Rezension: Alec Soth – Songbook
Ich habe an dieser Stelle schon das eine oder andere Buch besprochen. Tatsächlich sind Fotobücher für mich zu einer Leidenschaft geworden. Die Leidenschaft ist zugegebenermaßen noch in den Kinderschuhen und sie wuchs anfangs langsam in mir heran.
Auf meinen Flohmarktbesuchen stieß ich immer wieder auf interessante Bücher und da ich diese zu niedrigen Preisen bekam, fing ich irgendwann an, systematisch danach zu suchen. Reich bebilderte Kochbücher lasse ich dabei ebenso links liegen wie die schönsten Aufnahmen der Rocky Mountains oder die berühmtesten Kriegsschiffe des ersten und zweiten Weltkriegs. Straßenfotografie, Portraitfotografie und verwandte Themen haben es mir eher angetan.
Im Lauf der Zeit kamen so auch einige eher abseitige Exemplare zur Sammlung, unter anderem Bilder anonymer Fotografen*, seltsame Fetische oder Landstreicher in Bauwägen*. Und wenn man nur oft genug unterwegs ist, dünnt man das Angebot auf den normalerweise frequentierten Märkten auch aus und man beginnt, sich nach Neuerscheinungen umzusehen.
Schon allein aus Kostengründen wird man hier noch etwas selektiver und man tut gut daran, nicht erst zu warten, bis Größen wie Martin Parr ein Buch empfehlen. Dann wird es schnell sehr teuer oder gar nicht mehr erhältlich.
Über einen Blog stieß ich dann auf das Songbook von Alec Soth. Dieses Buch ist gelinde gesagt speziell. Wie kommt man als Fotograf allein schon auf die Idee, ein Fotobuch „Songbook“ zu nennen?
Eine oberflächlich zufriedenstellende Erklärung ist schnell gefunden: Verteilt über das ganze Buch finden sich immer wieder Verse aus mehr oder minder bekannten Songs. Diese sind älteren Datums, aus den 20er bis 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, gleich das erstes Exzerpt ist aus Cole Porters „Night and Day“.
Das erste Liedzitat „Like the beat beat beat of the tom tom“ passt noch ganz gut zu den darauf folgenden Bildern, die alle Menschen zeigen, die entweder tanzen oder in sonstigem Zusammenhang zu Musik stehen. Doch die weiteren Passagen stellten mich zunehmend vor die Herausforderung, einen Zusammenhang zwischen Zitat und Bildern herzustellen.
Die Bilder, die das Buch zeigt, allesamt in schwarzweiß, sind nicht einheitlich zu kategorisieren. Man sieht menschenleere Szenen, Bilder von Menschen, die offenbar im Moment und ohne vorher zu fragen aufgenommen wurden, also Straßenfotografie im weitesten Sinne. Gestellte Portraits sind zu finden, aber auch komplett absurd erscheinende Szenen.
Es gibt Bilder, die wirken, als ob Soth rein zufällig auf den Auslöser gedrückt hätte und solche, die sehr geplant erscheinen. Immer wieder finden sich Bilder von alleinstehenden Häusern in unterschiedlichen Umgebungen. Totalen, entweder von Veranstaltungen oder auch von menschenleeren Räumen. Doppelportraits, die an Diane Arbus erinnern.
Manche Songtexte besitzen einen religiösen Hintergrund und es finden sich auch Menschen in Kirchen auf den Bildern. Der Begriff „Gemeinschaft“ könnte eine mögliche Klammer sein, die einen Kontext für das Buch bildet. Aber dann finden sich wieder Ausreißer, die auch diese These in Frage stellen.
Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Bilder gezielt zusammengehören. So finden sich neben den Doppelportraits auch Bilder von Menschen, deren Gesichter durchaus absichtlich verdeckt sind. Aber diese Bilder stehen nicht direkt aufeinander folgend, sondern über das Buch verteilt.
Einen natürlichen Abschluss bildet das letzte Zitat: „The songs I know, only the lonely know“ von Sammy Cahn. Danach folgen vier Bilder, die mehrheitlich weiß sind, entweder im Winter aufgenommen oder bei Nebel und sie zeigen einsame Landschaften, bis auf eines menschenleer, aber dennoch nicht ganz entvölkert. Tiere oder ein Haus sind sichtbar.
Das Buch endet mit einem Text von Eugene Ionesco. Der letzte Satz lautet: „It is the human condition that directs the social condition, not vice versa.“ Frei übersetzt: Es ist der Zustand des Menschen, der das soziale Umfeld bestimmt, nicht umgekehrt. Der Text scheint die obige Vermutung, dass „Gemeinschaft“ ein Thema des Buches ist, zu bestätigen.
Ohne weitere Erklärungen bleibt das Buch ein Geheimnis. Es ist, als ob die Reihenfolge der Bilder mit Bedacht so gewählt wurde, dass einfache Bezüge nicht gefunden werden können. Es gibt einen Kontext, den sich der Betrachter jedoch erarbeiten muss. Mehrfaches Durcharbeiten ist notwendig, um die Parallelen zwischen den Bildern überhaupt finden zu können.
Konsultiert man den Begleittext des Verlags, dann findet man endlich Aufklärung. Soth war von 2012 bis 2014 in den USA unterwegs, als imaginärer und echter Fotoreporter. Neben einem nur ausgedachten Druckerzeugnis namens „The LBM Dispatch“ fotografierte er für die New York Times und andere Zeitungen.
In „Songbook“ findet man Bilder aus dieser Zeit, bar ihres redaktionellen Kontexts. Für welche Artikel die Bilder als Illustration dienten, kann nur erahnt werden.
Alec Soth war hauptsächlich in kleineren Gemeinden unterwegs, im ländlichen Raum. Er war auf der Suche nach realer menschlicher Interaktion in Zeiten sozialer Netzwerke. Er wollte darstellen, wie sich Menschen einerseits nach Gemeinschaft sehnen, andererseits aber Individuum und individuell bleiben wollen.
Es ist ein gutes Zeichen, dass man die Absichten des Fotografen auch ohne jede Vorabinformation erahnen kann. Und es spricht für das Buch, dass auch nach mehrfacher Lektüre offene Fragen bleiben. Bei manchen Bildern kann ich mir immer noch nicht vorstellen, aus welchem Anlass heraus sie entstanden sind. Manche Bilder sind für mich verstörend, wobei dieses Gefühl sich in erster Linie durch den scheinbar zufälligen Kontext der sie umgebenden Bilder einstellt.
In einem Interview mit dem American Photomag äußert sich Soth umfangreich zum Verhältnis von Musik und Fotografie. Im Nachhinein wird mir klar, dass man das Buch keinesfalls durch die Zitate partitioniert sehen sollte, das würde den Songzitaten zu viel stukturierende Funktion beimessen. Aus dem Interview heraus wird aber auch klar, dass die thematisch ähnlichen Bilder gezielt so plaziert wurden, dass sich eine Art Refrain ergibt.
Je tiefer man sich mit dem Buch auseinandersetzt, umso mehr Bedeutungsebenen kann man sich erschließen. Wie oben schon erwähnt, ist für mich aber ganz entscheidend, dass man „Songbook“ auch als Bilder-Buch immer wieder genießen kann. Und damit kann ich das Buch all denen uneingeschränkt empfehlen, die sich für dokumentarische und Straßenfotografie interessieren und auch denen, die schon immer mal ein wirklich rätselhaftes Buch eines sehr guten Fotografen haben wollten.
Das Buch liegt als Hardcover vor, der Einband ist aus Stoff, mit einem tiefgedruckten Liedblatt auf der Rückseite. Es liegt schwer in der Hand und fühlt sich wertig an. Die Reproduktion der Bilder ist sehr gut, kontrast- und detailreich.
Informationen zum Buch
„Songbook“ von Alec Soth*
Sprache: Englisch
Einband: Gebunden
Seiten: 144
Maße: 28 x 27 cm
Verlag: MACK
Preis: 60,00 €
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