Polaroids von verbrannten Toastscheiben auf Tellern
16. September 2021 Lesezeit: ~11 Minuten

Stillleben mit Sofortbild

Meine Fotografien sind wahrscheinlich nicht das, was man sich unter klassischen Stillleben vorstellt. Sie sind auch sonst keiner bestimmten Stilrichtung eindeutig zuzuordnen. Ich fotografiere Sofortbilder, die ich anschließend mit anderen Dingen zu einem winzigen Stillleben arrangiere. Diese Bilder sind somit eine Art Sofortbild-Fotografie.

Sie sind aber weder Sofort- noch Digitalbilder. Sie sind irgendwie beides zugleich oder dazwischen. Ich höre deshalb von Freunden manchmal, dass sie mit meinen Fotos nicht so recht etwas anfangen könnten. Anfangs war es für mich auch schwierig, meine Fotografien in bestehende Kategorien einzuordnen, bis ich die Idee hatte, sie einfach Stillleben mit Sofortbild zu nennen.

Frühstücksgedeck mit Polaroid

„What’s for breakfast?“

Für die Sofortbilder meiner Stillleben nutze ich das Polaroid Lab sowie die Instax-Drucker von Fujifilm. Bei beiden technischen Verfahren werden die digitalen Ausgangsbilder in Polaroids bzw. in Instax-Sofortbildformate transformiert. Das mache ich vor allem deswegen, weil ich mit meinen digitalen Kameras und einer besser kontrollierbaren Beleuchtungssituation eine hochwertige Grundlage für die Umwandlung in Sofortbilder bekomme. Auf diese Weise kann ich beispielsweise Nahaufnahmen von fotografierten Objekten auf Sofortbildmaterial bringen. Das gelingt mir mit den Sofortbildkameras nicht.

Diesen Sofortbildern geht dadurch die mit der Sofortbildfotografie häufig verbundene Authentizität bzw. Unverfälschtheit verloren, das weiß ich. Aber auch hierfür fand ich eine für mein Fotografen-Gewissen zufriedenstellende Begründung: Jedes zur Verbreitung oder Archivierung digitalisierte analoge Foto ist kein analoges Foto mehr. Es ist ein Foto von einem analogen Foto.

Sofortbilder beispielsweise werden gescannt oder digital abfotografiert und es erfolgt stets im Anschluss eine Bearbeitung mit einem Computerprogramm, auch wenn lediglich Unreinheiten retuschiert oder nur leichte digitale Anpassungen an das Original vorgenommen werden. Insofern ist es schwierig, eine Grenze zu ziehen, ab welchem Bearbeitungsschritt das Digitale überwiegt.

Polaroid einer Teekanne mit aus dem Bild hängengen Teezettel

„Teatime“

Ich füge meinen Sofortbildern mehr hinzu als bei der künstlerisch-kreativen Manipulation von Polaroids üblich. Ich gehe über das Bemalen, Besticken und Collagieren hinaus. Das Foto wird bei mir zum Fotomotiv und zusammen mit bildwichtigen Requisiten zu einem Stillleben. Ich denke, dass hierin das Originelle meiner Stillleben besteht.

Für meine Stillleben habe ich bereits ein Requisitenlager angelegt mit kleinen Dingen, die früher in den Müll gewandert wären, heute aber einen fotografischen Wert haben und in meinen Stillleben ein zweites Leben bekommen. Seit ich angefangen habe, solche Bilder zu machen, habe ich außerdem stets einen Vorrat an Pappen, Papieren, Klebstoffen, Bändern, Drähten und ähnlichem sowie Werkzeuge für Bastelarbeiten.

Polaroid-Diptychon mit Figur einer Person und eines Hauses mit Zweigen

„January
In other provinces
Plums blossoming“
(Kobayashi Issa, 1763–1827)

Die Fotos mache ich in meinem kleinen Studio. So kann ich unabhängig vom Tageslicht meinen Impulsen folgen und fotografieren, wann ich will. Für bestimmte Stillleben nutze ich auch das zur Verfügung stehende Tageslicht. Ich achte jedoch darauf, dass die Beleuchtungs- bzw. Studiosituation der der vorherigen Fotos dieser Serie entspricht, sodass ich die bereits erarbeiteten Parameter verwenden kann.

Meine fotografische Arbeit ist zum größten Teil von dem inspiriert, was um mich herum passiert. So werden Alltagserfahrungen, Redensarten, alltägliche Fragestellungen, in den Nachrichten Gehörtes verarbeitet und zum Motiv. Aktuell beeinflusst werde ich besonders durch die zauberhaften Fotografien von Chema Madoz und Gilbert Garcin. Aber auch die inszenierten Fotografien von Martin Pudenz, Roger Ballen, Erwin Olaf und William Wegman inspirieren mich sehr.

Im Folgenden stelle ich meine Stillleben-Arbeiten vor. Ich unterteile diese in Sub-Genres, da sie sich inhaltlich und visuell voneinander unterscheiden.

Suppe mit Polaroids eines Fischs

„Instant Bouillabaisse“

 

Magische Stillleben

Ich bin Mitglied des Project 12.12, einer internationalen Gruppe von Sofortbild-Fotokünstler*innen, die monatlich ihre Interpretationen zu einem für den jeweiligen Monat festgelegten Thema auf Instagram posten. An anderer Stelle auf kwerfeldein wurde bereits über diese Gruppe berichtet.

Ein für mich sehr herausforderndes Thema im Frühjahr dieses Jahres war „Magischer Realismus“. Zunächst konnte ich mit diesem Thema nichts anfangen. Ich hatte keine Idee, was ich fotografieren könnte und wie ich das dann auf Polaroid umsetzen sollte. Auch nach stundenlangem Recherchieren, Überlegen und einigem gedanklichen Hin und Her kam ich nicht weiter. Zu sehr steckte ich in meiner eigenen, bewährten Methodik fest. Aber der Mensch wächst bekanntlich mit seinen Aufgaben.

Polaroid eines Goldfischglases, vor dem ein Fisch liegt

„Price of Freedom“

Die Lösung lag für mich darin, die strikte Trennung zwischen der Polaroid- und der digitalen Fotografie als selbstgesetzte Vorgabe aufzugeben und etwas Neues zu versuchen: Die Idee war, ein gekochtes Ei im Eierbecher zu fotografieren, vom dem dann Eigelb herunterläuft. Das Eigelb sollte aus dem Bild herauslaufen, also plastisch wirken. Ein bloßes Foto von dieser Szene wäre nur ein Foto, ohne Magie.

Der surreal-magische Effekt gelang mir schließlich, indem ich ein Polaroid vom dem aufgeschlagenen Ei machte und das Eigelb vom aufgestellten Polaroid herunterlaufen ließ. Dieses Foto ist streng genommen kein Polaroid, denn das Polaroid ist nicht das Ergebnis, sondern ein Zwischenschritt. Aber was soll’s. Jedes für eine Veröffentlichung gescannte und digital bearbeitete Polaroid ist es auch nicht. Warum also nicht bestimmte, die Kreativität beschränkende Glaubenssätze über Bord werfen und einfach mal machen? Die Kategorisierung des Ergebnisses können dann ja andere vornehmen.

Eigelb läuft aus einem Polaroid

„Egg Yolk“

Der Magische Realismus ist für mich als Fotograf wahnsinnig inspirierend. Ich kann nicht erklären, woran es liegt. Ist es, weil die „magische“ Realität flexibler ist als die rationale und ich somit freier in meinen kreativen Möglichkeiten bin? Vielleicht. Es ist mir eigentlich auch egal, denn es macht mir viel Spaß, meine Stillleben mit einer Portion Magie anzureichern.

Polaroid einer kopfstehenden Vase, davor eine Blüte

„Topsy-Turvy World“

Die Idee zu diesem Foto entstand während der Kirschblüte dieses Jahr. So richtig über diese Zeit freuen konnte ich mich auch in diesem Jahr nicht. Alles schien irgendwie auf den Kopf gestellt zu werden. Aber unbeeindruckt hiervon macht die Natur ihr Ding. Als erstes habe ich die Vase mit dem blühenden Zweig mit einer digitalen Vollformatkamera und zwei Blitzgeräten fotografiert.

Die Vase hing kopfüber an einem Schwanenhals, der wiederum an einem Stativ hinter dem Hintergrund aufgehängt war. Von diesem Foto machte ich mit dem Polaroid Lab ein Polaroid, stellte dieses vor demselben Hintergrund auf, legte ein paar Blüten davor und fotografierte dieses Stillleben wieder mit der der digitalen Kamera. Bearbeitet wurde dieses Bild dann in Lightroom.

Polaroid einer Krabbenfigur mit Sand und Muscheln

„Crawfish on the beach
It seems like he is listening
What’s the news today“

 

Tangram-Stillleben

Einer Legende nach gab es vor langer Zeit in China einen Mönch, der seinen Schüler beauftragte, die Welt zu bereisen und ihre Schönheit auf einer quadratischen Keramiktafel festzuhalten. Unglücklicherweise zerbrach die Tafel in sieben Teile und die ließen sich nicht mehr zum Viereck zusammensetzen. Er versuchte es oft und dabei entstanden viele unterschiedliche Formen und Figuren.

Da verstand er: Er muss nicht die Welt bereisen, um die Schönheit und Vielfalt der Welt zu finden. Und sie lässt sich auch nicht in einem Bild festhalten, sondern zeigt sich in den unendlich vielen Formen, Bildern und Mustern, die sich auch beim Zusammenfügen der Einzelteile seiner Tafel ergeben.

Polaroid einer Figur als Person mit Zeitungen

„Looking for Fake News
Find merely uncomfortable truth
Thankful for free press“

Das Tangram ist ein traditionelles chinesisches Legespiel. Es besteht aus sieben Steinen, die einem Quadrat entstammen: fünf Dreiecken, einem Quadrat und einem Parallelogramm. Aus diesen sieben geometrischen Teilen lassen sich – geschickt kombiniert – beinahe unendlich viele Figuren legen. So entstehen in einfachen Formen Tiere, Menschen, Pflanzen und Gegenstände.

Ich lege Tangram-Figuren und fertige Polaroids von ihnen an. Die Polaroids kombiniere ich dann mit „realen“ Gegenständen zu kleinen Stillleben. Oft bin ich dabei inspiriert von Haikus: kurzen, vielschichtigen japanischen Gedichten von Basho, Issa, Buson oder anderen Meistern dieser schlichten Poesie. Oder ich habe selbst einen Dreizeiler im Kopf, über die täglichen wunder- und sonderbaren Dinge, die um mich herum geschehen. Haikus in ihrer einfachen Schönheit passen hervorragend zu den ebenfalls schlichten Tangram-Stillleben.

Polaroid-Triptychon mit Figuren als Personen und Zollstock

„Stop! 3 feet may not be enough social distance to avoid COVID!“

 

Küchentisch-Stillleben

An unserem Küchentisch wird gegessen, gearbeitet, gelesen, gespielt, geschrieben, telefoniert, gebastelt und, und, und. Unser Küchentisch ist damit auch eine kleine Bühne des Alltags. Mit dieser Serie zeige ich auf meine fotografische Weise die Bühnenstücke, die bei uns aufgeführt werden. Dazu arrangiere ich Instant-Fotos von Dingen, die bei uns am Tisch „verarbeitet“ werden mit „realen“ Gegenständen zu diesen besonderen Stillleben.

Mit dem Essen spielt man nicht! Wer kennt diesen Satz nicht aus seiner Kindheit? Aber warum spielen Kinder so gern mit ihrem Essen und warum spielen wir als Erwachsene auch so gern? Ich habe mal gelesen, dass das Spielen eine anthropologische Konstante und wichtig für die persönliche und soziale Entwicklung sei. Es scheint also in uns angelegt zu sein, alles was wir in die Hände bekommen, untersuchen zu wollen. Warum sollten wir als Fotografierende diesen Drang also auf der Suche nach neuen Motiven nicht nutzen?

Polaroids einer Wurst liegen mit Besteck und Brot auf einem Teller

„The Photographer’s Food Dilemma – What we eat can affect our creative energy“

Angeregt von den Büchern von Peter Jenny1 fing ich im Lockdown an, alles was sich auf unserem Esstisch in der Küche abspielte, genauer in Augenschein bzw. in den fotografischen Fokus zu nehmen. Und nach einiger Zeit des Wahrnehmungstrainings sah ich die vielen fotografischen Möglichkeiten, die sich hier bieten.

In dieser Zeit probierte ich auch viel mit meinen Sofortbild-Kameras aus und hatte den Einfall, mehr mit meinen Ergebnissen zu machen und nicht nach der Ausgabe des Bildes aufzuhören. Ich machte Sofortbilder und diese dann zum Gegenstand der weiteren fotografischen Arbeit.

Für diese Küchentisch-Serie kombinierte ich wieder Sofortbilder mit „realen“ Dingen. Dieses Mal bearbeitete ich auch einige der Sofortbilder zusätzlich: Ich streute Gewürze drauf, belegte sie mit Aufschnitt, beschnitt sie und legte sie in Flüssigkeiten. Hierfür eigneten sich die Instax-Sofortbilder besser als Polaroids, da sie unempfindlicher gegen äußere Einflüsse sind.

Memoryspiel mit Polaroids

„A game“

Beleuchtet wurden diese Szenen mit Tageslicht und einem Aufheller. Die digitale Kamera befand sich auf einem Stativ mit Ausleger über dem Tisch.

Mir hat auch dieses Projekt sehr viel Spaß gemacht. Es gibt sicherlich noch viele weitere Möglichkeiten, Sofortbilder zum Gegenstand solcher Stillleben zu machen. Vielleicht regen meine Fotos ja dazu an, dass auch an anderen Küchentischen wieder mit dem Essen gespielt wird.

Titelbild: Ausschnitt aus „Bad News and Burnt Toast“.

1 Peter Jenny, „Wahrnehmungswerkstatt Küche“ , Verlag Hermann Schmidt, 2. Auflage 2006, Mainz, Deutschland und die weiteren Bücher dieser Reihe

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