Fantastische Bände zur Straßenfotografie, Teil 4
Nachdem die letzte Ausgabe dieser Serie ein komplettes Jahr her ist, wird es dringend Zeit für einen Folgeartikel. Bildbände sind nach wie vor mein persönlicher „Schatzzzz“ und vier von denen stelle ich heute vor. Dabei werden ich auf das Blabla (und die Vorgeschichte des Fotografen) verzichten und mich nur auf die Bände konzentrieren.
Michael Wolf: Tokyo Compression*
112 Seiten | 25,2 x 21 x 2 cm | Vergriffen; derzeit gebraucht ab 32 €
So wie es da liegt, macht der Band „Tokyo Compression“ einen stabilen und kompakten Eindruck. Ich nehme es gern in die Hand und ertaste das aufgeprägte Titelfoto. Der inhaltliche Beginn von „Tokyo Compression“ ist schlicht und kommt schnell zur Sache. Kein nervendes Vorwort und auch kein Inhaltsverzeichnis. Der Titel reicht, basta.
Die Seiten selbst sind schwer und dick genug, um nicht billig wie eine Aldi-Einwurf-Werbung daherzukommen und stets beidseitig und formatfüllend mit ein bisschen Platz zum Seitenrand bedruckt. So machen mir Fotobände Spaß.
Kommen wir zur Hauptsache: Die Fotos. Michael Wolf hat in Tokyo Menschen fotografiert, die in der U-Bahn aneinandergequetscht und schwitzend von A nach B transportiert werden. Mit dem Teleobjektiv ist er stets nah dran und die and die Scheibe gedrückten, müden Gesichter füllen oft das gesamte Bild aus.
Hände werden an die Scheiben gedrückt und die zugefallenen Augen der Fahrgäste erinnern mich an meditierende, wartende Menschen, die nur einem Gedanken folgend im Moment verharren: „Ich. Will. Hier. Raus.“
Das Kondenswasser an den Scheiben ist die natürliche Folge der vielen Menschen in einem geschlossenen Raum. Kombiniert mit der Kompression Wolfscher Perspektive abstrahieren die nassen Scheiben oft auch das, was dahinter zu sehen ist.
Die Bilder wirken echt, natürlich und glaubwürdig. Ob und wie Michael Wolf die Bilder im Nachhinein justiert hat, weiß ich nicht, jedoch gibt es keinen störenden Hinweis auf eine übertriebe Tätigkeit desgleichen.
All das erzeugt eine Nähe zu den Leuten, die ebenfalls bedrückend ist und auf die man sich einlassen muss. Michael Wolf hat genau gewusst, was er wollte und das passende Werkzeug benutzt, um seine Idee zu verwirklichen.
Auch, wenn es sich in diesem Buch nicht um konventionelle Straßenfotografie handelt, ist es dennoch ein Konzept-Buch, das in sich schlüssig ist und die Grenzen des Genres wieder einmal neu definiert – anders gesagt: Nach außen öffnet.
Bruce Davidson: Subway *
135 Seiten | 29,4 x 30 x 1,8 cm | 45 €
Bleiben wir in der U-Bahn, doch wir wandern in die 80er und nach New York City. Bruce Davidson, Magnum-Fotograf, schuf hier eines seiner wichtigsten Bücher: „Subway“.
Ich weiß noch genau, wie es mir erging, als ich dieses Buch öffnete. Ich zeigte es stolze meinen Bürokollegen, raufte mir die Haare und sagte ständig: „Oh fuck. Nein, nein, wie geil ist das denn? Fuck! FUCK!!!“
Derart emotionale Ausbrüche gibt es bei mir nur dann, wenn mich ein Buch so richtig vom Hocker reißt. Bei „Subway“ hält die Begeisterung bis zum heutigen Tage an und ich frage mich immer noch, wie krass Bruce Davidson eigentlich ist.
Bleiben wir beim Buch. Es ist ein Hardcover, mit Schutzeinband aus Papier. Es ist groß, aber nicht schwer. Definitiv nichts, was ich einen fetten Schinken nennen würde, aber auch nicht zu klein für einen Fotoband im quadratischen Format.
Das erste Vorwort überspringe ich, doch dann folgen sieben Seiten Text von Davidson selbst, an denen ich nicht vorbeikomme. Ich bin zu neugierig. Der Fotograf beschreibt darin, wie er hart dafür trainierte, in den Subways zu fotografieren, da er einiges an Kraft brauchte, um sein Equipment mehrere Stunden mit sich herumzutragen.
Wie er zunächst Angst hatte, ausgeraubt zu werden, sich dann aber als Polizei-Detektiv ausgab, Menschen vor dem Fotografieren ansprach – oder gar nichts sagte. Wie er seinen Magenta-Filter in die Gleise rollen sah und irgendwann tatsächlich ausgeraubt wurde. Geschichten, die ich beim Durchblättern im Kopf habe und versuche, die erwähnten Menschen darin zu finden.
Die Bilder selbst stellen mich immer wieder vor ein neues Rätsel. Selbst, wenn Davidson eine Vielzahl der Fahrgäste vor dem Fotografieren fragte, sehen einige Bilder nicht danach aus. Dazu kommt eine Ästethik, die ich bis heute nur sehr, sehr selten zu sehen bekomme.
Der Fotograf blitzte nämlich nicht an die Decke, sondern richtete das Licht direkt auf die Menschen und das erinnert bezüglich der Farbästhetik an Tiefseeaufnahmen von Fischen. Da Davidson selten Anzugträger, sonder eher die untere Schicht der Gesellschaft fotografiert, bekommt die Gesamtwirkung der Bilder jedoch eine sehr raue und direkte Art.
Die Fotos zeigen zudem die New Yorker U-Bahn in einem sehr schlechten Zustand. Zugetaggte Scheiben und Wände, zersplittertes Glas und mitten drin Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Manch abstrakte Aufnahme erinnert leicht an einen Saul Leiter und hätte sich Davidson nicht gegen schwarzweiß entschieden, wäre der der Vergleich mit Bruce Gilden nicht zu verhindern. Doch so ist „Subway“ ein Unikat, das für mich zu den wichtigsten in meiner Sammlung gehört. Defintiv ein Buch, das ich mit auf die obligatorische Insel nehmen würde.
August Sander: (Aperture Masters Of Photography)*
94 Seiten | 21,2 x 20,6 x 1,6 cm | 5,95 €
Bei August Sander läuft es mir manchmal kalt den Rücken herunter, wenn ich etwas über ihn schreiben soll. Warum? Weil ich verdammt großen Respek vor ihm und seiner Leistung habe und mir recht unscheinbar dabei vorkomme, irgend etwas Bedeutungsvolles zu äußern.
Doch auch Herr Sander hat nur mit Wasser gekocht und schließlich stelle ich hier Bände vor, die ich essentiell für die Straßenfotografie finde. Ja, manchmal muss man sich selbst erklären, warum das, was man macht, eine Berechtigung hat.
Den vorliegenden Band habe ich im Winter des letzten Jahres gekauft, als mir klar wurde, dass ich so rein gar nichts von und über den Chronisten Sander habe. Bei einem Preis von knapp 5 € für dieses Werk wurde nicht lange nachgedacht, sondern zugeschlagen.
Der Fotoband ist mit seinen knappen 20 cm Breite kein Brecher, aber das soll er auch nicht sein. Im Schutzeinband (ich hasse diese Erfindung, denn meist ist das, was drunter ist, wesentlich besser gestaltet, wenn auch unscheinbarer) mit den abgebildeten Werkstudenten wirkt das Buch ehrlich gesagt etwas billig, doch der Blick ins Buch lässt vom Gegenteil überzeugen.
Meine Ausgabe ist aus dem Jahre 1997 und die Zeit hat ihr schon einiges angetan, denn die Seiten sind zum Rande hin vergilbt. Witzigerweise passt das sogar zum umfangreichen Werk des Fotografen, das in den 00er bis in die 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erstellt wurde.
Da ich ein Faible für Zeitgeschichte, insbesondere des vergangenen Jahrhunderts habe, sind die Portraits des Fotografen für mich von beachtlichem Wert. Diese bilden einen Querschnitt durch die Arbeit eines Menschen, der jede Gesellschaftsschicht fotografiert hat (und dessen Bilder später von Nazis verboten wurden).
So finden sich Berufe, die sich damals in der deutschen Gesellschaft durchgesetzt hatten, in ikonischen Portraits und durch ihre Einzigartigkeit erreichen sie stellvertretenden Charakter für den benannten Professions-Strang. Vom Konditormeister über Bauern bis hin zum Schriftsteller ist alles dabei.
Nun stellen sich manche Hardliner sicher die Frage, was August Sander im Rahmen der Straßenfotografie überhaupt zu suchen hat. Die Frage ist berechtigt, lässt sich jedoch problemlos klären: Originale, Originale, Originale.
Durch den Querschnitt des Lebenswerks Sanders erreicht der Band eine sehr hohe fotografische Dichte, die sich – aus heutiger Sicht – in der Selektion einzigartiger Portraits niederschlägt. Menschen mit originell anmutendem Äußerden zu sehen und zu dokumentieren, ist eine Kunst, die der Straßenfotografie ihren Atem verleiht und eine der Haupttugenden eines Fotografen im Genre ist.
Ich empfehle jedem, der unter einem schmalen Geldbeutel leidet, aber von den präsentierten Bildern angetan ist, des Buches habhaft zu werden.
Eamonn Doyle: i*
74 Seiten | 34 x 24,5 cm | Vergriffen, derzeit Angebote ab 129 €
Das letzte Buch, das ich hier vorstelle, kann man nur noch in Glücksfällen irgendwo erstehen. Dennoch stelle ich es vor, weil die Geschichte dahinter zu cool und der Band kurz gesagt der Hammer ist. Geschichte?
Am 1. April schrieb Martin Parr einen Kommentar ins Internet, und zwar in der Flickr-Gruppe HCSP. Allein diese Tatsache ist schon außergewöhnlich, doch wie betitelt Parr seinen Kommentar? So: „The best new street photo book, I have seen for a decade.“
Nun, der Herr Parr ist nicht irgendjemand und erst recht nicht in der Szene der Straßenfotografie. Wenn er sagt, ein Buch sei gut, dann ist das definitiv ein Tipp, den man sich zu Herzen nehmen sollte.
Das wissen wir spätestens seit der Buchreihe The Photobook, A History*, die mittlerweile in der dritten Ausgabe vorliegt und den Buchmarkt regelmäßig auf den Kopf stellt.
Ohne lange nachzudenken, bestellte ich das Buch. Ich wusste, dass es jetzt schnell gehen musste, da der Band auf 750 Stück limitiert war. Als ich ein paar Tage später das Buch in den Händen hielt, war ich… ja, was war ich denn? Überrascht, irritiert und begeistert zugleich.
Überrascht deshalb, weil das Buch ohne ein einziges Wort auf den Seiten daherkam. Der Titel, Metainformationen auf der letzten Seite und die Signatur von Eamonn Doyle sind alles, was es zu lesen gibt.
Irritiert, weil ich viel erwartet hatte, aber nicht ein solch in sich schlüssiges, durchdachtes Buch, das fotografisch auf allerhöchstem Niveau spielt.
Und begeistert deshalb, weil ich mit jedem weiteren Betrachten der Bilder langsam zu verstehen begann, was Martin Parr gemeint hatte, als er vom besten neuen Fotobuch gesprochen hatte.
Ich möchte auch ausführen, warum: Die Straßenfotografie ist – im Kontext aller Genres – ein chaotisches Intermezzo. Sie lebt davon, komplexe Situationen einzufangen und ist meist an die Stadt als Lokalität gebunden. Kurz gesagt: Es ist immer viel los.
Nun kommt „i“ ganz anders daher. Eine einzige Person pro Bild wird gezeigt, ohne viel drumrum und sogar der Schnitt des Fotografen ist fast durchgängig gleich. Das ist noch nicht alles, denn es sind immer alte Menschen, die Eamonn Doyle auf der Straße und durchgehend aus dem gleichen Abstand zur Person fotografiert.
All das ergibt beim Betrachten ein Gefühl der Ruhe und Ordnung, ohne langweilig zu werden. Nein, es ist ein Konzept, das mir zu denken gibt. Denn Doyle schafft es, innerhalb sehr enger Grenzen eine Serie vorzulegen, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat.
Er widerlegt auf seine Art und Weise, dass es eben doch möglich ist, etwas Neues zu erschaffen. Und dazu noch, dass es nicht unmöglich ist, im Eigenverlag ein Buch zu publizieren, ganz ohne Riesenverlag, ohne fette PR. Wobei er natürlich die fetteste PR hatte, die man als Straßenfotograf haben kann: Eine Empfehlung von Martin Parr im Internet.
Abschließend fällt mir gerade auf, dass ich folgende Frage noch nie gestellt habe: Welche Bücher und Bildbänder im Bereich der Straßenfotografie sind für Euch unverzichtbar? Erzählt doch mal.
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