Es geht um den richtigen Moment
Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Straßenfotografin Nina Welch-Kling aufmerksam wurde, aber ich weiß noch, dass mich ihre Bilder sofort faszinierten. Jedes erzählte mir eine Geschichte. Während ich den Großteil der Straßenfotografie oft als sehr dokumentarisch wahrnehme, verband ich mit ihren Bildern Emotionen. Ich bat sie deshalb um ein Interview, um mehr über sie und ihre Straßenfotos zu erfahren.
Ich habe gelesen, dass Du aus Schweinfurt kommst. Hast Du dort schon fotografiert? Wie war der Wechsel von einer bayrischen Kleinstadt in die Megastadt New York?
Ich habe meine Liebe zur Fotografie verhältnismäßig spät entdeckt. Da war ich schon Mitte 40. Und das auch nur per Zufall. Während ich von meinen Fotografien Ölbilder kreierte, bemerkte ich, dass mir das Fotografieren sehr viel mehr Spaß machte, mehr als das Malen selbst. So hat mich eine Kunst zur nächsten gebracht.
Ich bin tatsächlich in der kleinen fränkischen Stadt Schweinfurt groß geworden. Kein Vergleich zu New York – aber vielleicht ist es gerade diese Polarität, die mich New York mit anderen Augen sehen lässt. Keine andere Stadt – ich habe früher in Chicago und Los Angeles gelebt – zieht mich so in ihren Bann.
Also hast Du zuerst fotografiert, um Vorlagen für Deine Malerei zu haben. Wie hast Du von diesem Punkt zur Straßenfotografie gefunden?
Ich habe im College einen Einstiegskurs für Fotografie belegt. Doch zu dieser Zeit hatte ich noch keine Ahnung, was es heißt, zu fotografieren oder welche Kamera man benutzt. Erst viel später kaufte ich mir meine erste Kamera, eine DSLR, und meldete mich bei einem Onlinekurs an. Damals fotografierte ich Blumen über Blumen, denn das sind wunderbar geduldige Modelle. Doch der Reiz der Blumen verwelkte und ich belegte verschiedene Kurse am „International Center of Photography“ in New York.
Ich war wohl unbewusst auf der Suche nach meiner fotografischen Bestimmung. Als ich dann einen Kurs für Straßenfotografie belegte, wusste ich: Das bin ich, hier kann ich mich ausdrücken. Ich bin stundenlang durch New York gelaufen, um Motive einzufangen. Meine eigenen Ansprüche sind hoch und so dauerte es manchmal sehr lange, bis ich ein Foto im Kasten hatte, das mir wirklich gefiel.
Hast Du bei Deinen Spaziergängen durch die Stadt eine bestimmte Bildidee im Kopf? Ein Motiv, nach dem Du suchst?
Generell habe ich keine bestimmten Bildideen im Kopf. Ich halte Ausschau nach ungewöhnlichen Details im Straßenleben. Dabei bin ich sehr wetterabhängig. Bevor ich das Haus verlasse, überlege ich mir, in welchem Teil der Stadt das Wetter alltägliche Szenen am besten inszeniert. Wenn es sehr sonnig ist, suche ich nach kontrastreichen Straßenecken, im Schneesturm nach anonymen Figuren, die durch die Straßen ziehen und den Maßstab der Gebäude hervorheben.
Licht zieht mich wie eine Motte an. Interessante Menschen kann ich überall in der Stadt finden, aber Licht ist wie Magie – es kann Gewöhnliches in etwas Besonderes verwandeln.
Du sprichst von kontrastreichen Straßenecken oder der einsamen Figur im Schneesturm. Das sind für mich eher die typischen Aufnahmen, die man in der Straßenfotografie erwartet. Deine Arbeiten empfinde ich im Gegensatz dazu als ganz überraschend und alles andere als langweilig. Wie schaffst Du das in einer Stadt wie New York, von der gefühlt jeder Zentimeter bereits fotografiert wurde?
Das ist eine Frage, über die ich erst einmal länger nachdenken musste. Ich denke, dass meine Fotografien nicht direkt mit der Stadt New York zusammenhängen. Diese Stadt bietet eine fantastische Kulisse – aber theoretisch könnte es jede andere Stadt auf der Welt ein. Meine Bilder sind eher Lichtspielereien, in denen Personen eine Nebenrolle spielen.
Ich versuche meist, die Menschen durch Licht oder Wetterbedingungen anonym zu halten. Meine Fotografien sind oft Fragmente – eine Geste oder ein Detail, das aus dem Alltagsbild herausragt. Das Gesamtbild lässt den Betrachtenden den nötigen Raum, um die eigene Fantasie zu aktivieren. Es sind immer Momentaufnahme, die das Hier und Jetzt festhalten.
Ist es für Dich wichtig, die Stadt gut zu kennen, in der Du fotografierst? Wie ist das Arbeiten in einer Dir fremden Stadt, verändert es Deine Bilder?
Nicht unbedingt. Natürlich kann es von Vorteil sein, bestimmte Faktoren im Umfeld zu kennen, so kann ich meine Aufnahmen etwas besser planen, zumindest was die Lichtverhältnisse angeht. Oder ich weiß zum Beispiel, dass an einem gewissen Ort, den ich kenne, viele Menschen sein werden – einfach weil das jeden Tag so ist.
Ansonsten sind meine Bilder das Ergebnis meiner intuitiven Sekundenreaktion. Es geht um den richtigen Moment – ich lauere quasi auf eine Überraschung. Und diese Überraschung kann ich in jeder Stadt finden.
In den letzten Monaten bin ich ja – wie fast alle – auf Grund der Pandemie wenig verreist. Jetzt freue ich mich auf neue Städte und Gegebenheiten. Ich liebe es, mich ins bunte Leben zu schmeißen und die Welt um mich herum intensiv durch meine Linse zu erkunden und festzuhalten.
Mich ziehen hauptsächliche bestimmte Lichtverhältnisse an – aber manchmal lasse ich mich einfach treiben und schaue, was passiert – folge meinem Instinkt. Es ist mir auch schon passiert, dass ich eine Person so interessant fand, dass ich ihr gefolgt bin, um sie im richtigen Moment zu dokumentieren.
Auf diesen Verfolgungsgängen bin ich oft so in meine Gedanken versunken, dass ich gar nicht mehr weiß, wo ich bin nun schon wieder gelandet bin. So bin ich schon öfters in fragwürdigen Gegenden gelandet.
Vielleicht noch wichtig zu wissen: In New York ist es legal, alles „Öffentliche“ zu fotografieren, in anderen Ländern gibt es natürlich andere Sitten und Bräuche. Das macht es mir nicht unbedingt leichter und ich fühle mich manchmal fast wie eine „Stalkerin“.
Die Pandemie hat auch dazu beigetragen, dass die Menschen eher auf Abstand sind.
Hast Du einen Lieblingsstadtteil in New York? Etwas, wo es Dich besonders häufig hinzieht?
Meine Lieblingsstadtteile sind Midtown (5th bis 7th Avenue), Chinatown und auch die Staten Island Ferry. Auf dieser Fähre mischen sich Urlaubsgäste mit New Yorker*innen und es gibt immer etwas zu entdecken. Außerdem genieße ich die kühle Brise an einem heißen Sommertag.
In Chinatown ist das Licht auf Grund der niedrigen Gebäude völlig anders als im restlichen Manhattan. Das bunte Treiben vor den Fisch- und Marktständen, die Beerdigungen am Rande des Stadtteils erinnern mich an ein New York der Vergangenheit. Und genau diese Mischung finde ich faszinierend.
Mich zieht es auch oft nach Midtown. Besonders vor der Pandemie war dort immer viel los. Geschäftsleute, die sich einen Mittagssnack holten oder einfach vor den klimatisierten Büros die Sonne genossen. Mein Auge hat dort viel zu entdecken.
Du hast die Pandemie bereits angesprochen und dazu auf Deiner Webseite auch eine sehr melancholische und poetische Serie veröffentlicht. Wie ging es Dir im Lockdown und wie wichtig war es Dir in dieser Zeit, die Kamera dennoch in die Hand zu nehmen?
Die ersten Monate der Pandemie waren sehr schwierig – ich lebte mit meinem Mann, meinen zwei erwachsenen Töchtern und einer Katze auf relativ wenigen Quadratmetern im 37. Stock eines New Yorker Hochhauses. Die Wohnung zu verlassen, erschien mir wie eine unüberwindbare Hürde: Da war der Flur, der Aufzug, ängstliche Augen, die hinter Masken hervorschauten. Fotografie war eine der wenigen Aktivitäten, die mich, wenn auch für nur kurze Zeit, der Realität entziehen ließ.
Ich bin oft nachts auf die Straße gegangen, um zu fotografieren. New York war still und dunkel, aber der Rhythmus meiner Schritte hatte eine beruhigende Wirkung auf mich und das Nachtlicht half mir, meine Ängste besser auszudrücken. Die Bilder, die während der Pandemie entstanden, gleichen einem Tagebuch und geben seltene Einblicke in meine Privatsphäre. Fotografieren war während der Pandemie besonders wichtig für mich.
Das verstehe ich. Vielen Dank für das Interview und die Offenheit!
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 16. Juli 2021 veröffentlicht.