Fotograf, Karlsruhe, Mütze
03. April 2014 Lesezeit: ~10 Minuten

Sieh, das Gute liegt so nah

Letzte Woche erreichte mich unter meinem fotografischen Rückblick folgender Kommentar von Tobias Weisserth. Bezug nehmend darauf, dass ich in Karlsruhe wohne und Menschen auf der Straße fotografiere, schrieb er unter anderem Folgendes:

Für Fotografie braucht man Inspiration. Inspiration ist auch, wenn nicht vor allem, vom Ort abhängig. In deutschen Kleinstädten findet man das weniger. Ich weiß das, weil ich auch in sehr vielen deutschen Kleinstädten gelebt habe: Brühl, Kaiserslautern, Zweibrücken und einige andere. Karlsruhe fällt für mich auch in diese Kategorie. Ich habe mich nach dem Studium bewusst für eine Großstadt entschieden, auch wenn hier die Mieten dreimal bis viermal so teuer sind wie in einer Kleinstadt.

Nichts würde mich aus Hamburg in eine Stadt wie Karlsruhe bewegen können. Außerdem führt mich mein Beruf beinahe monatlich in Städte wie London, Paris, San Francisco, Las Vegas, Washington D.C., New York, Seattle, Turin. Ich war dieses Jahr bereits in Seattle und Las Vegas und werde im April wieder Zeit in Las Vegas, New York und San Francisco verbringen. DAS bringt Inspiration!

Auch wenn ich nicht hauptberuflich Fotograf bin, habe ich mein Leben und meinen Beruf nach meinen fotografischen Bedürfnissen ausgerichtet. Der wesentliche Bestandteil dieser Ausrichtung ist das heimische Umfeld und die Möglichkeit, regelmäßig an verschiedene Orte der Welt zu reisen.

Statt einer fotografischen Pause würde ich einfach mal einen fotografischen Ortswechsel empfehlen und Karlsruhe Karlsruhe sein lassen und andere Bühnen erkunden, vielleicht auch längerfristig mit einem Umzug in andere Stadt oder gar in ein anderes Land.

Warum ich hier darauf eingehe

Als ich letzte Woche von einem Bekannten auf Tobias’ Kommentar angesprochen wurde, merkte ich im Gespräch darüber, wie viel das Thema eigentlich hergibt. Denn es geht hier nicht um Tobias, sondern um die Aussage, die nicht selten in fotografischen Kreisen kursiert.

Doch damit ich das Thema nicht irgendwie mit metaphorischem Herumgeschwurbel erklären muss, habe ich mich entschieden, das letzte Drittel seiner Worte hier zu zitieren. So kann niemand behaupten, dass „sowas doch keiner denkt“.

Wichtig: Das Zitat oben behandelt nur den letzten Teil des Kommentars, den ganzen Kommentar könnt Ihr hier nachlesen.

Spezifikationen des Artikels

Ich bin kein Profi. Weder mag ich die Bezeichnung, noch bin ich der Schlaumeier vom Bau. Zwar geben sich „Profi-Fotografen“ gerne als solche aus, doch – oder gerade weil – die Erwartungen an mich oft in dieser Form geäußert werden, möchte ich mich direkt davon distanzieren.

Ich argumentiere hier als Mensch und kann deshalb nur von mir und meinen subjektiven, bruchstückhaften Erfahrungen sprechen.

Kommentierung des Kommentars

Ich werde nun einzelne Aussagen von Tobias herausgreifen und besprechen.

Für Fotografie braucht man Inspiration. Inspiration ist auch, wenn nicht vor allem, vom Ort abhängig.

Zu allererst wird hier die Argumentationsgestaltung von Tobias deutlich. Er setzt eigene Erfahrungen absolut, er spricht (wenn auch unbewusst) von „man“. Und „man“ wird im deutschen Sprachgebrauch stellvertretend für ich/wir benutzt. Oder auch als gedachte Person, die nach eigenem Ermessen richtig handelt1.

Im ersten Satz mag das noch passend sein, doch schon ab dem zweiten wird es haarig. Inspiration ist seiner Aussage nach vom Ort abhängig. Für alle.

Ich möchte an dieser Stelle im oben aufgeführten Kontext bleiben: Straßenfotografie. Diese findet an Orten statt, an denen sich Menschen aufhalten. Dörfer, Kleinstädte, Großstädte. Sogar in der Natur.

Daher würde ich sagen: Straßenfotografie ist natürlich vom Ort abhängig, aber von welchem ist – Gott sei Dank – jeder Person selbst überlassen. Und somit auch die …

Inspiration

Wer sich von welchem Ort inspiriert fühlt, ist so offen, wie Oma Friedas Scheunentor morgens um fünf. Inspiration hat so viele Gesichter, dass sie sich eben nicht an einen Ort binden lässt.

Um bei mir zu bleiben: Inspirierend ist für mich das Leben, wie es ist. Gespräche mit Freunden, Bücher und vor allem Bildbände. Diese führen mir vor Augen, wo Fotografen gelebt haben und wie sie damit umgegangen sind.

Und ganz besonders fühle ich mich inspiriert, wenn ich durch Karlsruhe laufe. Hier bin ich zuhause, kenne mich aus und fühle mich auf gewisse Weise mit den hier lebenden Menschen verbunden. Das Wörtchen Heimat kommt hier auch ins Spiel.

In deutschen Kleinstädten findet man das weniger. Ich weiß das, weil ich auch in sehr vielen deutschen Kleinstädten gelebt habe: Brühl, Kaiserslautern, Zweibrücken und einige andere. Karlsruhe fällt für mich auch in diese Kategorie.

In deutschen Kleinstädten findet man das (= Inspiration) weniger. Aha? Nochmal: Hätte Tobias „ich“ statt „man“ geschrieben, kein Problem.

Jedoch möchte ich dem Ganzen mal eines entgegensetzen: Ich mag deutsche Kleinstädte. Sehr sogar. Sie mögen trist und karg sein, vielleicht sogar hässlich. Manche Ecken sind wunderbar architektonisch gestaltet, andere brutal versifft, vernachlässigt und kaputt.

Was ist daran nicht liebenswert? Warum kann mich das nicht inspirieren? Gerade die Interaktion der dort wohnenden Menschen mit urbanen Elementen festzuhalten, kann sehr herausfordernd sein.

Außerdem führt mich mein Beruf beinahe monatlich in Städte wie London, Paris, San Francisco, Las Vegas, Washington D.C., New York, Seattle, Turin. Ich war dieses Jahr bereits in Seattle und Las Vegas und werde im April wieder Zeit in Las Vegas, New York und San Francisco verbringen. DAS bringt Inspiration!

Schön! Auch ich war schon in diversen „Weltstädten“ wie New York, Paris, Barcelona und und und. Ich liebe es, mir unbekannte Kulturen kennenzulernen. Das ist erfrischend, neu und wirklich spannend. Jedoch sind sie für mich nicht per se besser oder schlechter zum Fotografieren geeignet als Karlsruhe.

Ich mag Karlsruhe sehr. Warum? Weil es mir auch emotional nahe ist, weil ich meine eigene Geschichte damit verbinde, weil es ein bisschen zu mir gehört. Gerade das ist für mich (wohlgemerkt: für mich) fotografische Herausforderung und zugleich Arbeit an meiner handwerklichen Kompetenz.

Ganz nebenbei bin ich nicht so reich, dass ich regelmäßig Ausflüge in allerlei Weltstädte buchen könnte. Ich kann es mir schlicht und einfach nicht leisten. Und wenn ich ehrlich bin, will ich auch nicht. Ich habe hier die besten Freunde und meine Familie. Und das spielt für mich eine große Rolle.

Umzug?

Statt einer fotografischen Pause würde ich einfach mal einen fotografischen Ortswechsel empfehlen und Karlsruhe Karlsruhe sein lassen und andere Bühnen erkunden, vielleicht auch längerfristig mit einem Umzug in andere Stadt oder gar in ein anderes Land.

Wir sind also an der Spitze der Argumentation angekommen. Tobias rät mir, umzuziehen. Zur Not sogar in ein anderes Land.

Nun, ich werde mal die Inspiration Inspiration sein lassen und hier keine Haarspalterei betreiben.

Wenn die Konsequenz des Fotografierens jedoch sein sollte, dass ich nicht mehr dort leben kann, wo ich zuhause bin, dann male ich lieber kitschige Bilder von Bachblüten oder suche mir ein anderes Hobby.

Jedoch ist die Fotografie für mich exakt das Gegenteil. Sie bedeutet, achtsam und – Achtung, antiquiertes Wort – dankbar für das zu sein, was um mich herum ist. Hinter die Dinge und Personen zu schauen und selbige nicht als selbstverständlich zu sehen.

Ich für meinen Teil ziehe es jedenfalls vor, so zu arbeiten, als der Inspiration hinterherzureisen. Denn auch – man glaubt es kaum – ein Paris, New York oder Frisco kann irgendwann langweilig werden.

Und dann?

Langeweile

Vor nicht allzu langer Zeit hat mir ein ambitionierter New Yorker Straßenfotograf gestanden, dass er New York inzwischen schrecklich langweilig fände. O-Ton: „It bores the hell out of me.“

Er kenne mittlerweile jede Straße auswendig (und das muss was heißen), es gäbe nichts Neues mehr und außerdem wäre es seiner Ansicht nach nichts Außergewöhnliches, in solch einer Weltstadt zu fotografieren. Das könne jeder.

Immer, wenn ich ihm von Karlsruhe erzählte, bekam er große Augen. Wollte mehr davon hören. Für ihn war dieses unbekannte Karlsruhe, das er nur von meinen Bildern kannte, überhaupt nicht langweilig.

Mir hat das zu denken gegeben.

Ich glaube, dass ich als Straßenfotograf die Aufgabe habe, meine Heimat zu dokumentieren. Den Ort, an dem ich lebe, zu karikieren, einzufangen, plastisch zu machen. Damit sich Menschen in 30 Jahren daran erinnern können, wie es damals war.

Für mich ist das Inspiration. Und ich muss nur zur Haustür hinauslaufen und es kann losgehen. Ist das nicht toll? Finde ich schon.

Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Mihály Csíkszentmihályi, einem emeritierten Professor für Psychologie an der University of Chicago, aus seinem Buch „Creativity: Flow and the Psychology of Discovery and Invention“*:

[…] creative individuals are remarkable for their ability to adapt to almost any situation and to make do with whatever is at hand to reach their goals.

Dieses Zitat schließt beides mit ein: Menschen, die sich an neuen Orten schnell anpassen können und diejenigen, die auch in der Heimtatstadt klarkommen. Kreativ zu sein, ist nicht entweder oder. Es ist mehr. Denn es hat etwas mit Persönlichkeit zu tun.

1 Quelle: Wiktionary zu „man“

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