Das Dunkle in mir
Es gab eine Zeit in meinem Leben, da erschien mir alles geregelt und normal verlaufend. Ich fühlte mich in mir sicher und mein Handeln war souverän. Inzwischen kommt mir das vor wie ein fremdes Leben. Denn plötzlich sollte alles anders kommen und nicht nur diverse Umstände in meinem Leben änderten sich, sondern auch ganz viel an mir. Meine Komfortzone löste sich um mich herum auf.
Bis zu diesem Zeitpunkt war es mir immer gelungen, eine ganz bestimmte Sache fast komplett aus meinem Leben rauszuhalten: Gefühle. Je weniger ich an positiven als auch negativen Gefühlen zuließ, desto besser würde es mir gehen, dachte ich. Aus heutiger Sicht – naiv und dumm.
Mit stetiger Entwicklung und Auseinandersetzung mit mir selbst kam es zu mehr und mehr Gefühlen. Mehr als mir lieb waren und scheinbar auch mehr als ich ertragen konnte. Denn irgendwann sollte ich mich nicht nur am Boden meiner Wohnung, sondern gefühlt am Ende meines Lebens wiederfinden. Was ich hatte? Depressionen – wie es später auch offiziell hieß.
Nach einiger Zeit war mir klar: Entweder das Ganze kostet mich mehr als ich habe oder ich muss meinen Stolz überwinden und mir Hilfe suchen. Ich entschied mich für Letzteres und begab mich in Therapie – ein Segen! Innerhalb der Therapie ging es unter anderem darum, zu beschreiben, wie es mir geht, wenn ich keine Kraft mehr habe, wenn ich nicht mehr an mich und an das Gute glaube.
Aber ich konnte und kann es kaum beschreiben, was ich empfinde und wie ich mich fühle. Wie kann ich davon reden, was mich derart an den Abgrund bringt? Wie soll ich mit Sprache darstellen, dass mir die Kraft zum Atmen fehlt? Wie soll ich Worte finden, wenn ich nichts Schönes an und in mir selbst finde? Sprache kreiert und schafft Neues. Aber was ist, wenn sich kein Material finden lässt, mit dem die Sprache arbeiten kann?
Einsamkeit, Passivität, Isolation – dies sind Schlagwörter, mit denen man eine Depression beschreiben kann. Doch nicht nur Betroffene sind sich im Klaren, dass dieser Versuch des Sprachgebrauchs, des Ringens um Worte einen erschöpft und unbefriedigt zurück lassen muss.
In Konfrontation mit der Krankheit selbst findet man sich meist in Angst und Hoffnungslosigkeit wieder, denn die wichtigste und entscheidendste Kommunikationsmöglichkeit mit der eigenen Umwelt wird einem verwehrt.
Also brauchte ich einen anderen Weg. Eine Möglichkeit, die mir und meiner Umwelt zeigt, was mit mir passiert, was ich empfinde. Der Plan war folgender: Wann immer ich unter dieser dunklen Wolke saß, sollte ich mir überlegen, wie das ganze als Foto aussehen würde.
Welche Haltung würde ich einnehmen? Wie sieht der Raum aus, in dem ich mich befinde? Welche Farben würden dominieren? Dies war und ist der erste Teil meiner Selbsttherapie und im Grunde der wichtigste und schwierigste, denn so schlecht es mir auch geht, ich muss mich auf mich konzentrieren, schauen wie es mir geht, ein Gefühl für mich bekommen.
Am Anfang kam mir das alles mehr als seltsam vor, denn nun musste ich mich meinen Gefühlen wirklich stellen und sie ausdrücken. Außerdem fehlte mir die Kraft, der Antrieb und der Glaube daran, mich darauf einzulassen.
Aber ich versuchte es trotzdem, machte mir Notizen und kleine Skizzen. Denn vieles, was ich in diesen dunklen Zeiten denke und erlebe, verschwindet später zusammen mit dem Nebel, da ich in der Dunkelheit zumeist nicht wirklich bei mir bin und alles wie in einem Traum erlebe.
Der zweite Teil ist deutlich einfacher. Sobald es mir etwas besser geht, nehme ich meine Fotoausrüstung und suche mir einen Ort, an dem ich das Foto machen kann, baue alles auf, spiele etwas mit Perspektive, Belichtung und Fokus und bringe mich in Stellung.
Besonders perfektionistisch bin ich dabei nicht. Erstens würde es nicht zu mir passen und zweitens geht es mir selten um ein perfektes Bild, sondern darum, einen Ausdruck für das zu finden, was in mir ist. Und das ist selten perfekt.
Dass ich jedoch überhaupt anfange, produktiv zu werden, ist für mich ein wichtiger Schritt. Es gibt mir eine Aufgabe und das Gefühl, dass ich etwas schaffen kann. Aber auch die Bewegung, das Laufen durch den Wald und den Ort gibt mir wieder Augen für die Dinge, die ich zuvor nicht wahrnehmen konnte. Diese wiedergewonnene Sicht löst mich bereits ein Stück aus meiner Dunkelheit und Isolation.
Sobald ich mit dem Zwischenergebnis zufrieden bin, mache ich mich auf dem Weg nach Hause, setze mich an den PC und schiebe so lange an den Reglern von Lightroom, bis ich das Gefühl habe: Ja das kommt hin – das ist im Groben das, was ich haben wollte, das ist ein Teil von mir.
Danach kommt nur noch etwas Kleinarbeit, ich verlasse meinen PC und lasse das Foto im Vollbildmodus darauf. Nun gehe ich immer wieder an den PC und schaue, was der erste Eindruck mit mir macht und verändere die Kleinigkeiten, die nicht zur Stimmung passen. Irgendwann bin ich zufrieden, die Stimmung und dieser erste Eindruck, das alles passt zu mir.
Meistens drucke ich mir die Bilder aus, hänge sie in meine Wohnung und versuche dieses Wesen im Bild und diese Welt, in der es wandelt, zu verstehen. Dadurch werden die Bilder Warnzeichen für mich selbst. Sie erinnern mich daran, dass ich mich in diesen Zeiten verloren fühle und sie voller Schmerz sind.
Gleichzeitig sind die Bilder dadurch aber auch ein Antrieb, diese Zeiten so selten und so mild wie möglich zu erleben. Manchmal rauben die Bilder mir auch heute noch den Atem – ich bin sprachlos, was aus mir geworden ist und ich habe Angst, dass der Schmerz mit all seiner Wucht zurückkommt.
Aber ich sehe auch, was anders ist, wenn ich die entwickelten Bilder mit den ursprünglichen Bildern in meinem Kopf vergleiche. Oft komme ich zu einem interessanten Punkt: Fast alle Bilder sind nachher heller und freundlicher („freundlich“ ist sicherlich ein vollkommen falscher Begriff in diesem Zusammenhang) als es ursprünglich vor meinem Auge war. Heller und schärfer als ich mich gefühlt habe. Vermutlich ist es das, was mich letzten Endes ausmacht: Ich bin nicht nur dunkel, abseits und unscharf. Nein. An mir gibt es auch viel Gutes und Schönes.
Oft sind es eben zwei Welten, in denen ich mich bewege: Eine helle und eine dunkle Welt. Diese zwei Welten zu vereinen ist schwer, aber mein großes Ziel. Ich möchte diese Depression nicht mehr von mir wegschieben und so tun, als wenn sie eine Krankheit wäre, die sich mal eben mit Hilfe von Tabletten und Therapie kurieren lässt. Nein, das, was dunkel und beängstigend an mir ist, das bin eben auch ich.
Ich möchte, dass Freunde und Menschen, die mich lieben, mich als Ganzes, bestehend aus diesen zwei Welten, wahrnehmen. Ich möchte nicht mehr nur das Eine sein. Deshalb lasse ich sie meine Bilder sehen und stelle sie ins Internet. Ich strebe dabei nicht nach Anerkennung oder versuche, Mitleid zu erwecken – sondern ich versuche, mich mitzuteilen und somit Verständnis für meine Situation zu schaffen.
Seitdem ich diese zweite Seite an mir entdeckt habe und sie erkennbar ist, sind deutlich weniger Freunde um mich herum – denn ich bin wohl kompliziert. Oder zumindest ist es meine Situation. Aber die Menschen, die ich heute noch habe, sind die Menschen, die mir Geborgenheit geben.
Ich möchte keinen Appell für diejenigen schreiben, denen es auch so geht wie mir, denn ich weiß nicht, inwieweit es anderen eine Hilfe sein kann, sich in Bildern auszudrücken und selbst zu sehen. Aber einen Appell habe ich doch: Es ist keine große Kunst, solche Bilder zu machen, aber eine große Kunst, Menschen in ihren Bildern als Ganzes zu sehen und zu verstehen.