Aus dem Flüchtlingslager Röszke, Ungarn
Nach einer Phase der Schockstarre habe ich versucht, mich loszueisen. Zuerst in Zeitlupe, aber dann immer schneller, bis sich das Ganze schließlich verselbstständigt hat. Ich wollte aktiv werden. Einfach, weil ich musste.
So habe ich also begonnen, Kleider zu spenden und bei privaten Flüchtlingsorganisationen in Wien mitzuhelfen. Immer mehr, immer rasanter. Wenn man einmal anfängt, hört man nicht mehr auf.
Schließlich wurde ich beim Verladen von Hilfspaketen für Ungarn gefragt, ob ich denn nicht mitfahren möchte. Christiane hieß die nette Dame. 40 Jahre alt, alleinerziehende Mutter von vier Kindern und Krankenschwester. Ja. Sofort ja. Ich komme mit.
Wir schlossen uns einem Konvoi von sieben Autos an und damit begann die Reise ins Ungewisse, in der Hoffnung, Dinge zu sehen, Informationen weitertragen zu können und vor allem – zu helfen. Die Ungewissheit entpuppte sich allerdings als zähe Gefährtin: Immer wieder sahen wir gestrandete Flüchtlinge am Straßenrand. Die ersten an der österreichisch-ungarischen Grenze, bei Nickelsdorf.
Einer aus dem Konvoi las sie auf, um sie zum Bahnhof zu bringen. Legal oder illegal, was ist das schon? Wir mussten aber weiter. Durch strömenden Regen, bepackt mit Rettungsdecken, Medikamenten, warmer Kleidung, Bananen und Müsliriegeln. Erstes Ziel: Informationsstelle Szeged Bahnhof. Unorganisierte Eigeninitiativen bringen in diesem Fall nämlich nicht viel.
Es ist wichtig, sich abzusprechen. Alles wieder von Privatpersonen organisiert, wenn man denn überhaupt von Organisation sprechen kann. Jeder gibt sein Bestes, aber die Lage scheint einfach nicht zu bewältigen zu sein. Die Informationen bleiben unklar. Was aber immer deutlicher wird, ist, dass im Lager an der Grenze zu Serbien katastrophale Zustände herrschen müssen.
Immer wieder werden wir gewarnt, dass wir auf jeden Fall Handschuhe anziehen müssten und darauf achten sollten, keinen Zusammenbruch zu erleiden. Ich spreche mit freiwilligen Ärzten, einer davon aus Barcelona. Niemand weiß sich zu helfen, erklärt er mir. Die Lage ist nicht mehr zu überschauen. Dann kommt die Meldung, dass Hunderte Flüchtlinge aus dem Lager in Röszke ausgebrochen und auf dem Weg nach Szeget seien.
Einige fahren los, um sie aufzulesen, andere beginnen damit, den Infopoint in eine Auffangstation umzufunktionieren. Bis dahin gab es lediglich kleine Zelte im Freien, die dem Regen sonst völlig schutzlos ausgeliefert waren. Hin und wieder bewegt sich etwas in ihnen. Leute schlafen.
Die Bahnhofshalle ist währenddessen menschenleer. Den Helfern wird es jedoch nicht gestattet, dort jemanden unterzubringen. Christiane und ich fahren weiter ins Lager nach Röszke. Menschenmassen kommen uns entgegen. Der Regen hört heute ohnehin nicht mehr auf. Ein junger Österreicher, der schon seit zwei Tagen dort ist, zeigt uns den Weg.
Zuerst sieht man nur Felder, dann Autos. Kleintransporter von Fernsehteams und Polizeiautos säumen die Straße. Mitten im Nirgendwo, denke ich. Dort, wo Ungarn und Serbien sich treffen. Getrennt durch einen Zaun, der in den letzten Wochen und Monaten errichtet wurde. Einzig und allein die Lücke, durch die die Bahngleise hindurchführen, ist noch frei. Diese Lücke ist der Weg der Flüchtlinge.
Sie folgen den Schienen über die Grenze, bis sie zu dieser ersten Sammelstelle kommen. Ein Moloch, wie ich es nennen möchte. Die Polizei lässt Flüchtlinge nicht durch. Helfer dürfen. Wobei dies laut Erzählungen auch nicht immer der Fall war. Die Lage ändert sich anscheinend im Minutentakt. Leute kommen an. Freiwillige Helfer versuchen, sie mit geringsten Mitteln zu versorgen und ihnen zu erklären, was mit ihnen passiert.
Doch niemand weiß etwas. Alles beruht auf Spekulationen. Immer wieder kommen Busse, um sie abzutransportieren. Wann sie kommen und wohin sie fahren, weiß jedoch niemand. Es gibt Zeiten, zu denen lässt die Polizei Flüchtlinge einfach laufen und im nächsten Moment wird wieder alles abgeriegelt. Die Tage zuvor soll es noch viel voller gewesen sein. Gestern sei es ruhiger geworden, wobei auch immer wieder davon gesprochen wurde, dass das Lager komplett geräumt werden soll.
Woher die Information kommt, weiß keiner. Manche müssen Stunden oder Tage dort ausharren. Die Nächte werden kälter. Die Zelte wirken desolat. Alles lächerlich. Es ist Chaos. Reines Chaos.
Die Flüchtlinge sind unterkühlt, unterernährt und erschöpft. Ich bringe einen Karton voller Kinderschuhe. Eine Helferin freut sich und zeigt auf einen kleinen Jungen mit seinem Vater. Er steht dort in Schuhen, die ihm zehn Mal zu groß sind. Sofort bekommt er welche aus dem Karton.
Weiter geht’s – Bananen holen. Ich stelle mich in die Mitte der Neuankömmlinge und rufe: „Bananas!“ Eine Minute und die Kiste ist leer. Mehrere Kinder haben sich reflexartig welche aus der Kiste genommen und sind zu den Eltern gelaufen. Rundherum hört man es schmatzen. Ein Mann kommt zu mir und fragt mich, wo er denn ein Handtuch bekommen könne, woraufhin ich ihn frage: „Wofür denn?“ Nach Tagen wollte er wieder duschen. Aber Duschen gibt es keine, geschweigedenn eine andere Art von Sanitäreinrichtung. Nur fünf Klohäuschen stehen bereit.
Ein Mann fragt mich verzweifelt nach dem Weg zum Klo. Ich zeige unsicher auf die türkisfarbenen Boxen. Ein anderer Mann schüttelt den Kopf und sagt: „Geh da nicht rein, es ist zu ekelhaft. Geh lieber ins Feld.“ Ich sage nur „I’m sorry“ und muss weiter. Christiane hilft dabei, einen kleinen Jungen zu versorgen, der mit einem gebrochenen Arm ankam. Sie will Zuckerl von mir, ich habe aber nur Kaugummis. Das Kind freut sich, lacht und sagt: „Thank you.“ Ein 6-jähriger syrischer Junge.
Christiane erzählt mir auch, dass am Tag davor ein Mann in Wien ankam, der sich beide Vorderfüße gebrochen hatte. Er kam zu Fuß. Eine Versorgung der Schwerverletzten gibt es erst seit ein oder zwei Tagen. Davor wurden sie einfach mit dem Zug nach Österreich geschickt.
Ein kleines Mädchen ist irrsinnig fasziniert vom Klicken meiner Kamera. Sie freut sich, weil sie gerade Schokolade bekommen hat. Immer wieder zieht sie Grimassen. Sie weiß genau, dass sie fotografiert wird. Ich zeige ihr das Foto, sie lacht und nimmt meine Hand. Sie will ihre kleineren Schwestern auch animieren, aber die Familie sucht wohl nach Schlaf. Ihr Vater lacht mich an und nimmt sie bei der Hand, um danach im Chaos zu verschwinden.
Mittlerweile ist es dunkel. Der Regen erschöpft sich jedoch nicht. Meine Kamera funktioniert kaum noch, weil ich vergessen habe, sie vor dem Regen zu schützen. Ich mache trotzdem weiter. Dreißig neue Polizisten kommen. Die meisten von ihnen tragen einen Mundschutz. Sie haben Angst vor Krankheiten, da es keinerlei Hygienemaßnahmen gibt. Wie vor einer Horde Rinder stehen sie. Nette sollen auch dabei sein, wurde mir gesagt.
Ein Mann, der gerade angekommen ist, fragt, wie er denn jetzt weiterkomme. Er will die Richtung wissen. Wir sagen ihm, dass er hier nicht raus kann. Er müsse auf den Bus warten. Wohin dieser Bus fährt und wann er kommt, können wir ihm nicht sagen. Hoffentlich zu einem Bahnhof, von wo aus er nach Österreich fahren kann.
Ich sehe Menschen in Sandalen im Schlamm umherwaten. Kinder, die ausrutschen. Menschen, die einfach nur weg wollen. Christiane und ich brechen auf. Auf dem Rückweg kommen uns Busse entgegen und ich hoffe nur, dass sie die Flüchtlinge wirklich zu einem Bahnhof bringen. Angeblich seien die ungarischen Lager katastrophal. In Röszke soll es zwei geben, die allerdings komplett abgeriegelt sind. Niemand kommt rein, niemand kommt raus.
Ich denke viel über das Gesehene nach. Den Versuch, es zu verstehen, habe ich schon lange unterbunden. Es wirkt alles sehr irreal. Ich sehe mich gespenstisch durch das Getümmel irren. Mir ist schlecht. Wohl auch von den vielen Zigaretten. Noch vier Stunden Autofahrt und dann eine heiße Dusche. Dekadent fühlt es sich an.
Auf dem Rückweg finden wir noch gestrandete Seelen an der österreichischen Grenze. Die Zivilpolizei ist angeblich überall. Wir geben ihnen die restlichen Müsliriegel, Brötchen und Decken. Christiane zieht ihre Jacke aus und wirft sie einem jungen Mann über. Sie bedanken sich abermals. Nun fahren wir endgültig weiter, sie winken uns hinterher und lachen. Die Erschöpfung war ihnen ins Gesicht geschrieben.
Endlich zu Hause angekommen, wasche ich als erstes meine Hände und mir fällt ein, dass ich die Handschuhe vergessen habe. Immer wieder muss ich an den festen Händedruck des kleinen Mädchens denken. Und so wasche ich weiter den Dreck von meinen Händen und alles rückt ein Stück weit in die Ferne.
Mittlerweile kann sich alles schon wieder geändert haben. Nach neuesten Informationen gelingt es den Helfern immer besser, eine Struktur aufzubauen, auch wenn die Anzahl der ankommenden Menschen nicht abnimmt. Sie brauchen tatkräftige Hände. Sie brauchen Hilfe. Morgen fahre ich wieder hin.
Die Situationen in Ungarn ist unerträglich. Ungarn hat bis Mai 2015 pro 1.000 Einwohner etwa 6,7 Flüchtlinge aufgenommen – das ist mit Abstand die höchste Quote in der EU. Dabei hat Ungarn nach Bulgarien und Rumänien das drittniedrigste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in der EU.
Es ist eindeutig, dass Ungarn nicht kann. Viel eindeutiger aber ist, dass die ungarische Regierung nicht will. Und damit ist sie in Europa in guter Gesellschaft. Dabei sehen die Verträge der Europäischen Union die Einrichtung einer gemeinsamen Asylpolitik vor. Umgesetzt wurde diese bislang nur in Grundzügen.
Wie so oft in der Geschichte der europäischen Einigungen haben nationale Egoismen ein Mehr an Europa und damit einen Mehrwert an Demokratie, Solidarität und – im konkreten Fall – Menschenwürde verhindert. Das bekommen nun langsam nicht mehr nur die Flüchtlinge zu spüren, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger Europas, deren eigene Freiheiten durch vermehrte Grenzkontrollen eingeschränkt werden.
Das Flüchtlingsproblem löst das freilich nicht. Es sendet höchstens ein Signal an die terroristischen Regime, die diese Krise ausgelöst haben, dass sie gewonnen haben. Dabei muss gerade jetzt die Freiheit in Europa aufs Höchste geschätzt, behütet und darüber hinaus mit denen geteilt werden, die sie in ihrer Heimat nicht genießen dürfen.
Es ist dringend an der Zeit, dass die nationalen europäischen Regierungen den Ernst der Lage erkennen und endlich eine verbindliche gesamteuropäische Lösung im Rahmen der Europäischen Union zulassen.
Die komplette Fotoreportage gibt es auf meiner Facebook-Seite zu sehen. In der sich ständig ändernden Lage wird akut Hilfe benötigt. Konvois und Soforthilfe werden über verschiedene Wege organisiert. Bei Facebook findet man Informationen unter anderem bei SOS Röszke Akuthilfe, Hilfe für Flüchtlinge in München, El Palito sowie in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #Röszke.