28. April 2022 Lesezeit: ~9 Minuten

Wer war Martin Gerlach senior?

Der deutsch-österreichische Verleger und Fotograf Martin Gerlach griff um die Jahrhundertwende die in der künstlerischen Luft liegende Rückbesinnung auf die Natur als Inspirationsquelle auf. Seine Pflanzenarrangements verweisen über die damals noch bevorstehende Neue Sachlichkeit hinaus bis zur heute zeitgenössischen Collagekunst.

Martin Gerlach wurde 1846 in Hanau geboren und nahm nach dem Besuch der örtlichen Bürgerschule zunächst Unterricht an der königlichen Zeichenakademie, wo er das Handwerk des Graveurs und Ziseleurs erlernte. Fertig ausgebildet zog er 1868 nach Berlin um.

Dort eröffnete er mit seinem Onkel und Geschäftspartner A. Schwarz ein Gold- und Juweliergeschäft, das bis zu 50 Mitarbeiter*innen beschäftigte, aber schon 1870 wieder schließen musste. Da er sich in der Zwischenzeit für die Fotografie zu begeistern begonnen hatte, gründete Martin Gerlach unter seinem Namen 1872 eine Verlagsbuchhandlung.

CollageCollage

In seinen Publikationen verband er sozusagen das Schöne mit dem Praktischen: Er veröffentlichte unter anderem seine eigenen fotografischen Werke, die er schwerpunktmäßig in den Bereichen der Architektur, Ornamentik und Pflanzenstudien anfertigte, und stellte diese sowie Arbeiten anderer Künstler*innen zu Vorlagen- und Musterbüchern zusammen, die vor allem für die praktische Arbeit von Kunsthandwerker*innen bestimmt waren.

Sein Verlag baute schnell einen guten Ruf für die Qualität der verlegten Bücher auf und wurde sogar international vertrieben. Auch Martin Gerlachs Fotografien allein erhielten Aufmerksamkeit und wurden in verschiedenen Magazinen abgedruckt. 1874 zog er nach Wien um und verlegte auch seinen Verlagssitz dorthin.

Dem vorangegangen waren lange Reisen durch Österreich-Ungarn, auf denen er sich bereits einen großen Bestand fotografischer Aufnahmen der verschiedenen Regionen erarbeitet hatte. In Wien fand er mit Ferdinand Schenk einen neuen Geschäftspartner, sodass der Verlag ab 1882 entsprechend auch unter dem Namen Gerlach & Schenk firmierte.

CollageCollage

Von Wien aus verlegten die beiden diverse zeitgenössische bildende Künstler*innen und Schriftsteller*innen, die zum Teil erst später wirklich große Bekanntheit erlangen sollten. Martin Gerlach hatte, sicherlich durch sein eigenes künstlerisches Interesse in diesem Bereich, ein feines Gespür für zeitgenössische und avantgardistische Kunst.

So bildeten der Stil der Sezessionen der kulturellen Hauptstädte der Zeit sowie der aufkeimende Jugendstil den Schwerpunkt des Verlags. Unter anderem publizierte er bis 1900 unter dem Titel „Allegorien. Neue Folge“ 120 Blätter mit Motiven der dekorativen Kunst der Zeit, die die Fortsetzung der zweibändigen Ausgabe „Allegorien und Embleme“ bildet, die er 20 Jahre zuvor verlegt hatte und künstlerisch noch stark vom Historismus geprägt war.

Erwähnenswert ist auch die 34-bändige Reihe mit dem Titel „Gerlach’s Jugendbücherei“, in der bekannten Märchen, Gedichte und Geschichten zusammengestellt und von namhaften Künstler*innen illustriert wurden. So wurde die literarische Bildung der Jugend einladend mit aktueller Bildsprache verbunden.

Buchstaben B und C mit Verzierungen aus Pflanzen

Buchstaben M und N mit Verzierungen aus Pflanzen

Ein weniger bekanntes Werk ist „Festons und decorative Gruppen aus Pflanzen und Thieren“ aus dem Jahr 1893, das mich besonders angesprochen hat und aus dem Ihr hier einige exemplarische Seiten sehen könnt. Das Mappenwerk ist in drei Auflagen erschienen und umfasst in der erweiterten Auflage mit Zier-ABC 148 Blätter.

[…] habe ich den Versuch gewagt, mit einem Werke hervorzutreten, in dem ausschließlich die natürliche Form der Pflanze als Decorationsmotiv zur Geltung kommt. Die Pflanze in ihrer lebendigen Frische und natürlichen Erscheinung bildet das Thema dieses Werkes.

Die Fotografien wurden mit Hilfe der Lichtdruck-Technik wiedergegeben, bei der es sich um den Vorläufer der Heliogravüre handelt. Das Verfahren hatte die mit Abstand beste Wiedergabequalität für Werke der Kunst und gegenüber anderen Verfahren der Zeit den Vorteil, dass im Druck keine störende Rasterung erkennbar war.

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Das Werk versteht sich als Handbuch für Künstler*innen sowie Handwerker*innen, um bei Entwürfen für Gipsornamente, Textilien- oder Tapetenmuster oder andere dekorative Elemente zu helfen. Die Ästhetik der Gruppierungen ist dabei stark an den vorherrschenden Jugendstil angelehnt.

Von anderen Vorlagen- oder Musterbüchern unterscheidet sich „Festons und decorative Gruppen“ deutlich dadurch, dass es direkte Abbildungen von Pflanzenarrangements umfasst, die nicht retuschiert oder in Form von Grafiken oder Illustrationen bereits stilisiert wurden. Außerdem hat Martin Gerlach sich die Mühe gemacht, über viele Monate hinweg jeweils saisonal verfügbare Pflanzen und Früchte zu arrangieren.

Diese stehen in den Abbildungen nun unabhängig von örtlicher oder zeitlicher Verfügbarkeit „lebender“ Vorlagen für Studien oder Entwürfe zur Verfügung. Das erklärte Ziel ist das Erkunden neuer Ausdrucksformen in der Kunst durch Anlehnung an die gestalterische Meisterschaft der Natur selbst, um etwas von bisherigen Kunstströmungen und vorangegangener Stile Eigenständiges und Neues zu schaffen.

Collage

Collage

Interessant und auffällig beim Betrachten der Arrangements ist, dass Martin Gerlach dabei keine festen Kompositionsregeln befolgt hat, sich und seinen späteren Leser*innen dadurch bewusst sehr viel künstlerischen Spielraum gelassen hat. Die Seiten sind immer wieder unterschiedlich aufgeteilt und gestaltet, mal strenger, mal experimenteller, mal könnte es sich auch um aktuelle Collagen oder Flatlays handeln, wie man sie heute auf Instagram findet.

Im Jugendstil und den künstlerischen Strömungen der Sezessionen zum Ende des 19. Jahrhunderts beim Übergang ins 20. Jahrhundert dominieren großflächige florale Ornamente. Diese zu ihrem eigentlichen Ursprung in der Natur selbst fotografisch zurückzuführen, nimmt beinahe die Neue Sachlichkeit ab 1923 vorweg.

In dieser war die Darstellung von Einfachheit und Schönheit der Dinge in nüchterner Bildsprache das Kernthema und der konzeptuelle Gegenentwurf zu experimentellen künstlerischen Ausdrucksformen der Fotografie, wie sie etwa am Bauhaus praktiziert wurde. Martin Gerlachs Werk bietet vielfältige Anknüpfungspunkte, in die es sich historisch einordnen lässt.

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Bereits ab 1841 hatte Anna Atkins Cyanotypie-Fotogramme genutzt, um ihre wissenschaftlichen Bücher über Farne und Algen zu bebildern, die vorher typischerweise mit Illustrationen erschienen wären. Wie naturgetreu auch immer diese bis dahin angefertigt worden waren, nur Fotografien konnten eine Abbildung der Realität garantieren.

In Frankreich fotografierten Adolphe Braun um 1855 und Charles Aubry in den 1860er Jahren unter anderem Blumenstillleben und gestalteten daraus abgeleitet beide Muster für die Herstellung von Stoffen, Tapeten und Teppichen. Auch der französische Fotograf Constant Alexandre Famin fertigte um 1870 unter anderem Pflanzenstudien an.

In Deutschland sind Naturstudien von August Kotzsch, der bei Dresden lebte und arbeitete, aus der Zeit von etwa 1860 bis 1880 erhalten. In Berlin arbeitete der Maler und Grafiker Moritz Meurer bereits ab etwa 1890 am Aufbau einer „Lehrmittelsammlung zum Studium der Naturformen“.

Um 1900 erstellte Wilhelm Weimar für das MKG Hamburg ein fotografisches Herbarium, das Hunderte, überwiegend Studioaufnahmen, von Blumen, Blüten und Pflanzen(-teilen) umfasste. Eine ähnlich systematische Herangehensweise an eine naturwissenschaftliche Dokumentation der heimischen Pflanzenwelt wählte kurz darauf Paul Dobe in München und später in Weimar.

Collage

Collage

Die Beweggründe von Charles Jones, einem britischen Gärtner und Fotografen, sind nicht überliefert. Sein erstaunliches fotografisches Werk, das vor allem Nahaufnahmen von Gemüse, Obst und Blumen nach Manier von Studioportraits vor weißem oder schwarzem Hintergrund, aber unter freiem Himmel aufgenommen, umfasst, wurde erst nach 1980 zufällig wiederentdeckt.

Erinnern seine Bilder von Pflanzen schon an menschliche Portraitaufnahmen beim örtlichen Fotografen, so handelt es sich bei Imogen Cunninghams Fotografien von Blüten und Pflanzen ab etwa 1905 mit teilweise dramatischer Lichtsetzung tatsächlich um eigenwillige Charakterportraits mit künstlerischem Anspruch.

Der Kreis zum Ansatz von Martin Gerlach, der seine Pflanzengruppen zwar auch als künstlerischen Selbstausdruck, vor allem aber als Studien- und Vorlagenmaterial ansah, schließt sich tatsächlich erst wieder einige Jahrzehnte später mit Publikationen, die ebenfalls Lehrzwecke verfolgten:

Josef Hanel hatte sich ab 1915 auf den Vertrieb von handkolorierten Fotografien einheimischer Pflanzen spezialisiert, Moritz Meurers Schüler Karl Blossfeldts ab 1928 veröffentlichte „Urformen der Kunst“ waren ursprünglich nur Unterrichtsmateriel und Albert Renger-Patzschs „Die Welt ist schön“ hatte den Anspruch, reines Dokument gänzlich ohne Kunst zu sein.

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Fast eine angenehme Abwechslung ist, dass Martin Gerlachs Leben und Wirken einen undramatischen Verlauf ohne tragisches Ende nahm. Im Jahr 1895 wurde er Mitglied der Photographischen Gesellschaft in Wien und 1904 wechselte sein Verlag noch einmal den Namen zu Gerlach & Wiedling, da sein langjähriger Mitarbeiter Albert Wiedling die Position des Geschäftspartners übernahm, nachdem Schenk zur Gründung eines eigenen Verlages ausgeschieden war.

Martin Gerlach war zweimal verheiratet. Aus der letzten Ehe stammte auch sein Sohn Martin Gerlach junior, der den Verlagsteil seines Vaters nach dessen Tod im Jahr 1918 übernahm und gemeinsam mit Walter Wiedling, wiederum der Sohn von Albert Wiedling, weiterführte. Der Verlag wurde sogar noch kurz von Kurt Gerlach in dritter Generation geführt, bevor er Ende der 1950er Jahre den Betrieb einstellte.

Quellen und weiterführende Literatur

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