Botanische Studien und historische Exkurse
Die außergewöhnliche kreative Handschrift von Žilvinas Kropas ist für die meisten sichtbar geworden, die die litauische Fotografie bewundern. In seiner Serie „Embodied Extinction“ kehrt der Künstler zu den Ursprüngen der alten, einfachen fotografischen Techniken zurück und wirft die Frage nach den Ursprüngen der Fotografie auf.
Bevor ich mit einer eingehenden Analyse des kreativen Werks beginne, möchte ich die wichtigsten Fakten aus der Biografie des Künstlers nennen. Žilvinas Kropas ist ein Pädagoge und Schöpfer alternativer Fotografie, der in Panevėžys lebt und arbeitet. Seit 2012 ist er Mitglied der Panevėžys Photography Association, seit 2017 wird sein Werk von der „Art Gallery of Gabrielė“ (Kaunas) vertreten. 2019 wurde ihm vom litauischen Kulturministerium der Status eines Kunstschaffenden verliehen und 2020 wurde Žilvinas Kropas Mitglied des Litauischen Fotografieverbandes.
Der Künstler organisiert Einzelausstellungen seiner Werke und nimmt auch aktiv an Gruppenausstellungen teil; seine Fotografien wurden in Litauen, Polen, dem Vereinigten Königreich, Südkorea, Vietnam, Argentinien, Chile, Mexiko, Belarus und weiteren Orten ausgestellt. Über das Schaffen von Žilvinas Kropas wird in der Kulturpresse Litauens, der USA, Frankreichs, Spaniens, Mexikos usw. ausführlich berichtet.
Der Fotozyklus „Embodied Extinction“ spricht die Betrachter*innen an, indem er die Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit der Welt hinterfragt. Die Fotografien zeigen Abzüge von Pflanzen, die der Künstler selbst metaphorisch mit Landkarten vergleicht:
[…] das Blatt einer Pflanze, das als Karte präsentiert wird, ist eine bewusste Entscheidung. Es ist ein Material, das perfekt den Zyklus des Lebens, die Veränderungen von Zeit und Raum widerspiegelt. […] Die Blattkarte symbolisiert die Natur, deren Veränderung man sich nicht entziehen kann. [1]
Karten entstehen vor allem aus dem natürlichen Bedürfnis, Grenzen zu markieren, die uns helfen, die Identität der Umwelt oder unsere eigene Identität innerhalb bestimmter, sich verändernder geografischer Koordinaten zu definieren.
Die von Žilvinas Kropas geschaffenen Blätterdrucke regen zu einer romantischen Reflexion über das menschliche Bedürfnis an, die Meeresströmungen, die Unterwasserfelsen, die Konturen der Küsten, das Flachland und das Hochland zu markieren. Karten zeigen die Notwendigkeit, Dinge zu markieren, die mit menschlichen Aktivitäten zu tun haben. Wie Adam Sikora (geb. 1960) es ausdrückt:
[…] die grafische Darstellung ist nicht wichtig, um ein geheimes Wesen des Seins zu erkennen, sondern um die Welt in die Hand zu nehmen und sie zu überwinden, damit sie die menschlichen Bedürfnisse befriedigen kann.[2]
Die visuelle Studie der Pflanzenblätter, die Kropas durchführt, ist also wie eine Landkarte der Vergangenheit, die wir (ähnlich wie die meisten anderen Kunstwerke) intuitiv lesen, ohne nach Logik zu suchen.
Anspielungen auf Landkarten provozieren eine Diskussion über den grafischen Ausdruck von Kommunikation, die im zeitgenössischen Bereich des Informationsdesigns stark ausgeprägt ist. Informationsgrafiken können als Übermittlung von Informationen mit anschaulichen künstlerischen Mitteln wahrgenommen werden. Eines ist klar: So interessant Informationen auch sein mögen, die Menschen verstehen sie besser und schneller, wenn sie visuell umgesetzt werden.
Auf diese Weise entstehen universelle grafische Symbole und die Traditionen der grafischen Darstellung entwickeln sich allmählich. Wenn wir also über die Strategie der künstlerischen Sprache von Žilvinas Kropas nachdenken und seinen neuen Werkzyklus betrachten, können wir uns dem Konzept der Kartierung zuwenden.
Vor allem Kropas’ Drucke von Pflanzen (insbesondere Blumen) verdienen die besondere Aufmerksamkeit der Betrachter*innen. Die wesentliche Frage dabei ist: Warum faszinieren uns die Bilder von Pflanzen? In natürlichen Lebensräumen ist die Funktion der Pflanzenblüte rein reproduktiv. Im Laufe der Milliarden Jahre ihres Bestehens haben sich mehr als 400.000 Arten von Blütenpflanzen entwickelt. Sie konkurrieren untereinander und ziehen mit unterschiedlichen Farben, Formen und Düften die Aufmerksamkeit der Insekten auf sich.
In der menschlichen Kultur dienen Blumen dazu, Gefühle auszudrücken, das emotionale Gleichgewicht zu fördern und den Eindruck von Wohn- oder anderen Räumen zu verbessern. Pflanzen werden auch zur Herstellung von Parfüm, Medikamenten und Lebensmitteln verwendet. Am interessantesten ist jedoch die Tatsache, dass einige Blumen und ihr gesamtes Blattwerk aufgrund ihrer Form, ihrer Farbe und ihres Duftes an essbare Früchte erinnern. Das ist es, was unsere Faszination für Pflanzen ausmacht, auch für jene, die auf den fotografischen Bildern von Kropas abgebildet sind.
Der Physiker David Deutsch (geb. 1953) ist der Meinung, dass die Bewunderung für Pflanzenstrukturen durch die objektive Kategorie der Schönheit bedingt ist.[3] Das heißt, die Betrachter*innen werden von der Harmonie der Farben, den Formen der Blätter und ihrer fraktalen Struktur angezogen.
Obwohl Pflanzen individuell wahrgenommen werden, regen ihre Bilder zur Schaffung von kulturell-sozial engagierten Zeichen an, die über Kunstwerke verbreitet werden. Seit Hunderten von Jahren haben Künstler die symbolischen Bedeutungen verschiedener Pflanzenformen herausgearbeitet und die Bedeutung einer bestimmten Pflanze in der bildenden Kunst immer wieder überprüft und umgestaltet.
Die methodische und konsequente Kunstsprache von Žilvinas Kropas, die er über mehrere Jahre hinweg entwickelt hat, bestätigt das Phänomen des Herbariums. Bemerkenswerterweise legt der Künstler jedoch keinen besonderen Wert auf dieses Konzept. Herbarien gehören zu den botanischen Studien.
Die ältesten botanischen Illustrationen stammen aus dem ersten Jahrhundert vor Christus. Der griechische Physiker Krateuas war der erste, der begann, Bilder von Pflanzen in präzisen Details zu zeichnen. Diese Praxis wurde im Mittelalter und in der Renaissance fortgesetzt und perfektioniert. Das reichhaltigste Erbe botanischer Studien stammt aus der Zeit von 1750 bis 1850.
Diese Zeit gilt als das goldene Zeitalter der botanischen Illustration. Die berühmtesten Autoren sind Joseph Banks (1743–1820) und Pierre-Joseph Redouté (1759–1840). Sie bereisten die Welt und registrierten jede Pflanze, die sie sahen, studierten die Pflanzen auf wissenschaftliche Weise und stellten die neu entdeckten Arten bei ihrer Rückkehr nach Europa vor.[4]
Die Essenz der botanischen Illustrationen, auf die Žilvinas Kropas zurückgreift, ist ein einzigartiges Bild jeder einzelnen Pflanze. Im Gegensatz zu den Klassikern der Herbarien versucht der Künstler jedoch nicht, die Mängel der Blätter (Falten, Löcher usw.) zu beseitigen. Wie die Künstler des 18. und 19. Jahrhunderts studiert Kropas eine Vielzahl von Pflanzenmustern, die er aufmerksam in fotografischen Bildern festhält, die die Typologie der pflanzlichen Transformation formulieren und auf diese Weise eine eigentümliche Kartografie von Zeit und Raum schaffen.
Auf diese Weise verschränken sich in den Arbeiten von Žilvinas Kropas Raum und Zeit, Stabilität und Fragilität wie in Landkarten. In Anlehnung an Edmund Husserl (1859–1938) kann man behaupten, dass die Fotografie zeigt, dass die Zeit, die vom Bewusstsein rationalisiert wird, nicht dieselbe Zeit ist, in der es lebt.[5] Die Fotografie ermöglicht es uns, in zwei Räumen gleichzeitig zu sein – dem des Bildes und dem der Realität.
Kropas’ Fotografien zeigen die Abdrücke von Pflanzen, die in einer früheren Realität existierten. In Anlehnung an die Theorie von Jacques Derrida (1930–2004) kann man behaupten, dass die Bilder der Pflanzen sich von einer Vergangenheit abzuspalten scheinen, in den Abzügen verbleiben und sich in unsere Zeit und unseren Raum einfügen.[6]
Die Arbeiten von Kropas sind wie ein bewusstes, visuelles und intellektuelles Spiel von Sein und Nichtsein. Die Fotografie hingegen registriert alles wie ein wissenschaftlicher Tatsachenbericht, in dem wir ehemals lebendigen Strukturen begegnen, die sich nicht mehr verändern können.
Fotografische Bilder präsentieren alles auf eine andere Weise als Erinnerungen, die in Bezug auf Raum und Zeit beliebig geformt werden können. Fotografien lassen die Zeit der Vergangenheit im Moment der Gegenwart wieder aufleben.
In diesem kreativen Zyklus von Žilvinas Kropas spielt die Fotografie die Rolle einer Art Zeitmaschine – sie lässt eine andere Epoche wieder aufleben und überträgt sie in die unsere, auch wenn wir uns wieder unseren Leben und ihren einzigartigen Verläufen zuwenden.
Die Bilder zeigen alles, was in der Realität und gleichzeitig in der Natur wahrgenommen wird. Die Objekte und Formen in der Realität scheinen zu fließen und nach Platon gibt es keine primären Materialien, die sich der Teilung und Bildung neuer Objekte widersetzen würden. Jostein Gaarder (geb. 1952) formuliert dies wie folgt:
[…] Absolut alles, was zur „materiellen Welt“ gehört, besteht aus einem Material, das der Lauf der Zeit zersetzen kann.[7]
Die Fotografie beweist uns, dass der Raum wie eine Ansammlung von Atomen existiert, die sich ständig bewegen, zusammenstoßen, sich vereinigen und wieder trennen.[8] Die Fotografie bringt die Zeitlichkeit zum Stillstand und beweist gleichzeitig ihre Existenz.
Obwohl Walter Benjamin (1892–1940) behauptete, dass die Fotografie als eine Form der mechanischen Reproduktion die Aura eines Kunstwerks zerstört[9], hat er den technologischen und ästhetischen Wandel der Fotografie nicht vorausgesehen, bei dem zeitgenössische Künstler*innen nach der Aura der Fotografie fragen würden.
Paradoxerweise bin ich jedoch davon überzeugt, dass Žilvinas Kropas’ Rückkehr zu den alten fotografischen Techniken in gewisser Weise eine Rückkehr zur Frage ist, was die wahre Aura der Fotografie ist. Auf diese Weise ist es eine Rückkehr zur objektiven Realität, die sich wie selbstverständlich durch die menschlichen Sinne erschließt.
Die objektive Realität scheint getrennt zu existieren, aber die Fotografie verbindet sie ganz intuitiv mit uns. In diesem Fall ist die Welt nicht nur eine Gesamtheit von sinnlichen Erfahrungen. Im Gegensatz zur Mehrheit der zeitgenössischen Kulturkonsument*innen zeigt Žilvinas Kropas, dass er sich um den Beitrag früherer Generationen zur visuelle Erzählung kümmert, um das Verhältnis zwischen Form und Inhalt, das sich durch die Beherrschung der Technik und der Bildgestaltung offenbart.
Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Kropas sich von der Fotografie zurückzieht, die sich der allgemein akzeptierten populären Codes bedient, wo Bilder versuchen, so viel Popularität wie möglich zu erlangen. An dieser Stelle sei an Guy Debord (1931–1994) erinnert, der Popularität mit Macht und industrieller Produktion von Bildern in Verbindung brachte; er glaubte, dass die Notwendigkeit, nach kommerziellem Erfolg zu streben, eine*n Künstler*in zu einer Marionette der Bildindustrie macht.[10]
Zweifellos ist die künstlerische Arbeit von Žilvinas Kropas sehr tiefgründig. Mit Hilfe der Fotografie kehrt der Künstler zur Frage der Identität zurück. Er bringt uns dazu, eine Fotografie zu betrachten und nach dem „Dasein“[11] zu fragen: Was ist hier abgebildet, was nimmt hier teil, was bleibt hier und was ist bereits von der Vergangenheit usurpiert?
Žilvinas Kropas’ selbstanalytische Einsichten[12] besagen schließlich, dass die auf den fotografischen Flächen gezeigten Bilder von Blättern metaphorisch die Zeitweiligkeit der Welt, der Staaten, der Städte auf die Probe stellen, wobei sich schließlich die Welt selbst als ein bloßer vorübergehender Halt erweist.
Die Vergänglichkeit wird durch den magischen Prozess der Chlorophyllfotografie eingeleitet, bei dem sich das Bild in die Pflanze zu versetzen scheint und es ohne Kamera, ohne die übliche Fotochemie und ohne Fotopapier übernimmt. So verbleibt die Fotografie selbst irgendwo jenseits des Fotos. Da nicht alle Pflanzen Fremdkörper in sich hineinlassen, stellen sich neue Fragen: warum, wie, wozu?
Quellen und Anmerkungen
1. ↑ Kropas, Ž. (2020-11-05). E-Mail an R. Venckus über die Erstellung von Fotografien.
2. ↑ Sikora, A. (2001). Eine Begegnung mit der Philosophie: Von Heraklit bis Husserl. Vilnius: Alma littera, S. 226 (übersetzt aus dem Polnischen von Jūratė Skersytė).
3. ↑ ebd.
4. ↑ Gottesman, S. (2017): A Brief History of Flowers in Western Art. (Zugriff am 2020-11-09)
5. ↑ Rubene, M. (1995). Die Philosophie der Gegenwart: Vom Sein zur Existenz. Vilnius: Alma Littera, S. 12 (übersetzt aus dem Lettischen von Renata Zajančkauskaitė).
6. ↑ Siehe Venckus, R. (2014). Jacques Derridas Theorie der Dekonstruktion in der Analyse von Videokunst. Vilnius: Vilniuser Akademie der Künste, Litauisches Kulturforschungsinstitut.
7. ↑ Siehe Gaarder, J. (2018). Sofies Welt. Vilnius: Тyto Alba, S. 77 (übersetzt aus dem Norwegischen von Eglė Išganaitytė).
8. ↑ Siehe Rotterdam, D. E. v. (2011). Lob der Torheit. Vilnius: Vaga, S. 12 (übersetzt aus dem Lateinischen von Merkelis Račkauskas).
9. ↑ Siehe Brown, S., Collinson, D., Wilkinson, R. (Hrsg.), (1998). One Hundred Twentieth-Century Philosophers. Routledge: London, New York, S. 17.
10. ↑ Siehe Debord, G. (2006). Die Gesellschaft des Spektakels. Vilnius: Kitos knygos, S. 20 (übersetzt aus dem Französischen von Dainius Gintalas).
11. ↑ Eine Kategorie, die die Existenz in Martin Heideggers Existenzphilosophie definiert; siehe Heidegger, M. (2014). Sein und Zeit. Vilnius: Technika. (übersetzt aus dem Deutschen von Tomas Kačerauskas). Siehe auch Rubene, M. (1995). Die Philosophie der Gegenwart: Vom Sein zur Existenz. Vilnius: Alma Littera, S. 301 (übersetzt aus dem Lettischen von Renata Zajančkauskaitė).
12. ↑ Kropas, Ž. (2020-11-05). E-Mail an R. Venckus über die Erstellung von Fotografien.
Dieser Artikel wurde für Euch von Redakteurin Aileen Wessely aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.