14. Dezember 2022 Lesezeit: ~10 Minuten

Vanessa Nicette sammelt Träume

Alles begann während des Fotounterrichts. Vanessa Nicette stellte ihrem Dozenten das Konzept für ihre Serie „Träume“ vor und er riet ihr davon ab. Das war 2011. Zum Glück litt sie an Beratungsresistenz und änderte nichts am Konzept.

Sie begann, Menschen in ihrem Bett zu portraitieren und bat sie, einen Traum aufzuschreiben. Die Ergebnisse gaben ihr am Ende recht und nicht nur der Dozent konnte überzeugt werden, sondern auch ein Verlag, der das Künstlerbuch mit Portraitfotografien und 60 Träumen veröffentlichte.

Hallo Vanessa, ich habe Dein Buch jetzt seit einer Woche auf dem Tisch liegen, nehme es immer mal in die Hand und lese dann ein oder zwei Träume. Was ich mich dabei frage, ist: Warum faszinieren mich die Träume fremder Menschen? Kannst Du das erklären?

Nein, aber ich frage mich das selbst auch. Mir wurde im Laufe meines Projekts sogar bewusst, dass ich länger die Träume fremder Menschen sammle, als meine eigenen! Mein Traumtagebuch habe ich erst 2017 angefangen, die fremden Träume sammle ich aber schon seit über zehn Jahren. Vielleicht interessieren uns einfach andere Menschen.

Portrait und Text

Wie bist Du auf die Idee gekommen, aus den Träumen ein Fotoprojekt zu machen?

In der Fotoschule hatte ich mich gefragt, ob ich Träume in Bilder fassen kann. Aber sobald mir jemand einen Traum erzählt und ich versuche, diesen in einem Foto umzusetzen, verfälsche ich ihn zwangsläufig. Wenn Du mir jetzt einen Traum erzählst, den ich anschließend in ein Bild übersetze, ist es nicht mehr Dein Traum, sondern nur meine Interpretation davon. Das Erzählte würde komplett durch meinen Filter laufen. Deshalb hatte ich mir irgendwann notiert, die Menschen einfach an ihrem Schlafplatz zu portraitieren und ihre Traumtexte dem Portrait gegenüberzustellen.

Das verstehe ich. Ein Traum besteht ja nicht nur aus Bildern und Geschichten, sondern vorrangig aus starken Gefühlen. Und diese in einem einzelnen Foto festzuhalten, erscheint mir fast unmöglich.

Ja, genau! Ich bin auch immer sehr unzufrieden, wenn in Filmen und Serien Traumsequenzen nachgestellt werden. Sie kommen selten meiner Art zu träumen nahe. Wozu diese Spezialeffekte? Ich fühle dabei meist zu wenig.

Hast Du auch einen eigenen Traum im Buch?

Der Traum auf der Rückseite des Buches ist meiner. Darin finde ich einen 2.111-€-Schein und frage mich, ob das Falschgeld ist.

Dieses Gefühl der Unsicherheit, dass irgendetwas nicht stimmt, aber man einfach nicht drauf kommt, kenne ich gut aus Träumen.

Man findet im Traum dann oft auch die ultimative Erklärung für absurde Dinge. In dem Traum war meine Erklärung, dass ich noch nie so einen großen Schein in der Hand hatte und es deshalb echtes Geld sein muss. Aber es ist auch wissenschaftlich bewiesen, dass unser Logikzentrum im Gehirn ausgeschaltet ist, während wir träumen. Das wissen viele nicht.

Portrait und Text

Du beschreibst in Deinem Buch sehr schön, wie groß die Herausforderung war, den starken Traumtexten gleichwertige Bilder entgegenzustellen, sodass Deine Fotos nicht gegen die Träume „verlieren“. Du führst das Gelingen auf die verwendete Kamera – eine Mamiya – zurück. Ist es nicht zu einfach, der Technik die Lorbeeren zu geben?

Ich spreche dieser Kamera tatsächlich vieles zu! (lacht) Man liest ja oft, die Technik sei zweitrangig, aber ich könnte mit meiner digitalen Kamera nicht solche Bilder machen. Davon bin ich fest überzeugt. Ich habe das Gefühl, ich komme mit der Kamera näher an die Menschen heran.

Welchen Film nutzt Du für das Projekt?

Das ist leider eine traurige Geschichte. Ich habe immer den Rollei Digibase CN 200 genutzt und weiß nicht genau, wann die Produktion eingestellt wurde. Ich habe den Film wegen seiner Farbigkeit und Körnung geliebt. Die Bilder im Buch sind noch alle mit dem Film entstanden.

Ich habe auch einige Filme ausprobiert, in der Hoffnung, dass einer von ihnen an den Look des Rollei herankommt. So richtig glücklich macht mich bisher aber leider keiner der getesteten. Am nächsten kommt der Kodak Portra 400. Alle Traumbilder in diesem Jahr sind schon mit dem Film geschossen.

Die Portraits führen Dich in die Schlafzimmer der Personen. Intimer geht es also fast nicht. Was ist die größere Herausforderung für die Menschen: Das Portrait im Bett oder ihre Träume zu teilen?

Es kommt ganz auf die Person an. Ich habe Menschen erlebt, die unbedingt ihre Träume für das Projekt teilen wollten, aber als es um das Foto am Schlafplatz ging, waren sie raus. Andere wiederum stört das Schlafzimmer nicht, aber sie möchten ihre Träume nicht erzählen.

Portrait und Text

Wie gehst Du bei den Portraits vor?

Der Ort ist natürlich im Vorfeld klar: Es muss der Schlafplatz sein, also das Bett. Beziehungsweise bei Obdachlosen sind es meist Schlafsäcke, in denen ich sie portraitiere.

Tatsächlich ist das Licht vor Ort oft eine Herausforderung. Einige Menschen schlafen in Hochbetten, wo kaum Licht hinkommt. Ich verwende eine gelbe Nachttischlampe, mit der ich die Gesichter etwas ausleuchte. Das wirkt wie ein Leselicht am Abend und passt gut zu den Bildern, finde ich.

Gibst Du Anweisungen, wie die Menschen sich legen sollen?

Die meisten legen sich einfach hin, wie sie möchten und dann sieht es schon super aus. Manchmal denke ich, dass ich schon zu viele Personen von oben fotografiert habe und versuche, das in ein paar der Portraits zu variieren.

Wie viele Portraits machst Du je Person?

Ich mache ein bis vier Portraits pro Person.

Welche Träume wählen die Menschen für Dein Projekt aus? Muss es immer der letzte Traum sein?

Nein, es muss ein Traum sein, mit dem sie sich wohl fühlen, wenn er veröffentlicht wird. Da sind die Hemmungen auch recht unterschiedlich.

Viele Träume im Buch erscheinen mir auch sehr gewaltvoll. Vielleicht habe ich aber auch zufällig gerade die Seiten aufgeschlagen, auf denen es um Verfolgung und Waffen ging.

Nein, da hast Du recht, denn gerade an solche Träume können wir uns am besten erinnern. Das ist vielleicht der Grund dafür, warum es viele dieser Art im Buch gibt. Wobei ich erst 2014 den ersten Albtraum bekommen habe, weil es bis dahin allen zu unangenehm war. Nach dem ersten Albtraum wurden dann alle nachfolgenden Personen etwas offener.

Portrait und Text

Das Buch zeigt eine Auswahl an Träumen, die Du in den letzten zehn Jahren gesammelt hast. Du schreibst aber auch, dass Du das Projekt gern bis ins hohe Alter weiterführen möchtest. Ich finde das sehr spannend und frage mich, ob wir in 20 oder 40 Jahren anders träumen werden.

Dass sich die Art und Weise der Träume verändern könnte, daran habe ich bisher nicht gedacht. Was mir aber auffällt, ist, dass sich die Dinge, von denen Menschen träumen, verändern. Ich habe im Juni zum Beispiel den ersten Traum über den Krieg in der Ukraine bekommen. Der letzte Traum im Buch enthält Stalking und ein Smartphone. So etwas ist vielleicht auch typisch für unsere Zeit und wäre vor 30 Jahren noch nicht möglich gewesen. Damals hätten Menschen vielleicht eher von Kassetten geträumt.

Wie sehr gehst Du auch wissenschaftlich oder psychologisch mit dem Projekt um?

Ich möchte die Träume nicht einordnen, sie sollen für sich stehen. Ich bin auch davon überzeugt, dass man die Träume fremder Menschen nicht interpretieren kann. Ich weiß nicht, was der Junge, den ich gestern fotografiert habe, vorher gemacht hat. Wie er auf seinen Traum mit verschiedenen Welten, in die er reisen konnte, kam. Hat er einen Film geschaut? Oder vielleicht ein Computerspiel gespielt? Hat er mit anderen Kindern etwas Ähnliches auf dem Spielplatz gespielt?

Ich lasse die Texte deshalb unverfälscht und unkommentiert. Das ist mir sehr wichtig. Was die Menschen, die das Buch lesen, mit den Träumen machen, habe ich natürlich nicht unter Kontrolle.

Träume sind für mich, sich selbst schreibende, Kurzgeschichten. Ich liebe daran, dass man sie nicht vorhersehen kann und sie keiner typischen Erzählstruktur folgen.

In Deinem Buch sind viel mehr Träume und Portraits junger Menschen enthalten. Sind diese aufgeschlossener, ihre Träume zu teilen?

Meist sind es Menschen in meinem Alter, weil ich sie am besten kenne. Ich habe aber tatsächlich das Gefühl, dass sie etwas aufgeschlossener sind. Ich habe schon viel mehr Absagen von älteren Menschen bekommen. Auch auffällig ist sicher, dass vorrangig Frauen zusagen. Es ist wirklich schwer, Männer für das Projekt zu gewinnen.

Träumst Du selbst anders, seit Du das Projekt umsetzt?

Das Projekt beeinflusst meine Träume auf jeden Fall. Ich hatte zum Beispiel von einem Mann gelesen, der sich an bis zu 15 Träume pro Nacht erinnern konnte. Ich wollte auch unbedingt lernen, mich an mehr Träume zu erinnern. Das ging so weit, dass ich Menschen, die ich im Traum getroffen habe, meinen Traum erzählt habe. Sie sollten ihn mir am nächsten Tag erzählen, damit ich ihn dann wieder weiß.

Ich habe auch versucht, meine Träume im Traum auswendig zu lernen. Total absurd! Ich konnte dadurch zwei Monate lang nicht richtig schlafen und träumen, weil ich im Traum ständig versucht habe, meine Träume festzuhalten.

Informationen zum Buch

„Träume“ von Vanessa Nicette
Sprache: Deutsch / Englisch
Einband: Softcover
Seiten: 132 Seiten, mit einem 32-seitigen Beileger
Maße: 19 x 24 cm
Verlag: KRAUTin
Preis: 35 €

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