10. Januar 2023 Lesezeit: ~4 Minuten

Groteske Selbstportraits auf Polaroid

Das Groteske ist eine der großen Möglichkeiten genau zu sein. Es kann nicht geleugnet werden, dass diese Kunst die Grausamkeit der Objektivität besitzt, doch ist sie nicht die Kunst der Nihilisten, sondern weit eher der Moralisten, nicht die des Moders, sondern des Salzes. Sie ist eine Angelegenheit des Witzes und des scharfen Verstandes (darum verstand sich die Aufklärung darauf), nicht dessen, was das Publikum unter Humor versteht, einer bald sentimentalen, bald frivolen Gemütlichkeit. Sie ist unbequem, aber nötig. (Friedrich Dürrenmatt1)

Ich fotografiere seit einiger Zeit gern Selbstportraits, anfangs bedingt durch die sozialen Restriktionen des Lockdowns, heute aus praktischen Gründen: Ich arbeite gern allein. Ein weiterer, banaler Grund ist, dass mir Selbstportraits sehr viel Spaß machen.

Meine Fotos sind keine Selbstbildnisse, sondern Selbst-Inszenierungen, fotografierte Rollenspiele. Mithilfe von handgefertigten Kulissen und gebrauchten Requisiten baue ich mir eine kleine Bühne für mein absurdes Theater und schlüpfe in die Rolle eines mit dem täglichen „Wahnsinn“ und „Widersinn“ konfrontierten Menschen.

Es geht mir bei diesen Selbstinszenierungen nicht darum, mich in einem besonderen Licht darzustellen. Ich möchte mich nicht in für mich günstige Szenen setzen, Selfies machen und versuchen, andere damit zu beeindrucken. Ich möchte mit diesen Fotos meinen Blick auf die Welt zeigen, nachdenklich machen und – das ist mir sehr wichtig – ein Lächeln bei den Betrachter*innen bewirken.

Person mit Schraubzwinge am KopfPerson mit Pappwolke und Regentropfen

Die Themen meiner Aufführungen ergeben sich aus meinen Alltagserfahrungen bzw. aus den Krisen, mit denen unsere Gesellschaft derzeit konfrontiert ist und über die die Medien täglich berichten. Die drohende Klimakatastrophe, die Covid-Pandemie, die Folgen des Krieges in der Ukraine, die negativen Auswirkungen der Digitalisierung, unser Umgang mit der Natur und den Tieren, die Folgen der Globalisierung und die gesellschaftlichen Umbrüche liefern mir jeden Tag mehr Ideen, als ich fotografisch verarbeiten kann.

Da mir die aktuellen Entwicklungen auch Sorge bereiten, spiegeln die Fotos natürlich auch meine innere Auseinandersetzung mit den kommenden herausfordernden Zeiten wider. Sie zeigen manchmal auch meine Wut und Verzweiflung, weil trotz der auf den Tischen der politischen Entscheider*innen liegenden Fakten nicht das getan wird, was meines Erachtens getan werden müsste, um die Folgen der drohenden Umbrüche und Katastrophen abzumildern oder einen anderen Kurs einzuschlagen.

Person mit Fernseher vor dem Kopf

Einer meiner Wege, mit den eigenen Irritationen und negativen Gefühlen umzugehen, ist, diese fotografisch auf diese Weise spielerisch zu verarbeiten. Dabei habe ich nicht den Anspruch, die Realität oder das, was ich als Wirklichkeit wahrnehme, exakt nachzubilden. Ich möchte eine augenzwinkernde Distanz zu der von mir als belastend empfundenen Wirklichkeit schaffen. Das ermöglichen mir meine grotesken Inszenierungen mit grob und sichtbar zusammengebastelten Karton- und Pappkulissen sowie die ausgewählten Flohmarkt-Requisiten.

Die Groteske als Stilmittel erlaubt mir, durch Übertreibung das als absurd Empfundene meines Alltags auf humorvolle Weise abzubilden und mich und diese Erlebnisse weniger ernst zu nehmen. Ich möchte damit nicht die aufgegriffenen Themen bagatellisieren – die Krisen sind ernst und machen betroffen. Natürlich kann Humor nicht die Probleme der Welt lösen, aber er kann nach meinen Erfahrungen helfen, den Druck ein wenig herauszunehmen und damit Raum für eigene Bewältigungsstrategien und Handlungsmöglichkeiten schaffen.

Die Szenen dieser fortlaufenden Serie fotografiere ich auf Polaroid, weil der analoge Charme und der weiße Rahmen des Polaroids den abgebildeten Stücken etwas Nostalgisch-bühnenhaftes verleiht. Ich nehme Schwarzweißfilm, da er die Wirkung eines aus der Zeit gefallenen, absurden Theaters noch unterstreicht. Die „Bühne“ beleuchte ich mit Studiolicht, um vom Tageslicht unabhängig zu sein und um jederzeit meine Ideen umsetzen zu können.

Falls sich Leser*innen an die Arbeiten des deutschen Fotografen Martin Pudenz und des französischen Filmregisseurs Michel Gondry erinnert fühlen: Beide Künstler sind große Vorbilder von mir und ihre Fotos und Filme sehr inspirierend für mich.

1 Dürrenmatt, Friedrich: Theaterschriften und Reden. S. 137.

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