Fotografieren in Shanghai
„Shanghai verändert jeden, der hierher kommt“, sagte mir eine chinesische Freundin einmal. Ob das gut oder schlecht ist, da bin ich mir nicht immer sicher. Jedenfalls scheint die Stadt nahezu jeden Neuankömmling dazu anzuregen, eine Kamera zu ergreifen und den alltäglichen Wahnsinn auf Shanghais Straßen zu dokumentieren.
Ich für meinen Teil habe vor fast sieben Jahren während des Architekturstudiums die Fotografie für mich entdeckt und die Aussicht darauf, in Shanghai fotografieren zu können, hat sicherlich zu der Entscheidung beigetragen, hier vor dreieinhalb Jahren meine Zelte aufzuschlagen.
Die Möglichkeiten zu fotografieren sind hier nahezu unbegrenzt und jeder wird hier sein Sujet finden oder ganz neue entdecken – wenn es denn nicht gerade malerische Landschaften sein sollen. In einer Metropolregion von 23 Millionen Menschen, in der man vom Zentrum aus in alle Himmelsrichtungen bis zum Horizont das Hochhausmeer erblicken kann, ist außer in einigen Parks die Natur höchstens noch in die innerstädtischen Autobahnkreuze gezwängt anzureffen.
Auf den Straßen wimmelt es von Menschen, die solch unterhaltsamen Hobbies wie Rückwärtslaufen, Bäumeklopfen und Taiji nachgehen. Die höchsten Wolkenkratzer Chinas und zweigeschossige, hundertjährige Hofhäuser entlang enger Gassen wechseln einander ab.
Als Architekt liegt es nahe, dass Architektur und Stadt auch mein Hauptthema in der Fotografie ist. Zudem versuche ich bisweilen Straßenszenen festzuhalten, eher minimal als überfüllt. Hier traf ich auf mein erstes Problem. Wenn ich in Europa meist darauf wartete, dass endlich eine Person dekorativ durch meine Komposition läuft, muss ich in China darauf warten, dass nur eine einzige Person durchs Bild läuft.
Bei den Menschenmengen hier ist das nicht immer einfach. Wer allerdings seine Kamera gern weitwinklig einer Gruppe Passanten gemäß der New Yorker Schule ins Gesicht drückt, der wird hier sicherlich leichte Beute finden.
Das Verhältnis der Chinesen zum Fotografieren und zum Fotografiertwerden ist zudem äußerst entspannt und eher von Neugier als von Ablehnung geprägt, wie ich sie manches Mal in Deutschland erlebt habe. Zum einen lieben die Chinesen es selbst, alles zu knipsen was ihnen unterkommt, die vielen einheimischen und fremdländischen Touristen machen alles sicherlich noch etwas einfacher. Zum anderen haben sie wenig bis keine Probleme damit, selbst abgelichtet zu werden.
Manchmal möchten sie gar fotografiert werden, sei es nur, um Teil der Urlaubserinnerungen eines Ausländers zu sein. Je nachdem, wo man sich in China aufhält, passiert es gar, dass man um ein Foto gebeten wird und so kann es kommen, dass Touristengruppen sich die Klinke in die Hand geben, um für ihr Andenkenfoto mit einem europäischen Exoten zu posieren.
So reagiert hier eigentlich kaum jemand ablehnend, wenn man ihn fotografiert und wenn, dann denkt derjenige sicherlich, dass die Langnasen eh nicht ganz beisammen sind und diese Ansicht nur noch bestätigt. Auf der anderen Seite ist man selbst als Westler für chinesische Fotografen und Touristen motivisches Freiwild.
Neben Straßenszenen ist ein großes Thema natürlich die Stadt an sich. Jeder versucht erst einmal, das Hochhausmeer ins Bild zu fassen. Dazu muss man für einen umfassenden Überblick schon auf ein dreißigstöckiges Gebäude steigen, um die meist bis zwanzig Stockwerke hohen Gebäude zu überblicken.
Was sich in Deutschland als schwierig herausstellen würde, ist in China ein eher geringes Problem – der Zugang zum Gebäude. Jedes Gebäude hat hier zwar Wachleute am Eingang, als Laowai aber wird man hier eher selten aufgehalten. Solange es sich also nicht um ein exklusives Apartmenthaus handelt, kann man sich in viele Gebäude recht problemlos hineinmogeln.
Belohnt wird man dann von teils atemberaubenden Ausblicken auf Autobahnkreuze, die von Hochhäusern engbestanden inmitten der Stadt auf Stelzen stehen, Blicken über den breiten Fluß Huangpu, mit den Wolkenkratzern des Finanzzentrums in Pudong oder dem Anblick eines Waldes aus Hochhäusern auf Augenhöhhe.
Die Autobahnkreuze selbst haben sich für mich auch als ein eigenständiges und lohnendes Motiv herausgestellt. Die teils schwindelerregenden Spiralen aus Beton kontrastieren häufig mit den Begrünungen darunter, einige der wenigen Freiräume, die, untermalt vom fernen Rauschen des Verkehrs, in ihrer Mitte fast kontemplative Qualitäten entfalten.
Da ich tagsüber im Büro arbeite, entstehen viele meiner Bilder nachts und natürlich am Wochenende, wobei ich mehr und mehr nachts fotografiere. Der Sonnenschein fällt auf Shanghai nicht gerade üppig und wenn, wird er häufig von einer dichten Smogdecke abgewehrt. Als Kind des Ruhrpotts habe ich schon vor längerer Zeit Gefallen an Becherschen Himmeln gefunden und wenn ich manuell und ohne Belichtungsmesser unterwegs bin, erleichtert das gleichmäßige Licht auch einiges.
Das Licht der Nacht ist jedoch eine eigene Welt. Die Stadt glüht und der Himmel kommt nie zur Ruhe. Die zahlreichen Lichter tauchen die Stadt in ein gelblich-orangenes Licht und an Tagen mit hoher Luftfeuchigkeit wird es durch die Reflexion des Lichts in den Wassertröpfchen selbst in sonst dunklen Gassen so hell, dass gar keine zusätzliche Beleuchtung nötig wäre. Erwähnte Luftfeuchtigkeit lässt allerdings auch Sommer wie Winter zur Qual werden, was eine gewisse Leidensfähigkeit voraussetzt, um das Fotografieren zu genießen.
Wem nun bei dem Gedanken ans nächtliche Fotografieren etwas mulmig wird, dem sei gesagt, dass China und insbesondere Shanghai wesentlich sicherer sind als jede größere deutsche Stadt. Mit teurem Equipment selbst in dunklen, entlegenen Ecken, in denen der Müll gesammelt wird, unterwegs zu sein oder Häuser in Gebieten zu fotografieren, die in Europa als Slum klassifiziert würden, all das stellt eigentlich kaum ein Risiko dar. Offene Gewalt oder Kriminalität sind hier nahezu unbekannt und als Laowai hat man ohnehin einen Status vergleichbar einer heiligen (wenngleich auch verrückten) Kuh inne.
Die Chinesen reagieren eigentlich stets recht freundlich und sind im äußersten Falle neugierig, was die Langnase denn da so treibt. Was mir in Deutschland nie passiert ist, ist hier recht normal: Dass ein Passant zwar nicht versteht, was und warum man gerade fotografiert, er aus Neugier aber gern das Bild sehen würde. Einige Male bemerkte ich, dass während ich des nachts mit Stativ fotografierte, sich ein Polizeiwagen unbemerkt von hinten an mich herangeschlichen hatte und die Beamten bei ausgeschaltetem Licht im Wagen saßen und mich beobachteten.
Ob dies nun aus allgemeiner Neugier, der Sorge um mein Tun oder eher der Sorge um meine Sicherheit geschah, kann ich kaum sagen. Mein Fototreiben haben sie nie gestört, ich habe trotzdem stets vorgezogen, meine Sachen zu packen und weiterzuziehen.
Das teils bizarre und immer kunterbunte Leben auf den Straßen, das unfassbare Hochhausmeer, die glitzernden Neonlichter des Finanzzentrums oder der Einkaufsstraße aus der Kolonialzeit, die aberwitzigen Betonverknotungen der aufgestelzten Autobahnen – all das bietet viel Raum, sich auszutoben und ist bereits unzählige Male abgehandelt worden. Ein weniger augenscheinliches Thema, auf das ich kurz nach meiner Ankuft zufällig gestoßen bin, lässt mich hingegen nicht mehr los.
Der Wandel der Stadt, der seine Manifestation in den Abrissgebieten findet, die nach der Planierung Platz für neue Hochhäuser bieten. Die Entwicklung ist so rasend schnell, dass die Stadt und (makabererweise) die Fotomotive sich ständig, teils innerhalb weniger Monate verändern. Die südliche Altstadt, die zu meinen Lieblingsgebieten der Stadt gehört, wird derzeit abgerissen und an allen Ecken und Enden befinden sich alte Gebäude im Abbruch. Das so entstehende Szenario ist mitunter recht bizarr.
Teils ein oder gar zwei Stockwerke hohe Trümmerberge liegen zwischen den halbabgerissenen Häusern, übersäht mit Müll und je nach Lage ragen direkt dahinter die Hochhaustürme auf und mittendrin leben die noch verbliebenen Bewohner ihr Leben weiter.
Im Gegensatz zu der allseits beliebten (Industrie-)Ruinenfotografie, wie ich sie aus Deutschland kannte, bei der mir die verfallenen Häuser eher wie stumme Zeugen der Vergangenheit erscheinen, trifft mich die unmittelbare visuelle Gewalttätigkeit der Ruinen in Shanghai mit voller Wucht. Zum einen der Mix aus Backsteinhaufen, Müll, Bewohnern und den Neonlichtern umliegender Hochhäuser, zum anderen aber auch die Gewissheit, dass die Szenerie, die sich einem bietet, in einem Monat ganz anders aussieht und in dreien vielleicht gar nicht mehr existiert.
Sie erinnert eher an ein Kriegsgebiet und so gesehen passt es auch ins Bild, dass das erste Mal, als ich während des chinesischen Neujahrsfestes über ein solches Abbruchgebiet gestolpert bin, die anschwellende Geräuschkulisse der Feuerwerkskörper den Eindruck der Kriegsruinen untermalt hat. Es mag vielleicht eine etwas zweifelhafte und arg direkte Art der Ästhetik sein, die man damit kultiviert, aber der Schock und auch die Faszination dieses Anblicks hat mich angespornt, diesen Prozess des Wandels festzuhalten, eher noch als die verbliebenden Gebäude zu dokumentieren.
Wenn man der Metropole müde geworden ist, dann lockt in Shanghai zudem noch das schnelle Abenteuer im Umland. Ob es nun malerische alte Wasserstädte mit Kanälen sind, die Erfahrung des ‚echten‘ China in den ländlichen Randzonen der Stadt oder einfach nur ein (fast) menschenleerer Acker.
Innerhalb von ein bis zwei Stunden per Metro oder Bus wartet eine Erfahrung ganz abseits der Glitzerwelt des Zentrums. Wer etwas mehr Zeit aufbringen kann oder will, der wird auch in den umliegenden Städten fündig werden oder gar ein wenig Natur zu Gesicht bekommen. Einsamkeit und Ruhe wird man dort aber trotzdem kaum finden.
Selbst fern des Zentrums trifft man auf Hochzeitsfotografen, wie auch in der gesamten Stadt selbst. Zumindest überall dort, wo ein Tourist einen Fuß hinsetzen würde, wird die jeweilige Sehenswürdigkeit für Hochzeitsfotos genutzt. Und auch Touristen sind immer in großen Schwärmen unterwegs, sodass man selbst auf einem heiligen Berg niemals allein sein muss, sondern immer jemandem begegnet, der ein Foto mit einem Ausländer haben möchte.
Für diejenigen in der Fotografengemeinde, die sich weniger für das Motiv als für das Fotografiergerät an sich interessieren, erweist sich Shanghai wiederum als Volltreffer. Es gibt eine Reihe großer Shoppingmalls, die einizg und allein alles rund um die Fotografie anbieten. Die größte erstreckt sich über sechs Stockwerke und beherbergt in den mehr oder weniger kleinen Geschäften neben aller erdenklicher Neuware jeglicher namhafter Hersteller auch einen gigantischen Fundus an gebrauchten Kameras und Objektiven, Filmen sowie Entwicklungszubehör, Zubehör jeglicher Art von der Kameratasche über Stative bis hin zu ganzen Studioblitzsystemen.
Ob nun Spielzeugknipsen, Großformatkameras, digitale Rückteile oder Unterwassergehäuse, es gibt hier nichts, was es nicht gibt. Zudem haben die Malls auch den untrennbaren Zusammenhang mit der Hochzeitsfotografie erkannt und bieten Schminksets, Hochzeitskleider und sogar (Karnevals-)Kostüme an, um für Shootings jeglicher Art gerüstet zu sein.
Ich habe mir über die Zeit hinweg meine Ausrüstung fast komplett gebraucht zusammengekauft. Das Angebot ist nicht unbedingt günstiger als in Europa oder im Internet, aber die Möglichkeit zu stöbern und die jeweilige Hardware in Augenschein zu nehmen, ist durchaus vorteilhaft. Wenn man weiß, was man will, ein Auge für Gebrauchsspuren hat und sich im Internet über Preise vorab informiert, wird man zumindest nicht über den Tisch gezogen oder macht sogar einen guten Deal.
Nach den Jahren hier kann ich sagen, dass die Stadt zumindest meine Art zu fotografieren verändert hat. Während man sich in Deutschland darauf verlassen kann, dass sich der rechte Winkel des Gebauten in der Bildgeometrie wiederfindet, ist in China erst einmal die Kompensation des Kulturschocks von Nöten, um die vielfältigen Sinneseindrücke zu filtrieren.
Da ich selbst in Sachen Fotografie eher Jäger und Sammler bin und beim Erkunden der Stadt meine Motive finde, bin ich für neue Erkundungsfelder immer aufgeschlossen. Wenn ein Thema mein Interesse geweckt hat, dann greift das neue Beuteschema und lenkt meine Erkundungstouren. So gesehen ist mir die Veränderung, die Shanghai mir gebracht hat, durchaus willkommen und ich hoffe darauf, dass es nicht die letzte war.