Leben in der Einflugschneise
Shanghai hat mit seinen rund 23 Millionen Einwohnern zwei internationale Flughäfen, die ich in meinen vier Jahren dort häufig genutzt habe. Bei Start und Landung kann sich je nach Smog- und Wetterlage ein fantastischer Blick auf die unzähligen Hochhäuser der Stadt auftun.
Während der Flughafen Pudong (PVG) im Osten der Stadt direkt am Meer und etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegt, befindet sich der Flughafen Hongqiao (SHA) nur etwa 13 Kilometer westlich des Zentrums und fliegt vornehmlich Ziele in China und dem übrigen Asien an.
Der Flughafen ist so nah am Stadtzentrum, dass die Regierung bis vor wenigen Jahren noch den Plan verfolgte, den gesamten Flughafen samt neugebautem Terminal und Schnellzugbahnhof wieder abzureißen, weiter nach Westen zu verlegen und das freigewordene Land an Immobilienspekulanten zu verkaufen. Diesen Plan hat sie inzwischen jedoch aufgegeben.
Den wirklich interessanten Aspekt der Nähe zur Innenstadt entdeckte ich erst auf einer Busfahrt entlang der Autobahn, die südlich des Flughafen ins Umland führt.
Einerseits überraschten mich die extrem niedrig einfliegenden Maschinen, die über die Autobahn hinwegdonnerten, andererseits interessierten mich die zwischen Autobahn und Landebahn liegenden Gebäude, die dem Anschein nach hauptsächlich gewerblich genutzt wurden, aber Anzeichen von Leben erkennen ließen.
Bei der nächsten Gelegenheit machte ich mich auf, die Viertel um den Flughafen einmal aus der Nähe zu betrachten – Viertel, die ich viele Male von oben gesehen hatte, die aus der Luft als bloße Strukturen und Infrastrukturen erschienen. Zwischen ihren blauen Wellblechdächern versprach ich mir, mehr zu finden als die Ameisenwelt, die ich von meinem Blick nach unten bei Start und Landung her kannte.
Diese Quartiere in der Einflugschneise des Flughafen erwiesen sich als umso vielfältiger, je näher ich ihnen kam. Zwischen den vielen Gewerbenutzungen, DHL-Hubs, Kanälen und Hochsicherheitsanlagen tat sich eine geschäftige Welt voller Leben auf, die einem normalen, wenn auch eher unterprivilegierten, Wohnviertel anderswo in Shanghai in nichts nachstand.
Zwischen den Häusern spielten Kinder. Baustoffe wurden zum Recycling sortiert, Taxis und Schubkarren geparkt. Zum Teil wurde sogar Gemüse angebaut. Einige der Häuser schienen schon älter zu sein, andere hingegen schienen gerade neu errichtet und vieles im Eigenbau erweitert worden zu sein. In den Gassen fand ich die für Hutongs üblichen öffentlichen Toiletten.
Abends versammelten sich die Anwohner auf der Straße, um die landenden Flugzeuge zu bestaunen. Anscheinend nutzte sich der Anblick dieses Spektakels nicht ab, auch wenn sie es täglich vor der Haustür hatten.
An den Wochenenden war ich lediglich einer von einer Handvoll Besuchern. Mit Kamera und Stativ von nachmittags bis abends unterwegs, kam ich, um die Welt in der Einflugschneise mitsamt den landenden Flugzeugen einzufangen.
Tagsüber waren die Flugzeuge über den Köpfen und Wäscheleinen klar umrissen, nachts verwandelten sie sich durch die Langzeitbelichtung in den Morsecode der Positions- und Landelichter.
Die in der Regel dreiminütigen Nachtaufnahmen erwiesen sich als recht genaue Abbildung des Landerhythmus und waren spektakulär in einer Weise, die sich im Foto gar nicht festhalten lässt.
Wenn alle drei Minuten aus der Dunkelheit ein wild leuchtendes Ungetüm mit ohrenbetäubendem Lärm beinahe zum Greifen nahe über einen hinwegfegt, dann ist das einerseits sehr berauschend. Andererseits kann ich mir jedoch nur schlecht vorstellen, in solch einer Umgebung zu wohnen. Die Menschen, die dort leben, schienen zum Teil Wanderarbeiter mit einfachen Jobs zu sein und eher wenig zu haben.
Doch schienen einige der Bewohner es auch zu bescheidenem Wohlstand gebracht zu haben. Insgesamt unterschieden sich die Viertel aber nicht sonderlich von anderen, wie etwa denen rings um die Altstadt Shanghais.
Ich bedauere ein wenig, dass ich am Ende nicht viel mehr als ein Zuschauer des Lebens dort war. Nach fast vier Jahren in China konnte ich zwar einen Schwatz halten, wenn es sich ergab, für wirklich tiefgreifende Unterhaltungen reichten meine Sprachkenntisse aber auch am Ende nicht.
Mehr als Neujahrsgrüße zum chinesischen Frühlingsfest oder einige Freundlichkeiten, um mich zu vergewissern, dass ich mit meiner Kamera nicht zu aufdringlich wurde, habe ich in Hongqiao nicht ausgetauscht. Etwas mehr Kontakt aber hatte ich mit den Kindern, die Interesse an meiner Kamera fanden und begannen, sich davor aufzubauen.
Technisch waren einige Punkte zu beachten. Vor allem ein vorheriges Studium der vorherrschenden Windrichtung erwies sich als äußerst wichtig, da die Landeanflüge gegen den Wind durchgeführt werden.
Bei Starts beschleunigen die Flugzeuge zu stark und drehen sehr schnell ab, so dass sich weniger Möglichkeiten zu spannenden Tiefflugsituationen ergeben.
Kurze Belichtungszeiten bei Tageslicht und das Fotografieren mit höherer ISO in der Dämmerung sind selbstredend. Die Verwendung eines Shiftobjektivs erlaubte mir, einen höheren Ausschnitt zu wählen, ohne die Kamera kippen zu müssen. Die Wahl des Ausschnittes war jedoch, vor allem nachts, eher schwierig. Die genaue Route und Flughöhe schwankte recht häufig.
Eine mögliche Motivkombination aus Architektur, Flugzeug und eventuellen Bodenaktivitäten erforderte eine sorgfältige Beobachtung. Doch erst eine Portion Geduld und eine ordentliche Prise Glück verhalfen mir dann zu einem gelungenem Foto.