05. August 2022 Lesezeit: ~8 Minuten

Fotografie ist mein Weg, politisch zu sein.

Gesellschaftliche Strukturen formen unser Sein. Unser Da-Sein, unsere Interaktionen und unser Miteinander. Erste Vorlesung „Einführung in die Soziologie“. Die Welt, nicht vom Individuum aus, sondern von den Strukturen her zu sehen, war für mich eine ganz neue Form des Denkens. Diese Perspektive faszinierte mich, denn ich hatte die Gesellschaft so noch nie wahrgenommen.

Bis dato wurden alle meine Entscheidungen durch mich erklärt. „Ich muss nur mehr wollen, mehr lernen, schneller rennen, weiter denken, alles liegt in mir und vor allem liegt alles an mir.“ Erst Jahre später, durch den soziologischen Blick wurde mir klar, dass vieles, was ich wollte, von vornherein nicht erreichbar war.

In meiner Magisterarbeit ging es um Bildungsungleichheit. Um sozialen Ab- und Aufstieg. Eine erste Suche nach Antworten begann. Eine persönliche Reflexion über die Wirkung von Strukturen und Machthierarchien auf meine Bildungsbiografie. Warum fällt der soziale Aufstieg den einen Menschen so leicht und den anderen so schwer? Warum sind die einen da oben und die anderen da unten? Warum reproduzieren sich gesellschaftliche Stellungen von Generation zu Generation? Kapital. Habitus.

Wo gehöre ich hin? Der Gesellschaft war klar, wohin ich gehöre. Mein eigenes Versagen stand im Raum. Immer noch. Obwohl mir doch so vieles deutlicher wurde, schob ich mir die Schuld in vielen Dingen immer noch selbst zu. Denn ich hatte meine eigene strukturelle Verwobenheit nicht reflektiert. Und ja, einiges liegt wohl auch in meinem Handlungsspektrum. Ich bin weiß, cis, heterosexuell und habe trotz meiner Diskriminierungserfahrungen als polnische, weiblich gelesene Migrantin immer noch eine sehr privilegierte Stellung in dieser Gesellschaft.

Gekritzel an einem SpiegelGekritzel auf einem Bein

Als ich Mutter wurde, kam jedoch eine neue Diskriminierungsdimension hinzu. Und es traf mich schwer, denn ich hatte die Verschränkung der Diskriminierungsformen nicht erkannt. Ich suchte erneut die Schuld bei mir. Das Erfüllen der Mutterrolle. Die Erwartungen standen im Raum und ich neben ihnen. Erschöpfung, Angst und Konjunktiv gesellten sich mit an den Tisch. Gesellschaftliche Erwartungen gaben den Ton an.

Gesellschaftliche Strukturen, Rollen und Normen sind überlebensnotwenig für das Zusammenhalten von Gesellschaften, um Erwartungen, Rechte und Pflichten zu regeln. Strukturen geben uns Halt. Gleichzeitig haben sie mir den Boden unter meinen Füßen weggerissen.

Sie wurden ein Teil von mir. Sie waren es schon längst. Freund und Feind. In meinen 20ern konnte ich weglaufen – ja, Verdrängung ist ein Privileg. Wegsehen ist es auch. Heute kann ich nicht mehr wegsehen, denn es sind die Strukturen, in denen auch meine Kinder leben müssen.

Mutter mit Baby in Wasser

Nicht nur den Menschen zu fotografieren, sondern das ganze Umfeld, die Gesellschaft, die Strukturen, in denen wir leben. Ein Mensch ist nie nur ein Individuum, sondern immer auch die Struktur. Es ist die Verwobenheit. Und das möchte ich so gern auf meinen Bildern zeigen. Das, was wir sehen und gezeigt bekommen, prägt unser Sein und unser Denken. Deshalb möchte ich mit meinen Bildern aufzeigen, was ist und gleichzeitig auch dekonstruieren.

Ich möchte sichtbar machen, was unsere Gesellschaft und Politik unsichtbar macht und gleichzeitig versuche ich auch, neue Wege, Lebensrealitäten und Sichtweisen aufzeigen, mit dem Ziel, dass die Betrachtenden im besten Falle ihre eigene soziale Position reflektieren lernen, wissen, wo bestimmte Verhaltensweisen und Codes bei sich und bei anderen herkommen, einen bewussten Umgang mit den eigenen Privilegien kennen- und diverse Diskriminierungsformen anerkennen lernen.

Ein Kinderarm greift nach Licht an der WandBaby wird gestillt

Betroffenheit schafft Bewusstsein. Bewusstsein schafft Betroffenheit. Das ist es, was die Struktur mir abverlangt. Und das ist es, was ich auch meiner Fotografie abverlange. Es ist wichtig, dass mir diese Verwobenheit bewusst ist, denn nur so kann ich lernen, auch andere Menschen nicht mehr zu verurteilen. Vor allem im Sinne der Intersektionalität.

(Weiße) Privilegien spielen auch in der Fotografie eine große Rolle. Wer besitzt die Deutungshoheit über die Bilder, wer gibt Trends vor, wer kann sich zeigen und wer wird gezeigt? Wer kann sich Zeit nehmen für Kunst und Muße? Wer bekommt den Raum für die eigene Kunst und wer hat entsprechende Kontakte? Wie werden bestimmte Fotos gedeutet? Wer sind Betrachter*innen und zu Betrachtende?

Welche strukturellen Hierarchien gibt es? Reproduzieren wir strukturelle Ungleichheiten durch unsere Fotografie oder decken wir sie auf? Was macht der weiße Blick auf diese Welt? Welche Narrative haben dabei Vorrang oder werden als besonders schön gewertet? Welche Bilder werden auf Social Media gelikt und vom Algorithmus bevorzugt? Meist sind es große Geschichten und vermehrt kleinbürgerliche Ideale. Das sagt viel über uns und unsere Gesellschaft aus.

Frau im Hintergrund und Kinderfüße baumeln von oben

Ich habe mich immer nach Gerechtigkeit gesehnt und mich immer in meinem möglichen Rahmen politisch engagiert. Ich habe bis dato jedoch nie mein politisches Engagement mit meiner fotografischen Arbeit verknüpft. Sie liefen jahrelang nebeneinander her. Erst als ich Mutter wurde und Selbst- und Fremdbild so krass auseinanderklafften, sich strukturelle Ungleichheit und Erschöpfung die Hand gaben und ich das alles nicht mehr verdrängen konnte, hatte ich wohl auch keinen anderen Ausweg, als das Erlebte in meiner Fotografie zu verarbeiten und mich auch aktiv dafür einzusetzen, den Status Quo zu zeigen.

Es war wohl Flucht und Sprachrohr zugleich. Auch das eigene Erinnern und die Angst vor dem Vergessen bekamen eine immer größere Bedeutung für mich, einfach weil ich Kinder hatte und meine Vergänglichkeit mehr wahrnahm als zuvor. Hier liegt auch aktuell der Fokus meiner fotografischen Arbeit. Fotografie bedeutet für mich, „Zeitzeugin“ sein. Mein Weg, politisch zu sein. Denn Mutterschaft ist sehr politisch.

Aus diesen Gedanken heraus entstand auch die Idee zu Faces of Moms. Die Verbindung meiner Themen, Sichtbarkeit, strukturelle Ungleichheit und Mutterschaft als politische Kategorie. Bei „Faces of Moms“ als auch in unserem Buch „Bis eine* weint!“ geht es vor allem darum, für strukturelle Ungleichheiten gegenüber Müttern und Menschen mit Erziehungsverantwortung in unserer Gesellschaft und den Wert von Pflegearbeit zu sensibilisieren.

Portrait im Zimmer
Frau mit Kind auf dem Arm

Faces of Moms © Natalie Stanczak

Über meine Fotografien und individuelles Storytelling – Interviews mit Müttern und Menschen mit Erziehungsverantwortung, die von ihren täglichen (oft unsichtbaren) Herausforderungen berichten – strukturelle Ungleichheit sichtbar, versteh- und nahbar zu machen, für Betroffene und vor allem auch für nicht betroffene Menschen. Denn solange das Wissen darüber nicht vorhanden und der Status Quo über strukturelle Ungleichheit nicht anerkannt ist, wird es auch keine gesellschaftliche Änderung geben.

Ich wählte den Zugang der dokumentarischen Familienfotografie, denn die erlaubt mir genau das. Erlebtes in die Gegenwart zu holen und soziale Missstände sicht- und erfahrbar zu machen. Auch für mich selbst. Die Verbindung aus Soziologie und Fotografie hilft mir dabei, meine Lebenswelt und Alltagsgeschichten für mich selbst, für meine Kinder und viele weitere Generationen sichtbar und wieder erlebbar zu machen.

Person von Kleidung bedecktFrau mit Baby auf einem Bett

Aus einer Szene auf einem Bild kann eine Gesamterinnerung, ja eine Erkenntnis werden. Aus einer Erinnerung an das eigene Zimmer kann eine Erinnerung an ein Ritual aus der Kindheit werden. Und das wiederum zeigt unsere Gesellschaft, in der wir leb(t)en. Das Foto als Auslöser für den Erinnerungs- und Erkenntnisprozess.

Manche Bilder bekommen auch erst im Nachhinein eine besondere Bedeutung. So geht es mir zum Beispiel mit meinen Schwangerschafts- und Wochenbettbildern. Ich habe nur ganz wenige Bilder aus dieser Zeit und fühle erst jetzt ihre besondere Bedeutung für mich. Ich kann durch sie verarbeiten, reflektieren, nachfühlen und auch irgendwie Frieden mit mir schließen. Mit mir als Person, meinem Körper, meinem vergangenen Ich. Das ist sehr schön. Denn das hat wiederum Auswirkungen auf meine Gegenwart und Zukunft. Diese Art der Fotografie hat für mich alles verändert.

Informationen zur Ausstellung

Fotoausstellung mit Bildern von Natalie Stanczak
Zeit: 23./24. September 2022
Ort: Stadtteil- und Familienzentrum Olly West, Hasenbergstr. 70 A, 70176 Stuttgart
Lesung und Gespräch zu den Themen Elternschaft, Gleichberechtigung, Vereinbarkeit und Metal Load am 24. September 2022, 14 Uhr.
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