Von der drogeninduzierten Psychose zur Fotografie
Ich habe angefangen, zu fotografieren, als ich eine drogeninduzierte Psychose hatte und eine Beschäftigung brauchte. Die meisten Menschen erholen sich davon nicht oder müssen lebenslang Medikamente nehmen. Das war auch meine Perspektive, die mir in Aussicht gestellt wurde, als ich mich 2011 selbst in die Psychiatrie einwies. Ich kannte einige Leute mit ähnlichem Schicksal, die infolgedessen alle „Medikamentenkarriere“ machten – aber ich wollte das nicht.
Aufgewachsen in einer für mitteleuropäische Verhältnisse sehr abgeschiedenen Kleinstadt in Brandenburg unmittelbar nach der Wende, gerieten viele meiner Bekannten sehr früh in den Kontakt mit Drogen. Bei mir fing es im Alter von 11 oder 12 Jahren an, als mich mein Cousin dazu überredete, das auch mal auszuprobieren. Und danach ging es steil bergab. Vier meiner fünf Cousins mütterlicherseits waren sehr involviert mit Drogen – ich war familiär vorbelastet.
Die Abgeschiedenheit der Kleinstadt, die Generationenlücke, die sich zwischen den um die Wendezeit geborenen Kindern und der von der Indoktrination des sozialistischen Regimes geschädigten Generation unserer Eltern und Großeltern größer als üblich auftat, die Suggestivwirkung der amerikanischen Fernsehfilme, die zu dieser Zeit einen großen Teil unseres Plattenbaufensters zur Welt ausmachten und Waffen als Symbole der Macht und Drogen als Zeichen der „Coolness“ anpriesen, die aufkommende Hip-Hop Kultur – all das tat sein Übriges und im Alter von 13 oder 14 Jahren war schon nicht mehr viel mit mir anzufangen.
Ich fing an, Drogen zu verkaufen. Unter anderem für meinen Cousin und weil ich schlecht wirtschaftete und mehr von meinem Eigenanteil nahm als ich verkaufte, machte ich statt Gewinn Verluste. Ich verlor Geld, das ich nicht einmal hatte. Das musste irgendwo herkommen und so nahm ich es aus der „geheimen“ Kasse in unserem Wohnzimmer, in der dann unter anderem auch mein Jugendweihegeld lagerte.
Als fast alles aufgebraucht war, bemerkten es meine Eltern. Es gab eine riesen Szene und da flog alles zum ersten Mal richtig auf. Meine Eltern wussten nicht mit der Situation umzugehen, hatten in ihrer Ehe auch ihre eigenen Probleme und so wurde alles immer schlimmer. Ich lief ein paar Mal von zu Hause weg, kam aber immer kurze Zeit später wieder zurück.
Nachdem ich die Schule mit erweitertem Hauptschulabschluss beendete und ein Versuch, diesen zu verbessern am Schuleschwänzen und Kiffengehen scheiterte, fing ich eine Ausbildung zum Grafikdesigner an. Mein Vater unterstützte mich finanziell, aber aufgrund allgemeiner Unfähigkeit, einen Haushalt zu führen und – sowieso – der Unfähigkeit, den grundlegenden Aufgaben des Alltags zu begegnen, scheiterte ich bald.
Nach der Grafikdesignausbildung folgten Helfertätigkeiten und eine Phase der Obdachlosigkeit in Berlin, in der meine Drogenkarriere große Fortschritte machte. Ich stieg mit jedem bisschen Geld, das ich irgendwie auftreiben konnte, rasant die Karriereleiter auf und machte erst vor Heroin wieder Halt.
Soweit kam es nicht, denn zu dieser Zeit war ich schon extrem psychotisch, baute allerlei Mist, den ich noch lange später bereuen sollte. Ich wachte ein paar Mal nackt vor der Haustür meiner Eltern auf, die Kleidung auf der Straße verteilt.
Ich hatte lange Zeit das Gefühl, es hätten sich alle gegen mich verschworen und ich könnte niemandem vertrauen, alle würden sich über mich lustig machen und Blogs darüber im Internet schreiben. Ich durchsuchte die Handys meiner Freund*innen, wenn sie schliefen, schaute nach, was sie so schrieben und bezog jede noch so entfernte Ähnlichkeit auf mich. Ein Symptom, das man Beziehungswahn nennt – und das vielleicht Bezugswahn heißen sollte.
Das steigerte sich immer mehr und durch eine Reihe glücklicher Umstände realisierte ich noch, dass etwas mit mir nicht stimmte – was bei Menschen, die an Schizophrenie erkranken, die Ausnahme ist. Ich ging zu meiner Hausärztin, die mich an eine psychiatrische Klinik überwies.
Der Aufenthalt dort war ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Man stellt sich eine Psychiatrie oder eine psychiatrische Station immer laut und chaotisch vor, aber es war das komplette Gegenteil davon. Es war extrem still. Beim Essen, wenn alle Patient*innen in einem Saal waren, herrschte fast völlige Ruhe, es wurde kaum gesprochen. Das war eine komische Atmosphäre. Jeder bleibt im eigenen Kopf.
Das lag wahrscheinlich zu einem großen Teil an den Medikamenten; ich weiß es nicht genau, um ehrlich zu sein. Ich lehnte Medikamente ab und gegen meinen Willen durfte man mir auch keine verabreichen. Die Perspektive, die mir in Aussicht gestellt wurde, war aber, dass lebenslange Medikation die einzige Chance wäre, wieder gesund zu werden und zu bleiben.
Ich hatte genug von irgendwelchen Substanzen, fand den Aufenthalt dort unglaublich erdrückend und so entließ ich mich nach knapp zwei Wochen gegen den Rat des Stationsarztes. Dieser lächelte, als ich ging und sagte mir, dass „wir uns ohnehin bald wiedersehen“ würden.
Ich kam sieben Jahre später wieder. Im Rahmen der Arbeit an meinem Buch, um meine Krankenakte abzuholen. Der Arzt arbeitete nicht mehr dort und der Chefarzt für Psychiatrie, mit dem ich stattdessen einen Termin bekam, entschuldigte sich und zeigte sich sehr gerührt von meiner Geschichte.
Er sagte sogar, dass ihn das daran zweifeln lasse, ob der medikamentöse Weg, den die Schulmedizin als obligatorisch betrachtet, wirklich immer der richtige ist und ob sich Ärzt*innen denn nicht viel öfter irren, als sie eigentlich glauben.
Nachdem ich mich damals selbst entlassen hatte, lebte ich wieder bei meinen Eltern in der Abgeschiedenheit der Kleinstadt. Um die Sucht und den alten Lebensstil zu überwinden, brauchte ich eine Beschäftigung. Ich versuchte, zu arbeiten, musste eine Stelle als Kellner aber nach wenigen Wochen schon wieder aufgeben.
Eine gute Freundin hatte mir einige Monate zuvor eine alte Kamera geschenkt, mit der ich bis dahin einige Fotos gemacht hatte. Und irgendwie fügten sich die Dinge so, dass ich mich entschloss, mich in die Fotografie hineinzusteigern. Ich fing an, alles über Fotografie zu lernen. Ich brachte die Filme zur Entwicklung zum örtlichen Drogeriemarkt.
Dieses Auf-die-Filme-Warten und die Ungewissheit, ob bestimmte Motive auch so geworden sind, wie ich es mir erhofft hatte, die Faszinationen dieses Apparates und die Schwierigkeiten, die mir das Lesen zu der Zeit bereiteten – all das half mir, mich irgendwie abzulenken und die Psychose, die ich auf einer Schmerzskala für psychische Schmerzen mit einer konstanten 8 beurteilen würde, eventuell zu überwinden.
Ich habe in meinem Buch versucht, diese Faszination für das Analoge, die Spannung des Wartens und auch die Enttäuschung, wenn die Bilder zum hundertsten Male nicht so geworden waren, wie ich es mir erhofft hatte, rüberzubringen. Für uns alle war dieses Erleben des Fotografieren-Lernens und die Spannung, Neues auszuprobieren, anders, aber ich habe versucht, zumindest meinen Weg zu zeigen und es vielleicht ein bisschen für andere nach-erlebbar zu machen.
Jedenfalls wurde ich etwa 6 Jahre später, im Alter von 26 Jahren, immer noch mit erweitertem Hauptschulabschluss zum Fotografiestudium zugelassen, was für mich an ein Wunder grenzte. Ich hatte Hartz IV beantragt und natürlich versuchen die, einen immer direkt in eine Maßnahme zu stecken, vor allem wenn man keine Ausbildung hat.
Irgendwie schaffte ich es aber, meine Sachbearbeiterin davon zu überzeugen, mir eine Chance zu geben und mir ein halbes Jahr Hartz IV zu bewilligen, ohne es an allzu große Verpflichtungen zu knüpfen. Außer, dass ich versuche, eine richtig gute Mappe zu machen. Sie wusste auch, dass ich das Auswahlverfahren mit Note 1 bestehen musste, um angenommen zu werden.
Als das klappte und ich das für mich Unmögliche geschafft hatte – meine Abhängigkeiten zu überwinden, meine psychische Krankheit zumindest zum größten Teil in den Griff zu kriegen (mit Depression habe ich leider heute noch zu kämpfen) und vor allem, zum Studium zugelassen zu werden – erzählte ich es meiner Mutter. „Verkackste ja eh wieder“, sagte sie mir. Das fand ich traurig, aber ich war es gewohnt.
Im Studium in Hannover fing ich dann an, dieses Archiv aus ca. 10.000 Negativen – die meisten davon immer noch in ihren Rossmann-Fototaschen – zu sichten, zu editieren und ich kam auf die Idee, daraus ein Buch zu machen. Ich präsentierte die Idee dort auch im Fotobuchkurs, aber der Dozent meinte sinngemäß, dass diese Idee nicht funktioniere, weil niemanden persönliche Geschichten interessieren.
Und auch, dass niemand allein ein Buch machen könnte. Aber manche Dinge muss man einfach machen. Und so habe ich ganz allein daraus ein Buch gemacht. Es heißt „Developments“ und besteht aus den vielen Bildern und aus dieser Geschichte.
Ich hoffe, damit Leute zu erreichen, die Analogfotografie mögen (denn alle Fotos im Buch sind analog); Menschen, die vielleicht ein ähnliches Schicksal erleiden oder erlitten haben und deren Geschichten dieses Buch vielleicht auch eine Stimme geben könnte.
Ich hoffe, damit Eltern zu erreichen, die nicht wissen, ob sie ihren Kindern bei den vielleicht unvernünftig erscheinenden Träumen unterstützen sollen oder ob es nicht besser wäre, ihnen das auszureden. Dieses Buch zumindest ist ein Plädoyer für Unterstützung.
Informationen zum Buch
„Developments“ von Tino Zimmermann
Sprache: Englisch
Einband: Hardcover
Seiten: 456
Maße: 32 x 21 cm
Verlag: Eigenverlag
Preis: 75 €
Ich finde den Artikel sehr interessant. Fotografieren ist ein wunderbares Mittel, um das eigene Leben besser zu bewältigen weil man anders sieht und mehr sieht. Weiterhin viel Erfolg damit.
Wow wahnsinnig berührende Geschichte. Bei mir war es ähnlich. Ich hatte lange Jahre eine ganz schlimme Angststörung mit täglichen Panikattacken. Konnte auch deshalb meine Ausbildung zur Erzieherin nicht fertig machen
War auch öfter in der Psychiatrie, hab auch nie irgendwelche Medikamente gemommen, und mich dann auch nach dem 6. Mal selbst entlassen. Ich hatte diesen krassen Drang das ich es auch selbst auf die Reihe bekomme. Und dann hab ich mich auch gänzlich in der Fotografie verloren. Hab alles verschlungen was es zu dem Thema gab und mir ging es Monat zu Monat besser. Schon verrückt was solch eine Leidenschaft bewirken kann :)
Ich werde den Artikeheute abend meiner Frau zeigen. Sie hat lange als Ärztin auf der Suchtstation gearbeitet und nach dem Sinn ihrer Arbeit gesucht. In der Tat hat sich fast jeder selbst entlassen und wurde in naher Zukunft wieder eingeliefert. Sie war verzweifelt über die Aussichtslosigkeit. Dabei ist sie jemand, der die medikamentöse Behandlung erst dann einsetzt, wenn alle Alternativen ausgeschöpft sind.
Ich selbst habe in dieser Psychiatrie im Rahmen eines damaligen Projektes gesehen, was Sucht aus einem Menschen machen kann. Ganz gleich, ob Alkohol oder andere Drogen. Menschen sahen in der Folge mitunter so aus, dass sie ungeschminkt hätten in einem Horrorfilm spielen können. Denn unter Drogen hat man seine ganz eigene Dynamik.
Um so schöner und ehrlich tief berührend. Ich wünsche Dir von Herzen einen wohltuenden Erfolg mit diesem Buch. Denn diese Bilder sind ja irgendwie von innen betrachtet..
Lieber Gruß
Kai
p.s.
Und danke an Katja, dass Du auch Menschen abseits unserer Gesellschaft eine Stimme gibst und dmait zeigst, dass sie dazugehören. DAs vergessen wir ja mitunter mal.
Wirklich eine eindrückliche Geschichte. Drücke alle Daumen für den weiteren Weg.
Eine Frage:
War es schwer während des Studiums clean zu bleiben? Ich würde erwarten, dass die Drogenquote an einer Kunsthochschule eher hoch ist?!
danke für den guten artikel deine ehrlichkeit. gute fotos. mach weiter und viel glück.
Schade dass die Indigogo Kampagne nicht erfolgreich war. Ich habe das Projekt von Tino schon längere Zeit verfolgt und wünsche ihm viel Glück, es im zweiten Anlauf vielleicht doch noch zum finalen Fotobuch zu bringen. Auf alle Fälle sehr mutig, es trotz der Einwände der Profs trotzdem umsetzen zu wollen. Damit zeigt er, dass es ihm wichtig ist dieses Projekt abzuschließen, um damit die letzte Seite dieser schwierigen Lebensepisode umzublättern. Solche Autorenwerke sind definitiv wichtig und ich bin da „auch als Fotostudent“ dacord, dass gerade solche Geschichten viel zu selten erzählt werden.
Das hat mich berührt.
Ich habe über Tinos Geschichte im Dlf einen Beitrag gehört und bin tief beeindruckt über Tinos Willensstärke. Gleichzeitig ist da aber auch immer dieses selbstzerstörerische mit im Boot. Ich kenne diesen Kampf der heutigen Jugendlichen irgendwie im Leben anzukommen. Vielen scheint das nicht zu gelingen, scheitern, müssen immer wieder Mut schöpfen und neu beginnen, scheitern wieder. Diesen Kampf in Fotos zu zeigen ist eine super Idee und würde ich mir gerne mal anschauen.