beschreibung Deiner Ausstellung und der Buchveröffentlichung beginnt mit einigen Fragen: „Wie empfindet ein Künstler, bevor er auf sein Publikum trifft? Was geschieht hinter der Bühne? Wie verändern sich das Selbst und das Umfeld im Laufe der Zeit?“ – Hast Du während des Projekts Antworten auf diese Frage gefunden?

Zum Teil kannte ich die Antworten schon vor dem Beginn. Bevor ich Fotograf wurde, war ich als Tourmanager aktiv. Ich kannte die Musikwelt recht gut und wusste, dass die meisten Musiker*innen auch nach Jahren noch Lampenfieber haben, bevor sie auf die Bühne gehen – und dass sie das auch brauchen.

Ich wusste aber auch, dass der Großteil des Publikums das Gefühl nicht kennt und es sich vielleicht auch nicht vorstellen kann. Gerade die letzte halbe Stunde hinter der Bühne ist unglaublich spannend. Da verschwindet die Crew nach und nach an die jeweiligen Arbeitsplätze. Der Tontechniker geht zum Mischpult, der Lichttechniker zum Lichtpult, der Tourmanager regelt letzte Fragen zum pünktlichen Anfang. Alle verschwinden und Martin ist allein.

Oft war ich die letzte Person, die noch mit ihm im Backstage saß und auf den Auftritt gewartet hat. Draußen ist dieser Raum voller Leute. Je größer der Raum ist und je mehr Leute da sind, umso größer ist auch der Druck. Inzwischen darf ich ihn in diesen Momenten fotografieren, teilweise bekommt Martin die Kamera auch gar nicht mehr mit. Er spielt in diesen Momenten die Situation durch: Wie er gleich auf die Bühne geht, spielt und sich verletzlich macht. Genau das ist es, was ich in meinen Bildern zeigen möchte.

Klavier wird repariert

Wie schafft man es, diese aufregende Atmosphäre in einem Foto festzuhalten?

Das klappt nicht immer. Der Trick ist für mich die Wiederholung. Nehmen wir als Beispiel den Soundcheck. Da sitzt Martin am Klavier und wir haben vorhin ja schon besprochen, dass dieses Bild vom Pianisten am Klavier schon tausend Mal existiert. Das fotografiere ich aber dennoch jedes Mal wieder. Manchmal ist es wirklich unglaublich langweilig und ich frage mich selbst, was ich da eigentlich tue.

Ich habe das alles schon gesehen und fotografiert, aber dann gibt es diesen einen kleinen Moment – manchmal nach Tagen, manchmal erst nach Monaten – da stellt man fest, dass man die Situation auf diese Weise noch nie gesehen hat. Das können neue Perspektiven sein oder auch nur ganz kleine Details, die plötzlich anders sind und etwas Besonderes und Neues zeigen.

Diese Momente der Spannung hinter der Bühne sind mitunter auch nur in Bruchteilen von Sekunden zu sehen. Oft war ich nicht schnell genug, um davon ein Foto zu machen. Die ersten Jahre war ich deshalb oft enttäuscht von mir. Inzwischen freue ich mich einfach, dass ich den Moment gesehen habe. Manchmal passt es perfekt zusammen und ich habe die Kamera genau im richtigen Moment vor dem Auge. Wenn dann noch das Licht stimmt, der Winkel – dann ist es perfekt.

Sicher ist nicht nur Martin über die Jahre in seiner Musik gewachsen, sondern auch Du mit Deiner Fotografie.

Ja, man wächst gemeinsam. Das geht gar nicht anders. Wenn nur einer von beiden wächst, dann könnte man nach einer gewissen Zeit nicht mehr zusammenarbeiten. Auch Reibung und Auseinandersetzungen sind wichtig. Ich musste mich fragen, ob ich zu dicht dran bin. Manchmal auch, ob ich zu weit weg bin. Ich musste herausfinden, wie ich solche Fragen anspreche. Auch an solchen Dingen wächst man.

Muss man als Künstler selbst zurücktreten, um andere Künstler portraitieren zu können?

Ich sehe mich selbst als Dokumentarfotograf und denke nicht, dass ich da in irgendeiner Form zurücktreten muss. Für mich ist es ein Kompliment, wenn mir im Nachhinein jemand sagt, dass er mich gar nicht wahrgenommen hat. Dann weiß ich, dass ich es richtig gemacht habe. Es geht dabei auch einfach nicht um mich.

Hast Du mit dem zunehmenden Erfolg von Martin auch mehr Druck für Deine Arbeit gespürt?

Ja, ich kann Dir gar nicht so einen konkreten Zeitpunkt nennen, aber die Konzerte wurden irgendwann größer und die Aufmerksamkeit stieg spürbar. Es war bald deutlich abzusehen, dass diese Geschichte erfolgreich wird. Wobei natürlich die Definition von Erfolg auch schwierig ist.

Aber ja, es gab Momente, die Druck verursacht haben und mich selbst mit einer gewissen Erwartungshaltung kämpfen ließen. Mein Vorteil war dabei immer, dass ich – bis auf ein paar Bilder in den sozialen Medien und auf Martins Webseite – keine richtig große Veröffentlichung hatte. Erst jetzt nach zehn Jahren kommen die erste Ausstellung und das Buch.

Wie ist das Buch aufgebaut?

Chronologisch. Da das ganze Projekt dokumentarisch gedacht war, macht eine klare zeitliche Abfolge für mich am meisten Sinn. Nur das erste und letzte Bild brechen jeweils diese Chronologie. Es brauchte einfach einen besonders schönen Ein- und Ausstieg.

Klavier wird auf die Bühne geladen

Schlafender Mensch in einem Auto

Warum hast Du Dich für schwarzweiß entschieden?

Das ist einfach meine ganz persönliche, fotografische Liebe. Ich finde die Ästhetik wunderschön. Ich mag dieses Abstrakte, das der Realität die Farben entzieht und damit das Auge zwingt, eher in Licht, Schatten und Formsprache die Informationen im Bild zu suchen. In Schwarzweiß geht es für mich mehr um die Motive selbst.

Wenn jemand dieses Interview liest und vorher Martin Kohlstedt nicht kannte, welches Lied sollte die Person als erstes hören?

Oha, schwere Frage. Bei Martin gehen in den Konzerten die Lieder ineinander über. Das macht es für mich nach wie vor schwer, genau zu wissen, welches Lied welches ist. Zumal er viel improvisiert und alle Lieder Songbezeichnungen mit drei Buchstaben haben. Aber ich sage jetzt einfach mal: AMS.

Informationen zum Buch

„Dazwischen“ von Peter Runkewitz
Seiten: 164
Einband: Hardcover, Fadenheftung
Maße: B: 16,75 x H 23,5 cm (Innenteil)
Verlag: Eigenverlag
Gesamtherstellung: Druckerei zu Altenburg GmbH
Gestaltung: Copa-Ipa
Preis: € 29
Bestellbar über den Fotografen, peter@runkewitz.com.

Informationen zur Ausstellung

„Dazwischen“
Zeit: 28. Januar – 17. März 2023
Midissage mit Buchpräsentation: 25. Februar 2023
Ort: Galerieräume des Kulturforums Haus Dacheröden, Anger 37, 99084 Erfurt

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