27. Juni 2022 Lesezeit: ~10 Minuten

Farbenfreude und Zweidimensionalität

Als ich zum ersten Mal Guidos abstrakte Straßenfotografien sah, dachte ich zunächst, er wäre Maler. In seinen Bildern gelingt es ihm, die wuseligen Straßen so minimalistisch und grafisch zu zeigen wie kaum jemand sonst. Wie er dazu kam und wie er das macht, verriet er mir im Interview.

Hallo Guido, kann man mit Dir durch die Stadt spazieren, ohne alle zwei Minuten anhalten zu müssen?

(Lacht.) Wenn ich eine Kamera dabei habe, wird das wirklich schwierig. Deswegen habe ich, wenn ich zum Beispiel mit meiner Freundin unterwegs bin, die Kamera oft ganz bewusst auch nicht dabei.

Wie oft ärgerst Du Dich dann, weil Du doch ein tolles Motiv siehst?

Das geht. Es gibt nur ganz wenige Situationen, die niemals wiederkommen. Ich merke mir in solchen Fällen einfach die Ecke und gehe später noch einmal dorthin. Bis dahin kann ich mich auch über das nur im Kopf gemachte Foto freuen.

Grafisches Bild einer Frau auf einer Treppe

Deine Bilder sind auch meist sehr abstrakt und kommen ohne Menschen aus, sodass es sicher leichter ist, einfach später noch einmal zurückzukommen und ein Foto nachzuholen.

Genau.

Du lebst in Hannover. Entstehen dort auch die meisten Deiner Bilder oder bist Du viel unterwegs, um Motive zu finden?

Ja, die meisten Fotos entstehen in Hannover. Ich reise zwar gern, aber ich schaffe es nicht so häufig. Und wenn ich andere Orte besuche, dann brauche ich meist auch ein wenig Zeit, um erst einmal anzukommen. Es fällt mir schwer, nach sechs Stunden im Zug direkt auf Bildersuche zu gehen.

Das Gute am Fotografieren vor der Haustür ist ja auch: Wenn ich richtig Lust habe, kann ich einfach rausgehen. Deshalb entstehen die meisten Bilder auf jeden Fall hier.

Schattenriss eines Kindes auf der StraßeFrau auf der Straße

In Deinen minimalistischen Bildern erscheinen die Städte so farbenfroh. Wenn ich durch Köln laufe, sehe ich solche Farben nicht. Bin ich einfach nicht aufmerksam genug oder ist Hannover besonders bunt?

Die Innenstadt Hannovers ist tatsächlich nicht besonders bunt. Es sind häufig die Außengebiete, die farbiger sind. Ausfallstraßen zum Beispiel sind gute Orte, weil es dort Gebäude gibt, die Aufmerksamkeit wecken wollen: Einkaufszentren, Tankstellen, Möbelgeschäfte – die sind häufig sehr mit Farben besonders gestaltet.

Zum anderen ist es aber auch ein Filter, den man anschaltet. Ich habe einen starken Trigger für Farben und wenn ich danach suche, sehe ich sie auch vermehrt. Die Farbintensität hängt dann auch immer vom Wetter und Licht ab. Bei grauem Wetter leuchten die Farben nicht so schön wie im Sonnenschein.

Eine Deiner Serien beschäftigt sich mit Silhouetten, eine andere mit Spiegelungen und in einer weiteren verbindest Du durch das Perspektivspiel den Vorder- mit dem Hintergrund. Läufst Du damit nicht Gefahr, zu sammeln?

Ja, es sind keine ausgearbeiteten Serien, die Bilder sind thematisch sortiert. Damit möchte ich zunächst einen Überblick über meine Arbeit bieten, die sich in den Grenzbereichen zwischen Mnimal- Street- und abstrakter Architekturfotografie bewegt.

Aber es sind dann immer noch Sammlungen. Versteh mich nicht falsch, ich sehe daran nichts Schlechtes. Die Straßenfotografie macht es einem tatsächlich nicht leicht, nicht ins Sammeln zu kommen. Aber ich frage mich, ob das mit der Zeit nicht langweilig wird und ob es nicht auch spannend wäre, mit den Bildern der Straße Geschichten zu erzählen.

Langweilig wird mir ganz bestimmt nicht auf der Straße. Dafür gibt es immer noch viel zu viel zu entdecken, auch in altbekannten Straßen passiert jeden Tag etwas Neues. Ich bin immer noch „heiß“ auf die Weiterentwicklung. Staßenfotografie erzählt im Gegensatz zur Reportage eine Einzelbildgeschichte. Jedes Bild steht zunächst für sich.

Ich denke in dem Moment des Auslösens nur an die Szenerie direkt vor mir, aber dennoch verfolge ich dabei Themen, die mich interessieren. Eins davon ist das Spannungsverhältnis zwischen den urbanen Landschaften und den menschlichen Formen darin.

Du hast Recht, aus den Sammlungen können durch Zusammen- und Gegenüberstellungen weitere Ebenen des Storytelling entstehen. Die Bilder stärken sich dabei, wenn man es gut macht. Das möchte ich gern in einem zukünftigen Buch umsetzen. Es gibt erste Entwürfe einer Serie, in der abstrakte flächige Arbeiten Fotografien von Menschen gegenüber stehen. Darin korrespondiert die Form der Körper mit den abstrakten Formen. Das wird ein großes Projekt für den Winter. Gut, dass Du mich auch noch einmal in diese Richtung schubst.

Gelbe Jacken, eine Hand hällt den Stoffgrafische Formen

Deine Serien sind zum Teil auch gar nicht ausschließlich der Straßenfotografie zuzuordnen. Gerade die abstrakten Serien liegen vielleicht sogar eher in der Architekturfotografie. Wie kam es dazu?

Diese Serien waren tatsächlich eine Reaktion auf die Pandemie. Ich hatte im April 2020 Urlaub und wollte mit dem Straßenfotografie-Kollektiv Unposed Society aus Hannover bestimmte Straßenbahnlinien verfolgen. Alle Teilnehmenden hatten eine Linie zugeordnet bekommen und sollten dann entlang dieser fotografieren.

Aber genau dann ging die Pandemie los. Es war herrlichstes Licht und bestes Wetter, aber kein Mensch war auf der Straße. Für mich als Straßenfotograf war das ein Dilemma: Ich wollte raus, aber alle meine Motive waren zuhause geblieben.

Ich bin dann trotzdem dieser Linie gefolgt und habe zunächst aus Langeweile die Linien, Farben und Formen festgehalten. Das waren an sich schon immer Sachen, die mich interessiert haben, aber ich habe sie bis dahin nicht verfolgt, weil ich mir selbst eine Schranke im Kopf gesetzt hatte: Ich bin Straßenfotograf und dazu gehören Menschen auf der Straße.

Aber Straßenfotografie ist alles, was urban ist. Es muss nicht zwangsläufig ein Mensch zu sehen sein, sondern menschliches Wirken. So habe ich mein eigenes Verständnis und meinen Begriff von Straßenfotografie erweitert.

grafisches Bildgrafisches Bild

Deine abstrakten Serien sind auch wirklich stark. Teilweise wirken sie wie Gemälde und ich verstehe nicht immer, was ich da eigentlich sehe. Wenn Du „Öl auf Leinwand“ darunter schreiben würdest, würde man es wohl glauben.

Das ist wirklich verrückt. Wenn ich Ausstellungen habe und die Leute nur schnell daran vorbeigehen, dann denken sie erst einmal: „schöne Farben, schöne Formen“ und gehen zu 100 % zunächst davon aus, dass meine Bilder gemalt sind. Wenn sie dann aber im Nebengespräch mitbekommen, dass es Fotografien sind, entstehen Fragen: Wie geht das denn? Was ist oben und unten? Wie hängt das zusammen?

Diese Fragen habe ich in meinem Leben selbst sehr häufig durch meine Art des Sehens. Ich nehme alles zweidimensional wahr. Es ist lustig, dass andere Menschen durch meine Fotos nun ein ähnliches Erlebnis haben wie ich in meinem Alltag.

Du sprichst es schon an und klickt man auf Deiner Webseite auf „Über mich“, erfährt man direkt im ersten Satz von Deiner Sehbehinderung. Ich habe mich gefragt, warum Du den Fakt so hervorhebst. Du hast Dir sicher sehr viele Gedanken gemacht, wie und ob Du es erwähnst.

Ich habe wirklich viel darüber nachgedacht. In meiner Geschichte geht es viel darum, anderen Mut zu machen und sie darin zu ermutigen, dem zu folgen, was sie lieben und was sie fasziniert. Und nicht dem, was sie angeblich nicht können.

Ich bin auf dem linken Auge blind und auf dem rechten Auge habe ich ein Sehvermögen von 25 %. Ich habe mich früher sehr von der Meinung anderer Leute beeinflussen lassen. Man hat mir gesagt: Du siehst kaum was, Du kannst doch nicht fotografieren. Mir ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass man mit Zuschreibungen, was jemand kann und was nicht, vorsichtig sein muss. Mittlerweile weiß ich, dass es in der Fotografie zwar auch darauf ankommt, wieviel man sieht. Doch viel wichtiger ist es, wie man sieht und es fotografisch umsetzen kann.“

Vogel auf grafischem DachGrafisches Bild

Das Spannende ist ja sogar, dass Du in Deinen Arbeiten zeigst, wie gut Du siehst. Anders, aber gerade in der zweidimensionalen Wahrnehmung weit besser als ich.

Genau. Meine Art zu sehen gehört zu mir und beeinflusst natürlich auch meine Art der Fotografie. Wenn ich normal sehen könnte, würde ich vielleicht mehr in diese ganz klassische Straßenfotografie gehen. Ich liebe dieses Dokumentarische, aus der Hüfte heraus schießen, Situationen sofort erfassen und auslösen. Aber dafür bin ich zu langsam.

Ich sehe das aber gar nicht als Makel. Es ist eine Form von Einschränkung, die mich zwingt, mich auf andere Art und Weise mit meiner Umgebung und meiner Fotografie auseinanderzusetzen. Daraus ist dieses Spiel mit der Dimensionalität entstanden.

Du hast vorhin auch erwähnt, dass Du Teil des Straßenfotografie-Kollektivs in Hannover bist. Ich weiß, dass die Truppe Anfang Juli jetzt ein kleines Festival namens „Meet&Street“ in Hannover plant. Bist Du auch dabei?

Ja, ich freue mich schon sehr darauf. Alle, die dabei sind, bringen drei Bilder mit und hängen sie am Samstag öffentlich auf. Man macht die Bilder quasi zum Geschenk und das Publikum kann sie mitnehmen. Es wird um Spenden gebeten, aber die Höhe kann jede Person für sich wählen. Die Einnahmen gehen dann an das Asphalt-Magazin – das soziale Straßenmagazin hier in Hannover.

grafisches Bild mit Schattenriss einer Person

Das heißt, wenn jemand dieses Interview liest und Deine Bilder toll findet, muss diese Person am 9. Juli sehr, sehr schnell sein, weil es nur drei Fotos von Dir gibt?

(Lacht.) Genau.

Oder die Person schaut einfach mal auf Deine Webseite. Dort gibt es auch einen Shop mit vielen Drucken, habe ich gesehen.

Das wäre natürlich auch super.

Dann wünsche ich Dir noch ganz viel Erfolg und vielen Dank für das Gespräch!

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