05. April 2012 Lesezeit: ~7 Minuten

Istanbul

Städtetrips mochte ich schon immer. Es bereitet mir einfach großen Spaß, das Leben in Städten zu beobachten. Einer der Gründe, warum ich dabei fotografiere, ist schlicht und ergreifend Faulheit. Lieber ein Foto machen und ein bisschen bearbeiten als meinen Freunden und ganz besonders meinen Eltern die tollsten Erlebnisse in ungefähr tausend Worten erklären zu müssen.

Auf der Suche nach diesen Momenten ging es im Oktober letzten Jahres in die türkische Metropole Istanbul. Sicherlich nur ein weiterer Ort, um jene Momente zu finden, für mich allerdings ein ganz besonderer. Und dabei sah es am Anfang gar nicht so danach aus …

Denn Vorfreude kann schnell einen erheblichen Dämpfer erleiden, besonders wenn der Inhalt eines Reiseführers in einem Wort zu beschreiben ist: Erwartet. Pompöse Paläste und Moscheen, Märkte und Basare, lebendige Einkaufsstraßen, ausschweifendes Nachtleben, Bosporustouren, traumhafte Sonnenuntergänge – als hätte ich das nicht vorher alles schon gewusst.

Aber dabei hatte ich mir als ambitionierter Freizeitfotograf doch vorgenommen, mich erstmals optimal vorzubereiten. So überprofessionell mit visueller Recherche und dem ganzen Pipapo. Naja, am Ende wurde es nur eine ewig lange Liste von Sehenswürdigkeiten, die es in fünf Tagen abzuarbeiten galt. Das war letztendlich auch okay, denn ich sehe einen Städtetrip keinesfalls als Urlaub. Nur ein extrem vollgepackter Tag ist ein guter Tag und deswegen wird der Handywecker gerne mal auf 6 Uhr morgens gestellt.

Wobei Istanbul über eine kostenfreie wie verlässliche App verfügt, die Muezzin heißt. Ziemlich früh am Morgen ertönt sie. Es gibt keine Schlaftaste, nur einen Ton, den Weckruf. Lautstärkestufen gibt es genau zwei: Fenster auf oder zu.

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Und so klapperte ich früh am Morgen des ersten Tages mit meiner ebenfalls fotoaffinen besten Freundin die Klassiker ab. Die Hagia Sophia, den Topkapi Palast und die Blaue Moschee im Stadtteil Sultanahmet. Vielleicht hätten wir es auch irgendwo reingeschafft. Aber Pläne sollte man auch mal über den Haufen werfen – ganz besonders, wenn es in Strömen regnet.

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Das einzig brauchbare Ergebnis meiner visuellen Recherche, denn selbst Henri Cartier-Bresson und natürlich Ara Güler waren hier: Die Comando-Treppen im Stadtviertel Galata.

Eine ungewöhnliche Architektur, die viele Kompositionsmöglichkeiten bietet, sofern man kein Problem damit hat, Autos mit aufs Foto zu bekommen. Daher gab es wahrscheinlich genau zwei Möglichkeiten, diese Treppe zu fotografieren, diese haben wir natürlich brav unter uns aufgeteilt. Hier ist die eine:

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Ganz besonders fasziniert war ich von einer Haltung, die ich gar nicht böse gemeint mit „Gammelmentalität“ beschreiben würde. Zu sehen an fast jeder Ecke Istanbuls: Man(n) hängt halt rum.

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Noch mehr Gammelmentalität: Eigentlich wollte ich ihn beim SMS-Tippen erwischen. Aber er bemerkte mich, als ich auf ihn zu lief. Auf einem großen, leeren Platz, an einem weniger frequentierten Vormittag in Kadiköy, mit meiner Kamera im Anschlag, bei meiner überdurchschnittlichen Größe und Hautfarbe.

Ich fühlte mich ertappt. Instinktiv wollte ich schon Blickkontakt vermeidend schnell weitergehen. Mit Blick auf sein Handy vielleicht auch leicht geduckt. Aber bei aller Offensichtlichkeit regte er sich nicht. Und so hob ich meine Kamera und simulierte ein Drücken des Auslösers – das internationale Zeichen für “Darf ich mal draufhalten?”. Er nickte und wieder: Er regte sich nicht.

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Wir nennen sie Ratten der Lüfte und sie sind hierzulande noch ärmer dran als Kühe, Schweine und alles, was sonst so geschlachtet wird. In der Türkei gelten sie als heilige Wesen und genießen dabei einen Status, der bei uns mit Hunden und Katzen vergleichbar wäre.

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Zu diesem Zeitpunkt verstanden wir immer mehr, dass die Istanbuler anders als in anderen europäischen Städten auf Touristen reagieren: Mit Freundlichkeit.

Ich komme vom Dorf und da grüßt man sich auch, wenn man sich nicht kennt. Hier ist es scheinbar auch so, wobei es keinesfalls erwartet wird. Umso überraschter sind sie dann, wenn man sie auf Türkisch mit „Merhaba“ begrüßt und daraufhin auch noch fragt, wie es ihnen denn geht: „nasılsın“. Kritisch wurde es nur, wenn es darüber hinaus ging. Und was ist dann schon ein Foto? Ich sagte “Teşekkür ederim”, und weiter ging’s.

Auch unsere Begegnungen auf den kleinen Märkten Istanbuls waren besonders. Man muss sich das in etwa so vorstellen: Keiner rechnet mit dir und dann bist du doch da. Und dann gehst du auf sie zu und die Freude kennt kein Halten mehr. Und so trifft unsere Neugier auf ihre Verwunderung, ihren Stolz und am Ende bleibt ein kurioser Beitrag für einen weiteren schönen Moment.

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In einem von mir geschriebenen Reiseführer über Istanbul hätte Tarlabasi einen besonders großzügigen Raum. Dabei hatten wir die ersten Minuten nach Betreten ein eher mulmiges Gefühl. Hier ist es nicht unbedingt sauber, viele leerstehende Häuser mit maroden Fassaden und ein leicht zeitlos verschlafenes Flair bestimmten das Bild, allerdings genauso wie die Herzlichkeit und Offenheit der Anwohner.

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Gentrifizierung wird das Leben um Tarlabasi in den nächsten Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit in die Randbezirke Istanbuls verdrängen. Bis dahin kommt man auch weiterhin nicht an Katzen vorbei. Ich habe es immerhin auf ganze drei veröffentlichte Fotos gebracht. Das hier ist noch das harmloseste.

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Mein letztes Bild entstand während einer Bootstour auf dem Goldenen Horn. Wir trafen eine Gruppe junger Mädchen auf ihrem Weg zur Schule. In diesem Fall musste ich nicht wirklich was für dieses Foto tun, sie kamen einfach mal rüber und haben uns zu unserer Herkunft ausgefragt. Selbstverständlich habe ich im Anschluss auch draufgehalten.

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Ich bin ganz froh, dass ich für meinen ersten Aufenthalt in Istanbul ein Konzept hatte: Nämlich keines.

Es hat gereicht, sich von den Menschen in dieser Stadt führen zu lassen. Selten habe ich mich so belohnt gefühlt – trotz eklatanter Sprachbarriere – die Interaktion zu suchen, denn mit jedem Tag kam ich den Menschen hier ein Stück näher.

Mein Fazit: Istanbul ist ein größeres Dorf auf zwei Kontinenten, das man von Hamburg aus schnell in nicht einmal drei Stunden erreichen kann. Es gibt unfassbar viele Reize fürs Auge wie pompöse Paläste und Moscheen, Märkte und Basare, lebendige Einkaufsstraßen, ausschweifendes Nachtleben, Bosporustouren, traumhafte Sonnenuntergänge.

Aber besonders wird es erst, wenn man zwischen all diesen Dingen noch ein Auge für die heimlichen Stars dieser Stadt hat: Die Menschen.

Und wer noch mehr Fotos der Instanbul-Serie sehen möchte, darf sich gerne das komplette Set auf Flickr anschauen.

40 Kommentare

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  1. „Das war letztendlich auch okay, denn ich sehe einen Städtetrip keinesfalls als Urlaub. Nur ein extrem vollgepackter Tag ist ein guter Tag und deswegen wird der Handywecker gerne mal auf 6 Uhr morgens gestellt.“

    Herrlich genauso geht es mir auch immer :-) Danke für den Bericht!

  2. Ich kann deine begeisetrung für Istanbul total nachvollziehen, keinen Plan zu haben, bzw, einen, den man immerzu bereit ist fallen zu lassen, halte ich sowieso für eine sehr gute Reisestrategie.

    Ich freu mich so, denn ich fahre auch in wenigen Tagen nach Istanbul zum fotografieren, war vor eineinhalb Jahren schon mal dort, und es war einfach nur großartig.

    Was mich ein bisschen stört ist das Wort draufhalten. Klingt nicht so gut, dieser Fotografensprech und schafft eine seltsame Zoo-distanz. Dabei schreibst du ja wie sehr dich die Menschen beeindruckt haben.

    Tarlabasi interessiert mich auch sehr, wobei ich die Vorgehensweise den Stadtteil zu räumen und abzureissen geradezu barbarisch finde.

    Danke für deinen Bericht.

    • Danke Smilla.

      Ich hab manchmal eine komische Schreibe. „Draufhalten“ wahrscheinlich bereits zensiert :-). Aber ich verstehe was Du meinst.

      Tarlabasi musst du dich auch echt beeilen. Der Abriss ist in vollen Zügen. Die bereits leerstehenden Häuser werden bereits „geplündert“

  3. Schön, mal einen etwas anderen Reisebericht zu lesen, gefällt mir sehr, sowohl textlich als auch fotografisch :)

    Bin ja auch eher der Städtereise-Typ… Istanbul (und Hamburg :) ) stehen ganz weit oben auf der Liste.

    • Alle Fotos sind mit einer Olympus PEN (E-P1 / Cropfaktor 2) gemacht. Vorne drauf hatte ich ein Panasonic 20mm f/1.7 … mittlerweile aber ich auch noch ein 45mm und bin auf der Straße maximal mit zwei Objektiven unterwegs. Auf Flickr kannste sonst auch gerne in die Metadaten schauen.

  4. Dieser Artikel kommt mal wieder wie gerufen. Warum? Weil wir im Juli auch in Istanbul Station machen werden, leider nur für 48 Stunden, aber das muss für das nötigste reichen.

    Die Stadt in Schwarz/Weiß festgehalten gefällt mir sehr gut.
    Das Konzept, kein Konzept zu haben, wird uns warscheinlich auch nützlich ein. *g* Vielen Dankm, für diesen sehr gut geschrieben Artikel mit Ausdrucksstarken Bildern!

    lg Uwe

  5. Sehr schoene street fotos, gefallen mir sehr. Istanbul habe ich auch noch auf meiner Agenda. Ich glaube diese Stadt ist ideal um sich „konzeptlos“ einfach treiben zu lassen und einfach zu fotografieren.

  6. Ein feiner Artikel, der wunderbar die Stadt und das Fotografieren beschreibt.

    Nachdem ich vor über 20 Jahren mal einige Tage in Instanbul war, spühlte mich eine Dienstreise vor 2 Jahren noch mal dahin und ich hatte ziemlich genau 3h Zeit, die Fotomaschine zu benutzen. Keinen Plan, Orientierung aus der über 20jährigen Erinnerungsschublade (mir schmerzen virtuelle heute noch die Füsse), eine zum Fotografieren reichlich unpraktische Aktentasche in der Hand und ziemlich unpraktische Bekleidung, Das kam raus:

    http://blechroller.wordpress.com/2010/06/13/istanbul/

    Ich muss da unbedingt bald wieder hin, aber dann mit Zeit, komfortablen Schuhen und nicht mit der Kompaktknipse.

  7. Super, Adde, sowohl vom Text als auch von den Bilder finde ich.
    Zeigt aus meiner Sicht mal wieder, dass ein gutes Auge selbst in vergleichbar „normalen“ Szenen (Du hast die meisten Touristenpunkte ja scheinbar vermieden) interessante Dinge „sehen“ kann.

  8. Wow, vielen Dank für die coolen Fotos! Istanbul ist wirklich eine coole Stadt. Leider habe ichs selber noch nicht hingeschafft, aber das muss ich wohl bald nachholen! Am besten gefällt mir das Bild mit den Melonen, wirklich sehr absolut genial!! :)

  9. Dieser Artikel kommt ja wie gerufen. Im September werde ich mich mit einem Seminar meiner Uni nach Istanbul begeben um dort und in den umliegenden Regionen mal ein paar vor-Ort Eindrücke von Sozial- und Stadtgeographie zu bekommen. Im Anschluss wollte ich dann auch noch ein paar Tage länger bleiben um dort ein paar Fotos aufzunehmen, was ja während einer Exkursion zeittechnisch doch eher selten drin ist. Die Tipps zu den interessanten Stadtvierteln werden also dankend angenommen :) Den Artikel und die Fotos finde ich auch sehr schön!

  10. @ADDE ADESOKAN

    Das mit den Tauben … ich wusste nicht das sie einen Bezug zu Tauben haben :) Doku Fotografie ist sowieso immer toll … ich mag es Bilder von anderen Ländern zu sehen, nachdem ich selbst kaum die Zeit habe wohin zu fahren oder fliegen.

  11. Wunderschöne Fotos aus Istanbul mit dem Focus auf den Menschen der Stadt! Wunderbar! Dazu nen super geschriebener Artikel! Danke dafür! Ich selber war erst im März eine Woche in Istanbul und konnte alles beschriebene von dir nachvollziehen! Fotos davon hab ich auf meinen Blog!

    http://eyecident.blogspot.de/

    Guck gerne mal rein und meld dich einfach!

    Liebe Grüße und mach weiter so!

    Eyecident

  12. Super Bericht und tolle Photos. İstanbul ist auch meine Wahlheimat und hier finde ich oft die besten Motive. Die Gentrifizierung von Tarlabaşı ist tatsächlich eine traurige Angelegenheit – eine unter vielen; Karaköy und sogar der Taksim Medaynı werden die nächsten Opfer ambitionierter Umstrukturierungsmaßnahmen sein.
    Wir hätten uns an Ostern, wie letztes Jahr auf flickr besprochen, tatsächlich treffen müssen und gemeinsam auf Fototour gehen sollen. Schade, dass es nicht geklappt hat.
    Ich mag Deinen Stil und Deinen Blick auf die Dinge.

  13. Wie bekommen wir nun unsere Tauben von Kölle nach Istanbul?

    Schöner Bericht, Adde, man ist gleich drin, wenn man diese Gegebenheiten kennt und ebenso kann man sich gut vorstellen, wie Fotografieren in der Fremde ist, wenn man keinen Plan, sprich Konzept, hat. Dass ich deine Bilder mag, weisste ja, ich sags aber für die anderen gern nochmal…

    Viele Grüße
    Roman

  14. Genialer Bericht. Fahre kommenden Mittwoch bis Sonntag nach Istanbul. Der Tipp mit den „Die Comando-Treppen im Stadtviertel Galata“ wird hilfreich sein, doch wo findet man die Commando-Treppen genau?

    Grüße, Vincent

  15. Hallo
    Ich bin auf deinen Artikeln aufmerksam geworden.
    Ich bin gerade in Istanbul, kannst du mir sagen wo ich die Treppe finde!!?? Die ist ja mal der Hammer!!!

    Danke dir für eine Antwort
    Gruss
    Atila