Straßenfotografie: Ein Mann mit Hut läuft vorbei.
22. April 2014 Lesezeit: ~14 Minuten

Anregungen für Einsteiger in die Straßenfotografie

Seitdem ich versuche, mich aktiv als Straßenfotograf in Deutschland zu betätigen, bekomme ich regelmäßig E-Mails oder Replies zu meinen Bildern. Immer wieder fragen mich Leute, wie ich meine Angst überwinde, welche Kamera ich benutze oder was ich sage, wenn sich jemand beschwert.

Auf viele dieser Fragen möchte ich heute versuchen einzugehen. Ich wähle bewusst das Wort „Anregungen“ im Titel, weil ich keine Ratschläge von oben herab erteile.

Diese Anregungen, Ideen oder Handlungsvorschläge sind auf meinem ganz persönlichen Weg entstanden. Und ich glaube, dass sie dem einen oder anderen helfen können – aber nicht müssen. Legen wir also los.

Straßenfotografie: Ein Arbeiter mit Maske und blauem Anzug.

Werde Dir der Gesetzeslage bewusst

In Deutschland ist es vom Gesetzgeber nicht erlaubt, Menschen erkennbar in der Öffentlichkeit zu fotografieren. Wenn Du dieses Gesetz übertrittst, kann das bedeuten, dass Du Post von einem Rechtsanwalt bekommst, angezeigt wirst oder jemand sauer auf Dich wird.

Die Wahrscheinlichkeit ist zwar nicht besonders hoch (ich habe es noch nie erlebt), doch es kann theoretisch immer passieren. Wer falsch parkt, bekommt irgendwann einen Strafzettel. So einfach ist das. Und diesen Wikipedia-Eintrag solltest Du im Schlaf können.

Wäge ab, Menschen unerkannt zu fotografieren

Um in die Straßenfotografie einzusteigen, musst Du nicht gleich aus 30 cm Abstand und mit Blitz fotografieren. Du kannst Dich auch langsam ans Sujet herantasten und so der juristisch-misslichen Lage vorerst aus dem Weg gehen. Wie? Mit Abstand. Menschen von hinten, als Silhouette – oder den Kopf abschneiden. Letzteres ist rein fotografisch zu verstehen.

Lasse Deine Schuldgefühle und Ängste hinter Dir

Solange Du eine Phobie davor hast, „ertappt“ zu werden, solltest Du mit der Kamera keine Sekunde auf der Straße verbringen. Menschen merken Deine Befürchtungen sofort und werden Dich wesentlich schneller als verdächtig einstufen, als Dir lieb ist. Wenn Du aber voller Selbstvertrauen und Freundlichkeit unterwegs bist, strahlt das nach außen und die Menschen werden Dir ebenfalls freundlicher begegnen.

Warnung: Viele Menschen freuen sich darüber, fotografiert zu werden, fühlen sich dadurch geschmeichelt und werden mit einem hübschen Lächeln reagieren. Diesen wichtigen Moment wirst Du verpassen, wenn Du mit panisch-verzerrtem Gesicht um die Häuser schleichst.

Eine Frau sieht in die Kamera.

Prüfe Deine Absichten

Warum willst Du überhaupt auf der Straße fotografieren? Um was geht es Dir dabei? Kläre diese Frage, bevor Du losziehst und es wird Dir leichter fallen, mit Mut und Bestimmtheit aufzutreten. Und – das ist wirklich wichtig – Deine Stilmittel zu wählen. Mehr dazu weiter unten.

Die Kamera ist scheißegal

Du solltest keine Sekunde darüber nachdenken, ob Deine Kamera straßentauglich ist. Du kannst sogar mit dem Smartphone anfangen, Leute in der Öffentlichkeit zu fotografieren. Ich habe das ein Jahr lang gemacht.

Selbst, wenn Deine Kamera eine fette DSLR und super laut ist: Das kann Dir wiederum dabei helfen, offen mit Deinem Vorhaben umzugehen. Fang einfach an und vergiss den Schwachsinn, dass Du eine Leica brauchst.

Lächle

Brust raus, Rücken gerade, einmal kräftig durchatmen und los geht’s. Sprich mit den Menschen, lächle sie an oder zwinkere ihnen zu. Zeige ihnen, dass Du nicht gegen, sondern für sie bist.

Wenn Dir ein schöner Hut auffällt, dann sage das der Person – auch, wenn Du sie gar nicht fotografierst. Verbreite gute Laune, so oft es geht. Menschen werden Dich wiedererkennen und Du bestimmst, wie Du in Erinnerung bleibst.

Blick auf einen Sonderzug der Bahn.

Such nicht nach Bestätigung

Wenn Du eine Person fotografiert hast und nicht sicher bist, ob sie Dich bemerkt hat, dann schau sie um Gottes Willen nicht fragend an. Warte nicht auf eine positive Reaktion. Ziehe gemütlich weiter und suche Dein nächstes Motiv.

Die Menschen auf der Straße sind die letzten, von denen Du Bestätigung suchen solltest. Wenn Du von ihnen erwartest, Deine Aktion „in Ordnung“ zu finden, wirst Du a) enttäuscht werden und b) Dich auf eine zu niedrige Stufe stellen. Dein Auftreten wird dadurch nicht selbstbewusster, sondern eher das Gegenteil.

Keine Option: Lange Brennweiten

Zumindest zu Beginn nicht. Wenn Du Dir in die Hosen machst, vor Leuten die Kamera zu heben und sie zu fotografieren, dann ist ein Teleobjektiv doppelt hinderlich. Zum Einen wirst Du Deine Angst nicht überwinden (und das kannst Du nur mit Übung) und Dich zum Anderen auf ein Stilmittel begrenzen. Vor allem eines, das furchtbar schwer zu beherrschen ist.

Straßenfotografen wie Saul Leiter oder W. Eugene Smith, die Teleobjektive gekonnt einsetzten, wussten genau, was sie taten und was sie erreichen wollten.

Nimm ein Weitwinkel. Niemand sagt, dass Du den Leuten mit dem Glas vor der Nase herumtanzen sollst. Außerdem hast Du so stets die Möglichkeit, im Nachhinein zu croppen, weil Du (zu Beginn) eher zu viel auf dem Bild haben wirst, als zu wenig.

Frag Menschen vor dem Fotografieren

Nein, das muss nicht die Regel sein (siehe Punkt 2). Und Du musst keine 100-Leute-Serie machen, auf denen die Leute scharf sind und der Rest im Bokeh verschwindet. Das ist zwar hip, aber auch nur eines von vielen Stilmitteln.

Außerdem gibt es aktuell nur einen Straßenfotografen, der dies meiner Meinung nach innovativ beherrscht: Khalik Allah. Ich möchte mich hier aber nicht verzetteln.

Wenn ich jemanden mit einem tollen Bart sehe, dann verzichte ich manchmal auf den ungestellten Moment und frage freundlich.

Die meisten Männer tragen ihren Bart wie andere einen fetten SUV fahren und freuen sich über das Kompliment, für ein Foto posieren zu dürfen. Tipp: Animiere sie dazu, nicht zu lachen oder in die Kamera zu gucken – das sieht meist künstlich aus.

Vergiss jedoch die Option, die Dir die Persönlichkeitsrechts-Taliban nahelegen: Jede Person nach dem Klick zu fragen, ob sie mit dem Bild einverstanden ist.

Warum? Stell Dir vor, Du hast fünf Personen auf einem Bild, von denen zwei auf die Bahn warten und drei in unterschiedliche Richtungen laufen. Es ist schlicht unmöglich, diesem Ratschlag nachzukommen. Es geht einfach nicht.

Eine Frau schaut auf den Fahrplan.

Umgang mit negativem Feedback

Wenn jemand nicht fotografiert werden möchte, dann ist das sein oder ihr gutes Recht. Von so einer Person angesprochen zu werden, sollte nicht ignoriert und schon gar nicht frech beantwortet werden.

Schau der Person ins Gesicht, stelle Dich vor und entschuldige Dich für die Unannehmlichkeiten. Biete von Dir aus an, das gemachte Foto unverzüglich zu löschen. Weder lohnt es sich, sich mit fotografierten Menschen anzulegen, noch musst Du schamrot mit gesenktem Kopf im Boden versinken.

Wünsche einen angenehmen Tag und ziehe weiter Deines Weges.

Unsichtbar werden

Der große Traum vieler Fotografen, die auf die Straße ziehen, ist es, unsichtbar zu werden. Unbesorgt zu fotografieren, ohne bemerkt zu werden. Das wär’s. Doch darunter versteckt sich meist nichts anderes als Angst. Und die ist ein schlechter Ratgeber.

Du musst Dich ja nicht bunt wie ein Clown anziehen. Ich bevorzuge schwarze Kleidung, weil sie kein Licht reflektiert. Aber zwanghaft zu versuchen, unentdeckt zu bleiben und im peinlichen Agenten-Modus (Kopf nach vorn, Blick zur fotografierten Person) aus der Hüfte zu fotografieren, bringt gar nichts.

Warum? Weil Du so keine Kontrolle über Bildausschnitt und Perspektive hast. Natürlich gibt es Leute wie Mark Cohen, die das Fotografieren ohne Sucherblick perfektioniert haben, jedoch würde ich davon erst einmal abraten.

Halte die Kamera vor’s Gesicht, komponiere und drücke ab. So gibst Du Menschen auch die Chance, zu reagieren und sich Dir bemerkbar zu machen, wenn sie das nicht wollen.

Schneller!

Auf der Straße hast Du eines nicht: Zeit. Du kannst nicht ewig rumzoomen, denn währenddessen ist die fantastische Szene längst vorbei.

Von daher bietet es sich an, eines zu üben: Fokussieren. Der Amerikaner John Free empfiehlt, sich vor eine Wand zu stellen und zu stoppen, wie lange man brauchst, um aus der Hüfte die Kamera zu heben und die Wand anzufokussieren. Je schneller Du bist, desto einfacher wirst Du es später auf der Straße haben. Außerdem lernst Du so die tatsächliche Schnelligkeit Deines Autofokus kennen und im Vorhinein einzuschätzen.

Andere Fotografen wie Matt Stuart fokussieren bei geschlossener Blende vor und wissen so, welcher Schärfebereich immer abgedeckt ist. Das Problem: Wenn Dir wider Erwarten jemand näher kommt, musst Du reagieren. Das kann schon einmal hektisch werden und meist vergeigt man dann das ganze Bild. Auch hier ist Übung angesagt.

Joel Meyerowitz rät, ein guter Beobachter zu werden und das Vorhersehen von akzentuierten Bewegungen zu erlernen. Wie das geht? Ein Beispiel: Du siehst von Weitem, wie eine Frau die Arme irgendwie komisch verschränkt und sie dann wieder fallen lässt.

Warte. Warte. Warte. Warte ab, ob die Frau diese Bewegung noch einmal macht. In der Zwischenzeit kannst Du einen guten Bildausschnitt suchen und bist dann bereit, wenn es wieder passiert.

Weitere Anregungen sind meiner Meinung nach überflüssig. Klar, man könnte Bücher darüber schreiben, was wie wo wann am besten funktioniert. Doch das Beste an der Fotografie ist immer noch das Learning By Doing. Je öfter Du unterwegs bist, desto schneller wirst Du auch.

Ein Mann kurz vor dem Zigaretteanzünden.

Lass nicht den Profi raushängen

Niemand ist interessiert daran, welche Profession Du hast (oder denkst, zu haben). Viele Menschen reagieren sogar aggressiv, wenn sie merken, dass Du Fotograf bist. Warum? Weil sie Dich für einen Pressefotografen von der BILD halten.

Pressefotografen sind in ihren Augen das Schlimmste und wenn Du irgendwie profihaft rüberkommst, dann drückst Du bei ihnen den „Angreifen, JETZT!!!“-Knopf.

Wenn Du eine Rolle spielen willst, dann nimm lieber die des ahnungslosen, schrullig lächelnden Touristen, der seine Kamera ausprobiert. Das passt vielleicht Deinem Ego nicht, aber es hilft Dir garantiert, keine Paniken auszulösen.

Kauf Dir Fotobücher (statt einer neuen Kamera)

Der Terminus Straßenfotografie wird historisch gesehen noch nicht allzu lange als solcher gebraucht. Menschen haben schon immer fotografiert und wo sonst, wenn nicht zuhause? Auf der Straße. Im Park. Überall.

So gibt es millionenfach Literatur und Fotobücher, die Dir allesamt zeigen, wie Menschen andere Menschen fotografiert haben, ohne Fotos zu stellen. Das müssen nicht einmal Fotos aus der Stadt sein, wie der Band „Magnum Landscapes“* unterstreicht.

Der gesamte Bereich der Dokumentarfotografie* (ja, auch Reportagen aus Krisengebieten) sind daher von höchstem Interesse, wobei es selbstverständlich Unterschiede gibt.

Als Einstieg (und um einen Überblick zu bekommen), empfehle ich Dir das Buch „Street Photography Now“*. Du wirst darin nicht nur eine Menge Informationen darüber finden, welche Fotografen (und wessen Bücher) Du weiter verfolgen kannst, sondern bekommst auch einen gefühlten Container voller Inspiration.

Ignoriere

Finde Dich damit ab, dass Du in dem Moment, in dem Du offen Menschen auf der Straße fotografierst und die Bilder ins Netz stellst, vielen Leuten einen Grund gibst, Dich zu testen und Deine Position infrage zu stellen. Das ist gut so.

Denn Du musst lernen, Verantwortung für Dein Tun zu übernehmen und zu Dir zu stehen. Bleibe freundlich und akzeptiere die Positionen anderer. Du musst sie ja nicht übernehmen.

Wenn Menschen dennoch fies werden (und das werden sie), dann brauchst Du eine Strategie. Ich habe Leute in allen Netzwerken (und auch deren E-Mails) geblockt, weil sie nicht aufhörten, mich monatelang aufs Bitterste zu attackieren.

Es gibt Menschen, die reiten sich derart rein, dass sie nicht aufhören werden, Dich zu beleidigen. Jedoch ist es dann klug, eines zu wissen: Diese Menschen offenbaren dadurch ihre Persönlichkeit. Wer Dir vorwirft, ein Arschloch zu sein und das mit den Mitteln des eben benutzten Fäkalwortes tut, den brauchst Du keine Sekunde ernst zu nehmen.

Meine Devise: So lange wie nur möglich respektvoll und freundlich bleiben. Versuche, die Meinung der anderen zu verstehen und nachzuvollziehen. Wenn Leute aber erwarten, dass Du deshalb mit der Straßenfotografie aufhörst, wirst Du sie enttäuschen. Da müssen sie durch und das werden sie.

Mach einen Ausflug nach London

Nein, Du sollst nicht nach England ziehen (kleiner Insider). Jedoch kann es Dir gut tun, mal in einem Land zu fotografieren, in dem das Fotografieren von Menschen in der Öffentlichkeit vom Gesetzgeber erlaubt und gestattet ist.

Wenn Du dann wieder in Deutschland fotografierst, kann es sein, dass Dir das wesentlich leichter fällt. Und Leichtigkeit kann man immer brauchen, vor allem auf der Straße.

Ein Mann mit roter Brille.

Puh. Jetzt fallen mir noch 180 weitere Sachen ein, die ich aufführen könnte, wie Belichtungszeiten und ISO-Einstellungen, Bildkomposition, Bildbearbeitung in Lightroom und und und. Dennoch möchte es den ohnehin schon langen Artikel erst einmal so stehen lassen. Vielleicht komme ich ein anderes Mal drauf zurück.

~

Abschließend möchte ich sagen, dass ich sehr gern auf der Straße fotografiere. Ich habe seither viele nette Menschen kennengelernt, die mein Leben um vieles bereichert haben.

Meine persönliche Motivation ist die der Dokumentation. Ich möchte, dass in 30 oder 40 Jahren meine Bilder an ein Karlsruhe erinnern, wie ich es heute erlebe. Ich möchte Abertausende von Aufnahmen weitergeben, die zum Schmunzeln, Lachen und Erinnern anregen.

Hierzu habe ich einen künstlerischen Anspruch. Ich möchte, dass meine Bilder bewegen und einen gewissen visuellen Reiz haben. Nein, sie müssen nicht „schön“ im konventionellen Sinne sein, aber Betrachtern das Gefühl der Straße geben. Das ist rau, hektisch und schnell. So mag ich das.

* Das ist ein Affiliate-Link zu Amazon. Wenn Ihr darüber etwas bestellt, erhält kwerfeldein eine kleine Provision, Ihr zahlt aber keinen Cent mehr.

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