29. September 2014 Lesezeit: ~6 Minuten

David Gibson: „The Street Photographer’s Manual“

David Gibson lebt in London und ist eines der Gründungsmitglieder des Straßenfotografie-Kollektivs in-public. Neben seiner eigenen fotografischen Aktivität leitet er regelmäßig in aller Welt Workshops zum Thema Straßenfotografie. Jetzt hat er mit „The Street Photographer’s Manual“* ein Buch vorgelegt, das Interessierten als Leitfaden zur Straßenfotografie dienen soll.

Als ich über den Blog von in-public vom Erscheinen dieses Buchs erfuhr, dauerte es nicht lange, bis ich mich entschloss, es mir auch zu kaufen. Da ich mich vorher intensiver mit der Interpretation von Straßenfotografie aus der Sicht der in-public-Fotografen auseinandergesetzt hatte, kam dieses Buch, zudem noch mit dem Versprechen, ein Handbuch der Straßenfotografie zu sein, genau zur rechten Zeit.

The Street Photographer’s Manual © David Gibson

In seiner tongebenden Einleitung befasst sich Gibson mit der Frage, was Straßenfotografie überhaupt ist. Rein formal kann man hier einige Regeln exemplarisch nennen:

  • Keine gestellten Bilder
  • Bilder sollten nicht zugeschnitten oder anderweitig wahrheitsverfälschend bearbeitet werden – es zählt das fotografierte Bild
  • Gegenstand der Straßenfotografie ist der Mensch und Anzeichen seiner Existenz in unserer Umwelt – es müssen also nicht notwendigerweise Menschen zu sehen sein

In der Fotografie geht es um Beobachtung, nicht um die Manipulation von Bildern.

Elliott Erwitt –

The Street Photographer’s Manual © David Gibson

Die Abgrenzung zu fast jeder anderen fotografischen Kategorie ist damit einfach möglich, er gibt jedoch zu, dass der Übergang zur dokumentarischen Fotografie fließend ist. Bilder, die diesen Regeln genügen, mögen dem Genre der Straßenfotografie zuzuordnen sein, doch gibt sich Gibson mit diesen elementaren Grundsätzen, die er durch Zitate wie das obenstehende in den Text einwebt, nicht zufrieden.

Bei mir blieb nach diesem Abschnitt das Gefühl, dass die Haltung des idealen Straßenfotografen schon fast spirituell zu nennen ist. Ob man diese Maximen in voller Konsequenz umsetzt, bleibt am Ende jedem selbst überlassen.

Jenseits des Formalen betont Gibson, dass die Beschäftigung mit Straßenfotografie zwingend erfordert, dass man jegliche Berührungsängste aufgibt, dass der Gedanke an Zurückweisung oder Ablehnung durch die fotografierten Menschen kein Hinderungsgrund sein darf, ein Bild zu machen. Für viele Einsteiger ist das ein harter Brocken, typischerweise ist man lange Zeit eher zu weit von den fotografierten Menschen weg.

Ein gebeugt gehender alter Mann vor einem Schaufenster mit der Aufschrift „Last few days“.

Viele Mädchen in blau-weißer Schuluniform.

Viele Mädchen in roten Kleidern und ein Junge im Anzug vor einer Backsteinmauer mit der Aufschrift „No parking on this pavement“.

Gibson befasst sich ausführlich auch mit Fotografen-Kollektiven. Er identifiziert den Straßenfotografen als Einzelgänger, wenn er fotografiert, der jedoch den Austausch mit Gleichgesinnten sucht, um von der Rückmeldung anderer zu lernen und selbst durch das Wahrnehmen anderer Fotografien andere Sichtweisen zu erfahren.

Neben den exklusiven, kleinen Zirkeln von Kollektiven wie Street Photographers, in-public, Burn My Eye oder nicht zuletzt auch Magnum geht er auch auf den Austausch auf sozialen Plattformen wie beispielsweise Flickr und Facebook ein. Gerade letzteres identifiziert er als möglichen, aber nicht für jeden passenden Kanal zur Kommunikation mit Gleichgesinnten und Fans.

Das Buch und ein gutes Foto haben Gemeinsamkeiten: Struktur. Gibson gelingt es, durch die Unterteilung des Buches in grössere Kapitel, die die sehr knappen Titel „Busy“, „Quiet“, „Abstract“, „Still“ und „Subjects“ tragen, und Projekte, die die Maximen der Kapitel mit Leben füllen, das weite Feld der Straßenfotografie in begreifbare Abschnitte zu unterteilen.

Über allem liegt ein großer Bogen, das Buch beginnt mit viel Energie und wird immer langsamer, bis es im Kapitel „Still“ dann fast zum Stehen kommt. Das letzte Kapitel „Subjects“ markiert eher einen Abschluss und Ausblick, als noch wirklich zur Reihung der vorderen Kapitel zugehörig zu sein.

Eine Person mit rotem Regenschirm vor einer schiefen Fassade mit blauer Tür.

Ein Mann trägt einen Stapel Matrazen vor einem Bild einer Frau, die auf einer Tür sitzt.

Bunte Spiegelungen auf nassem Asphalt.

Die Wahl seiner Projekte, wie beispielsweise „Order“, „Following“, „Blurred“ oder „Doubles“ mag willkürlich erscheinen, doch sie ergibt Sinn. Vor allem hat diese Strukturierung zumindest mich dazu gebracht, zu hinterfragen, was ich überhaupt darstellen will.

Die einzelnen Projekte führten dazu, dass ich mir beim Fotografieren Gedanken darüber gemacht habe, aus welchem Grund ich genau jetzt den Auslöser drücken will. Die Menge meiner Bilder wurde dadurch nicht weniger, da ich gleichzeitig versucht habe, Situationen aktiver zu bearbeiten und nach Möglichkeit von einer Szene mehr als nur ein Bild zu machen, wenn sie mir interessant erschien. Gibson selbst zur Wahl seiner Projekte:

Es ist wichtig zu wissen, dass die Straßenfotografie keine exakte Wissenschaft ist, dieses Buch also eher wie eine Auswahl verschiedener Gitarrenakkorde – und -einstellungen – sowie ein paar empfohlener Lieder zu verstehen ist.

The Street Photographer’s Manual © David Gibson

Während Gibson in der Beschreibung der einzelnen Projekte in der Regel auf seine eigenen Bilder zurückgreift und dabei auch nicht davor zurückscheut, zur Illustration des Auswahlprozesses schwächere Bilder zu zeigen, schiebt er zwischen jedes Projekt Kurzportraits von zum Kapitelthema passenden Fotografen ein. Die Bandbreite reicht hier von „Ikonen“ wie Saul Leiter über in-public-Kollegen wie Blake Andrews oder Matt Stuart bis hin zu nur echten Insidern bekannten Fotografen wie Oliver Lang oder Shin Noguchi.

Überhaupt bietet das verwendete Bildmaterial genügend Grund, das Buch auf einer zweiten Ebene zu verstehen, eben nicht nur als Lehrbuch, sondern als exemplarisch für Gibsons Sichtweise der Straßenfotografie.

Somit ist auch klar, dass das Buch nicht nur für Einsteiger in die Straßenfotografie interessant ist. Der Novize profitiert von vielen Anregungen, die einen einfachen Einstieg in dieses Genre ermöglichen. Als erfahrener Straßenfotograf hat man seine Freude am ausgewählten Bildmaterial und an der Möglichkeit, die Entscheidungsprozesse des Autors bei der Bildauswahl nachvollziehen zu können.

The Street Photographer’s Manual © David Gibson

Einziger Kritikpunkt ist die Erscheinungsform als, wenn auch großes, Taschenbuch. Eine etwas robustere Ausführung und Bindung mit Seiten, die auch aufgeschlagen bleiben, wäre schöner gewesen. Dafür ist der Preis mit unter 20 € für ein Buch in dieser Kategorie recht attraktiv.

David Gibson bietet regelmäßig Workshops zum Thema Straßenfotografie an. Termine veröffentlicht er auf seiner Website und auf Facebook.

The Street Photographer’s Manual © David Gibson

Informationen zum Buch

Autor: David Gibson
Taschenbuch: 200 Seiten
Verlag: Thames & Hudson
Sprache: Englisch
Größe: 23 x 17,8 x 2 cm
Preis: 17,30 €

* Das ist ein Affiliate-Link zu Amazon. Wenn Ihr darüber etwas kauft, erhält kwerfeldein eine kleine Provision, Ihr zahlt aber keinen Cent mehr.

15 Kommentare

Die Kommentare dieses Artikels sind geschlossen. ~ Die Redaktion

  1. Ich habe mir das Buch auch zugelegt. Besonders gut finde ich den Ansatz, in Serien zu denken und nicht in Einzelbildern.

    Befremdlich fand ich lediglich die genannten Regeln zur Straßenfotografie. Die Bilder sollen nicht beschnitten werden? Ich „beschneide“ bereits, wenn ich den Ausschnitt mit der Kamera wähle. Warum soll ich das später, am Rechner, nicht mehr dürfen?

    • Die Idee dabei ist wohl, dass du dich zwingen musst über den Ausschnitt in der Kamera noch einmal nachzudenken und ggf. einen besseren Winkel, Abstand oder Objektiv finden solltest. Das steht natürlich diametral zur Schnelligkeit von der gerade Straßenfotografie lebt. Aber mit dem Beschneiden ist es meiner Meinung nach ein bisschen wie mit der Analogfotografie im ggs. zur digitalen Fotografie: Durch die Einschränkung die man sich selbst auferlegt zwingt man sich viel häufiger auch seine Taten und damit seine Bilder genauer zu reflektieren. Geht natürlich ohne die Einschränkungen auch, aber es kann ein weg sein, den eigenen Ausschuss zu reduzieren und sein Auge zu schärfen.

      • Auch schon zu analogen Zeiten wurde beschnitten.

        Aber ja, du hast recht. Eine Beschränkung setzt oft Kreativität frei. Und es schult das Auge. Nur den Beschnitt kategorisch auszuschließen, hat mich verwundert. Es gibt Situationen, da geht es nicht anders. Oder das Bild wird einfach um ein Vielfaches besser, wenn man es (leicht) beschneidet.

    • Ich finde gar nicht beschneiden ist übertrieben, den Ansatz kann ich aber nachvollziehen. Man sollte versuchen es beim Fotografieren schon richtig zu machen und nicht immer in der Post richten wollen, was man vorher schon hätte richtig machen können.
      Aber komplett auf’s Beschneiden verzichten, sogar wenn man im Nachhinein feststellt dass es dem Bild helfen, halte ich auch für falsch. Man verschenkt damit ja potential.

    • Die genannten Regeln zur Straßenfotografie finden sich nicht nur in dem Genre, sondern auch bei anderen Fotografen. Nicht nur Richard Avedon ließ bei seinen Bildern teilweise auch im Druck den schwarzen Rand des Films stehen, damit man sehen konnte, dass es nicht beschnitten war.

      Dahinter steckt die Vorstellung, dass das Bild in dem Moment, in dem der Auslöser gedrückt wird, kompositionsseitig „fertig“ ist. Wir kommen in eine sehr weit führende Diskussion über die „Wahrheit“ von Fotografie, wenn wir anfangen zu diskutieren, welche Bearbeitung am Bild erlaubt ist und welche nicht. Am Ende sind es meines Erachtens relativ willkürliche Regeln, die den Fotografen jedoch zwingen, sich zu disziplinieren und das Bild nicht erst in der Nachbearbeitung entstehen zu lassen, daher lasse ich mich durchaus von den Prinzipien leiten, ohne sie immer sklavisch zu befolgen.

      (Beispiel: iPhone fotografiert 4:3, KB-Kameras in der Regel 3:2. Ich croppe meine iPhone-Bilder in der Breite auf 3:2. Erlaubt oder nicht? Mir doch egal :-) )

  2. Sehe ich wie ‚Iso500‘. Die Frage, ob und welche Bearbeitung ein Bild erhält, ist in meinen Augen eine Frage des individuellen Ausdrucks des Fotografen und wechselt womöglich sogar immer weider. Ich mache Bilder, die bewusst verrissen sind und unbearbeitet auf meinen Blog finden ( http://stefansenf.de/?p=3107 ) und dann wieder solche, die ich sauber richte und im Detail nachbearbeite ( http://stefansenf.de/?p=2758 oder http://stefansenf.de/?p=2738 ). Beides ist für mich Streetfotografie.

    Trotzdem und gerade deswegen vielen Dank für die Buchvorstellung. Wird gleich besorgt ;-)

  3. Die Krux mit der Beschneidung ist doch die Tatsache, dass damit das Bild „verfälscht“ wird. Straßenfotografie soll ja eben authentisch sein und hat den besonderen Anspruch Realität – zumindest einen Ausschnitt davon – wiederzugeben. Wenn der Fotograf das Bild dann im Nachhinein beschneidet, wird das Abgebildete verfälscht.
    Ganz anschaulich wird das an folgenden zwei Bildern:
    http://www.berliner-kurier.de/image/view/2013/5/11/23242804,20070230,highRes,00056295AP.jpg
    Hier ist nur ein Ausschnitt zu sehen und es scheint als würden die beiden Personen im Vordergrund alleine gegen die übermächtigen Panzer kämpfen.
    http://kultur-online.net/files/exhibition/07_17_Juni.jpg
    Wenn man sich das ganze Bild ansieht, wirkt die Situation weniger bedrohlich. Neben den beiden Personen gehen eben noch Passanten über den Bürgersteig.
    Das soll keineswegs die Geschehnisse am 17. Juni 1953 herunterspielen. Nur sollen die unterschiedlichen Bildwirkungen deutlich werden, die nur durch das Beschneiden des Fotos entstehen. Sicher wird die Bildwirkung auch durch andere Faktoren beeinflusst, das Beschneiden des Bildes wiegt allerdings besonders schwer.

    Um aber auch noch etwas zum Buch zu sagen: Mir gefällt, dass es nicht nur eine Anleitung für gute Streetfotografie ist. Es regt gleichzeitig noch dazu an, die eigene Art des Fotografierens zu reflektieren. Das hilft oft viel mehr als eine „technische“ Anleitung und bringt die Entwicklung des eigenen Stils voran.

    • Das „Verfälschen“ passiert schon beim Abdrücken. Ich kann durch Zoom oder per pedes schon vorher bestimmen, was ich mit einem Bild kommunizieren will. Der Fotograf manipuliert so gesehen immer, er kommuniziert seine Sicht der Realität. Ich komme nochmals auf Avedon zurück: „All photographs are accurate. None of them is the truth.“

      Zum letzten Absatz: Genau darum geht es. Es stellt ein gutes Werkzeug dazu dar, an der eigenen Arbeit einen anderen Qualitätsmaßstab anzulegen – welcher auch immer das ist, aber es wird systematischer. Man versteht besser, wieso ein Bild funktioniert oder nicht funktioniert.

  4. Aha, was dieser Gibson so alles weiss oder zu wissen meint… zugegebenermaßen war mir Gibson bis heute gänzlich unbekannt und wenn ich lese was der von sich gibt, wird das wohl auch so bleiben…
    //Matz

  5. Tolle Buchvorstellung. Herzlichen Dank für diese Vorstellung. Habe ich bereits auf meinen „Wunschzettel“ geschrieben. Schauen wir mal, ob diesen jemand liest! :)
    Man sollte nicht immer nach Fotoregeln fotografieren. Beschränkt die Kreativität wirklich sehr.

    • Hi, wenn ich losziehe, ist in Sekundenbruchteilen die ein Foto als „Naja“ oder „boaah“ qualifizieren, sehr oft keine Zeit, auch noch den ‚passenden‘ Ausschnitt zu wählen. Ist z.T. lebensgefährlich, wenn man am Straßenrand steht und mit seinem Weitwinkel nicht über zig Meter gucken kann.
      Wenn der Inhalt Punch hat, paßt es…….

  6. Blogartikel dazu: Rezension: Alec Soth - Songbook › kwerfeldein - Fotografie Magazin | Fotocommunity