Cyanotypie einer Spielkarte auf einer Baumscheibe
08. Juni 2023 Lesezeit: ~13 Minuten

Über das Phänomen des Spiels

In meiner Laufbahn als Kunstkritiker und Medienkünstler habe ich eine Vielzahl zeitgenössischer Kunstschaffender kennengelernt. Einige tauchen nur bruchstückhaft an meinem Horizont auf und bleiben nicht lange in meinem Gedächtnis, andere provozieren eine intensive Reflexion über ihr Werk.

Ich kann mich nicht darüber irren, dass der Fotograf Žilvinas Kropas aus Panevėžys zu letzterer Gruppe gehört. Er überrascht mich immer wieder. Ich verfolge seine künstlerische Arbeit seit einigen Jahren und habe mich in mehreren kritischen Texten dazu geäußert.

Ich gehöre zu den Glücklichen, die als erste die Fotografien von Žilvinas zu sehen bekommen. Jedes Jahr schafft der umtriebige Künstler mehrere unglaublich ausdrucksstarke Werkreihen. Für die Umsetzung seiner Ideen wählt er dabei oft alte experimentelle Fotografietechniken. Vielleicht betrachte ich Žilvinas Kropas deshalb als einen Kenner der alten Techniken, der sie meisterhaft für die Widerspiegelung der zeitgenössischen Realität zu adaptieren weiß.

Cyanotypie einer Spielkarte auf einer Baumscheibe

Der Künstler versteht die Eigenschaften der chemischen Materialien, die bei der Herstellung analoger fotografischer Bilder verwendet werden, sehr gut, aber er ist auch sehr mutig in seinem Experimentieren mit dem Abbild der Realität als Spur der realen Existenz. Indem er diese Spuren-Bilder auf verschiedene, unerwartete Oberflächen aufbringt, hinterlässt der Fotograf auf diese Weise selbst auch Spuren seiner eigenen Existenz in der Gegenwart.

Bei näherer Betrachtung der Werke von Žilvinas Kropas wird deutlich, dass der Künstler mit seinen Experimenten nicht nur die Grenzen der Fotografie als Kunst ausweitet, sondern auch das Potenzial ihrer Erneuerung provoziert. Er schafft seine eigene Sprache, die nur schwer mit den Werken anderer litauischer Fotografen zu verwechseln ist. Indem er die alten Techniken anwendet, entdeckt der Künstler neue Eigenschaften konventioneller Materialien.

Das Experiment ermöglicht es, die Geschichte der Fotografie zu neuem Leben zu erwecken und die aktuellen Themen der Gegenwart aus einer ungewöhnlichen Perspektive zu betrachten. Schließlich nimmt Žilvinas Kropas eine qualitative Revision der Geschichte der Fotografie vor. Die visuelle Geschichte respektiert er dabei nicht nur – schon die Geste der Revision erlaubt es, den Urheber einen Archäologen der Medien zu nennen.

Cyanotypie einer Spielkarte auf einer Baumscheibe

Sein diesjähriger experimenteller Zyklus „Invisible Games“ war für mich besonders überraschend. Bei der Erkundung der Anwendungsmethoden der Cyanotypie-Technik wählte der Künstler Scheiben eines Baumstamms als Oberfläche für seine Bilder und druckte die Bilder von Spielkarten auf die hölzerne Seite. Einige sind deutlicher sichtbar, andere sind verblasst und scheinen fragmentarisch, zufällig gedruckt zu sein.

Die kraftvolle visuelle Wirkung wird durch harmonisch eingesetzte Mittel erreicht: Eschenahornholz, Lebensmittelgelatine, chemische Zusätze für die Cyanotypie, Solarium, Wasser, Negativ und Sonnenlicht. Bevor ich mit einer detaillierteren Analyse des Werks beginne, bei denen die philosophische, assoziative Ebene für mich am interessantesten ist, möchte ich ganz kurz die wichtigsten Fakten aus der Biografie des Künstlers nennen.

Žilvinas Kropas lebt und arbeitet in Panevėžys und ist ein aktiver Pädagoge sowie Schöpfer experimenteller, alternativer Fotografie. Seit 2017 ist er Mitglied der Gabrielė’s Art Gallery in Kaunas und seit 2012 Mitglied der Panevėžys Photographers’ Society. 2019 wurde ihm vom litauischen Kulturministerium der Status eines Kunstschaffenden verliehen und 2020 wurde er Mitglied des Litauischen Fotografenverbandes. Seit 2012 sind die experimentelle Kunstfotografie und ihr kreativer Prozess zu seiner zentralen Beschäftigung geworden. Das ist seine Sicht darauf:

[…] die alternative Fotografie ist das herausragende Merkmal meiner kreativen Arbeit. Ich wende in meinem Schaffen die Techniken der Lochkamera, des Chlorophyll-Prozesses, der Solargrafie, des Lumenogramms und der Cyanotypie an. Ich kehre zu den Geheimnissen der ursprünglichen Fotografie zurück, zu den kompliziertesten Prozessen der fotografischen Kreation.

Cyanotypie einer Spielkarte auf einer Baumscheibe

Von 2018 bis 2022 hatte der Künstler acht Einzelausstellungen in Vilnius, Panevėžys, Biržai und Anykščiai. Von 2016 bis 2022 hat er an zehn Gruppenausstellungen in Litauen, Ecuador, Guatemala, Mexiko, Argentinien, Vietnam, Südkorea, Polen, Kolumbien und Großbritannien teilgenommen. Über die kreative Arbeit von Žilvinas Kropas wurde in der internationalen Presse ausführlich berichtet.

Wenden wir uns nun einer detaillierten Analyse der Kunstwerke zu. Die neue Serie von Žilvinas Kropas aus dem Jahr 2022 kann als gezielter Versuch betrachtet werden, das Phänomen des Spiels mit den Mitteln der bildenden Kunst zu reflektieren. Diese Reflexion ist keineswegs eindimensional.

Einerseits stellt uns der Künstler durch die Ergebnisse seines Schaffens rhetorisch die Frage, woher das Bedürfnis nach dem Phänomen des Spiels kommt. Andererseits wendet er sich durch das Schaffen von Kunst an die menschliche Kultur. Drittens sieht er das Spiel auch in der Natur – der natürlichen Umgebung, die uns umgibt.

Cyanotypie einer Spielkarte auf einer Baumscheibe

So ist das einzigartige Thema auch von den Elementen des Spiels inspiriert, die der Künstler in der Umgebung, bei alltäglichen Ritualen und sogar in der Natur beobachtet hat. Ist es nicht so, dass wir, während wir versuchen, die Natur zu überlisten, oft gleich mehrere Spiele mit ihr spielen? Das ist oft dann der Fall, wenn wir denken, dass wir als Anführer dieses Spiels agieren und im Buch des Schicksals als Gewinner vermerkt sind. Žilvinas Kropas hat dazu kühne Gedanken:

[…] im Vertrauen auf die Vernunft und den Fortschritt spielt der Mensch ein Spiel mit der Natur, oft verwegen und mit offenen Karten, manchmal aber auch heimlich und versteckt im Verborgenen.

[…] in einer Konfrontation mit der Natur auf kurze Distanz kann man den Eindruck gewinnen, dass der Mensch gewinnt. Aber in der Langzeitdistanz, in der Verlängerung der Realitätsveränderungen ist der Mensch dazu bestimmt, zu verlieren […], es ist immer die Natur, die die Ordnung der Dinge regelt.

Sowohl das Schicksal als auch die Natur sind also spontane Phänomene, die sich der Kontrolle entziehen. Sie arbeiten beide Hand in Hand. Die Geschichte zeigt, dass die Natur ein mächtiger Organismus (oder ein organisches System) ist, der uns immer wieder überlistet.

Cyanotypie einer Spielkarte auf einer Baumscheibe

In seiner neuen Serie regt Žilvinas Kropas dazu an, darüber nachzudenken, wie viele spielerische Elemente wir in unserer Umgebung vorfinden, wie wichtig das Spiel für unsere täglichen Rituale ist und wie wir es zur Selbstdarstellung nutzen (denn Schöpfung ist sowohl Selbstdarstellung als auch ein Spiel), wie wir unseren Platz in der Natur definieren und spielerisch kommunikative Verbindungen herstellen.

Žilvinas Kropas beherrscht die Mittel der experimentellen Fotografie perfekt und führt uns vor Augen, dass der Wunsch nach Spiel und Überleben in der menschlichen Natur liegt. Während des Spiels erschaffen die Subjekte ihre individuellen Welten, bilden eine logische Handlungsstrategie und artikulieren (also erklären) diese präzise.

Diese Faktoren können unterschiedlich sein. In der Regel sind sie sehr gewagt. Die Abenteuerlust ist eines der wesentlichen Elemente für die Lebendigkeit eines Spiels. Der Mensch als Spieler*in (homo ludens), erklärt, ähnlich wie Kinder, sich selbst und seinen Mitmenschen die Lebenswelt.

Das Spiel ist für einen erwachsenen Menschen insofern von Bedeutung, als es Kreativität und Einfallsreichtum fördert. Davon sprechen die experimentellen Spiele von Žilvinas Kropas, die mit verschiedenen fotografischen Techniken realisiert wurden.

Cyanotypie einer Spielkarte auf einer Baumscheibe

Die Bedeutung des Spiels in der Kultur zeigt sich in der Geschichte der Olympischen Spiele. Im antiken Griechenland waren Spiel, Religion und Kultur auf besondere Weise miteinander verbunden und untrennbar. Olympische Spiele und Theateraufführungen waren keine gegensätzlichen Bereiche der Unterhaltungskultur, sondern versöhnten sich durch das Spiel um brisante Situationen.

Das heißt, diese Bereiche standen sich nicht gegenüber, sondern dienten der Darstellung der menschlichen Natur, der Verbindungen zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Götter sowie der Interaktion der Gesellschaft innerhalb der Kultur; sie versöhnten sogar die Kultur mit der Natur.

Eine zweideutige Bewertung des Spiels findet sich im Text „Playing the Devil“ von Eustachius Schild, der im 16. Jahrhundert (1561) veröffentlicht wurde. Die Publikation erreichte ein breiteres Publikum zu einer Zeit, als die Hexenverfolgung in Europa noch im Gange war. Der Autor des Buches analysiert die Besonderheit des Spiels mit dem Herrn der Hölle.

Cyanotypie einer Spielkarte auf einer Baumscheibe

Das Verbot von Spielen in Westeuropa hing mit den religiösen Lehren zusammen. Sie behinderten die Entwicklung der Spielindustrie bis ins 19. Jahrhundert. Bis dahin wurde das Phänomen des Spiels in Westeuropa häufig mit dem Begriff der Sünde in Verbindung gebracht. Dabei wurden drei charakteristische Merkmale der Sünde unterschieden, die als Leitbegriffe für das Spiel selbst dienen können:

Erstens ein Vergnügen; zweitens ist eine spielerische Aktivität eine Methode, um dem täglichen Leben und seinen Leiden sowie der sozialen Ungleichheit zu entfliehen; drittens erlaubt das Spiel, andere Menschen als Verschwörer in die eigene Sünde zu verwickeln. All diese Merkmale, die für Sünde und Spiel charakteristisch sind, sind auch für das künstlerische Schaffen relevant.

Die frühe kreative Funktion des Spiels wurde durch das Erstellen und Versenden von Postkarten erfüllt. Später wurden Karten-, Schach- und Damespiele populär. Bereits dieser kurze historische Exkurs zeigt, dass das Spiel einen wichtigen kulturellen Wert und eine Bedeutung für das künstlerische Schaffen hat.

Cyanotypie einer Spielkarte auf einer Baumscheibe

Analysiert man das Schaffen von Žilvinas Kropas als Spiel im Hinblick auf die Konsument*innen seiner Kunst, so wird deutlich, dass in den Bildern die (oben erwähnte) negative Einstellung zum Spiel verschwindet. Ich betrachte das Schaffen dieses Künstlers also nur deshalb als ein positives Spiel, weil er im Umgang mit den experimentellen Ausdrucksmitteln und auf der Suche nach visueller Wirksamkeit seine eigene Welt und ihre Zeit produziert und pflegt. Dieser Gedanke ist von der selbstanalytischen Reflexion des Künstlers diktiert worden:

[…] wenn ich meine neue Serie betrachte, kehre ich mit meinen Gedanken und Gefühlen wieder in meine Kindheit zurück, wo alles wunderbar perfekt und schön schien und gleichzeitig trete ich auch in ein eigentümliches Märchenland ein. […] Leider ist es unmöglich, die Eindrücke der Vergangenheit zu reproduzieren, auch wenn wir (Menschen) immer wieder in die Vergangenheit zurückkehren wollen, um ihre Strukturelemente zu berühren […].

So sind die von Žilvinas Kropas geschaffenen Kartenbilder als Metapher für ein Spiel zu verstehen. Keinesfalls sollte die neue Serie als eine visuelle Analyse von Spielkarten betrachtet werden. Eine solche Erklärung wäre banal und oberflächlich, würde den philosophischen Bereich des künstlerischen Werks herabsetzen und die Möglichkeiten der Interpretation deutlich einschränken.

Cyanotypie einer Spielkarte auf einer Baumscheibe

Das Bild, das aus der Verbindung von Cyanotypie und Holztexturen entsteht, sieht aus wie ein Artefakt, das den anstrengenden und spontanen Akt der Vernichtung bereits überlebt hat. Die von Kropas geschaffenen Bilder sind nicht unversehrt, einige sehen aus, als seien sie durch die Druckmaschine oder unkontrollierte chemische Prozesse beschädigt worden. Obwohl der Eindruck eines Unfalls nicht streng artikuliert wird, ist er in den Händen des Künstlers doch absichtlich und zielgerichtet.

Žilvinas Kropas zeigt uns, dass Karten in seinem Werk eine Metapher für die Kultur der Vergangenheit und gleichzeitig eine Metapher für das Archiv der Spielkultur darstellen. Karten sind wie eine Spur der Vergangenheit. Diese meine Beobachtung erlaubt es, sich der Philosophie des französischen Poststrukturalisten Jacques Derrida zuzuwenden, in der das Konzept des Archivs auf eine ungewöhnliche Weise reflektiert wird.

Im Wesentlichen kann man behaupten, dass das Archiv das ist, was wir aus Referenzen und Fragmenten (im Fall von Kropas sogar aus den Überresten von Drucken) erneuern, wiederherstellen und zusammenkleben müssen. Für jeden von uns mag sich das Archiv auf eine andere Weise öffnen. Für den einen mag es kalt sein und wenig Assoziationen wecken, für den anderen sehr heiß und die Fantasie anregend. Auf diese Weise führt das Archiv zur Reflexion der tiefsten und vielfältigsten kulturellen Schichten.

Cyanotypie einer Spielkarte auf einer Baumscheibe

Da der in den Werken von Kropas ausgedruckte Gegenstand sehr einfach ist, wirkt die Einfachheit wie eine Mauer, die Assoziationen blockiert. Wir müssen sie durchbrechen und etwas erfahren, das nicht leicht erfahrbar ist, nicht klar artikuliert werden kann. Wir müssen etwas erleben, das jenseits der Visualität liegt. Erst dann öffnet sich das lebendige und heiße kulturelle Archiv.

Am Ende dieses kritischen Essays möchte ich erwähnen, dass ich wirklich großes Vergnügen empfinde, wenn ich über das kreative Werk von Žilvinas Kropas schreibe – einem talentierten Künstler, Experimentator (und, so wage ich zu behaupten, einem Philanthropen der Fotografie). Ich hoffe, dass auch die Rezipient*innen beim Lesen dieses Textes und bei der Begegnung mit seinem einzigartigen künstlerischen Werk in Kunstausstellungen ebenfalls Freude empfinden.

Abschließend möchte ich wiederholen, dass jede Serie von Žilvinas Kropas wie eine Tür zu einem Archiv der Kultur der Vergangenheit ist. Wir reisen dorthin, indem wir mit Assoziationen, realen und imaginären Bildern spielen und nach Bedeutung in künstlerischen Werken, aber auch in uns selbst und unserer Kultur suchen. Doch wird die Bedeutung unerwartet hervorspringen, wenn wir uns in einem experimentellen Spiel der Kunst wiederfinden!

Dieser Artikel wurde für Euch von Redakteurin Aileen Wessely aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

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