Im Gespräch mit Lisanne Hoogerwerf
Schon länger kratze ich hier im Magazin gern an den Außengrenzen der Fotografie, indem ich Künstler*innen vorstelle, die zwar mit der Fotografie als Medium arbeiten, die man aber nicht direkt als „Fotograf*innen“ bezeichnen würde. Sie verfolgen eher einen Ansatz, den man als „Mixed Media“ bezeichnen würde.
Ähnlich wie etwa der deutsche Künstler Frank Kunert, an den sich sicher einige von Euch noch erinnern, arbeitet die niederländische Künstlerin Lisanne Hoogerwerf mit Modellen und Objekten in ihrem Studio und bettet diese in Landschaften ein. Es entsteht allerdings etwas völlig anderes – dystopische Räume statt realistischer Irritationen.
Hallo Lisanne! Danke, dass Du Dir die Zeit für ein Interview nimmst. Zuerst, erzähl uns doch einmal etwas über Dich: Wer bist Du und was machst Du?
Ich bin eine bildende Künstlerin aus den Niederlanden, 32 Jahre alt und kreiere kleine Landschaften, die über unsere menschliche Umwelt nachdenken. Dafür arbeite ich mit einfachen Materialien wie Holzstücken, Papier, Steinen, Spießen und Sprühfarbe.
Anfangs habe ich auf dem Tisch in meinem Atelier gearbeitet, aber inzwischen baue ich überwiegend auf dem Boden, einfach weil dort mehr Platz ist. (Das heißt wohl, dass meine Miniaturwelten wachsen.) Sobald so eine Landschaft fertig ist, halte ich sie sorgfältig in Fotos und manchmal auch in Videos fest.
Wie sah der kreative Weg aus, den Du gegangen bist, um zu so einem besonderen Arbeitsprozess zu gelangen?
Vor ein paar Jahren, als ich noch überwiegend als Werbefilmerin tätig war, habe ich an einem zehntägigen Vipassana-Meditationskurs in Belgien teilgenommen. Es war ganz schön anstrengend, ich musste dort jeden Tag zehn Stunden lang meditieren, durfte in dieser Zeit nicht sprechen und hatte keinen Kontakt zu anderen Menschen.
Während der ersten Tage war mein Geist mit allen möglichen Gedanken gefüllt, die drunter und drüber gingen. Aber nach etwa sechs Tagen wurde es in meinem Kopf stiller und ich begann, vor meinem geistigen Auge sehr lebhafte und bunte Landschaften zu sehen. Es schien, als wollte mein Unterbewusstsein mir irgendetwas durch diese Landschaften mitteilen.
Seitdem kann ich mich sehr leicht auf diese Landschaften „einstimmen“, wenn ich meine Augen schließe. Etwa vor einem guten Jahr habe ich dann einmal versucht, ein paar dieser Landschaften, die ich sah, zu zeichnen und zu malen, aber das hat für mich irgendwie nicht funktioniert. Einige Zeit später hatte ich einen Greenscreen für ein Auftragsvideo gekauft und bekam einfach den Impuls, die Landschaften zu collagieren.
Ich experimentierte, indem ich Sand und Objekte, die ich gebaut hatte, vor dem Greenscreen zusammenstellte. Davon machte ich ein Foto und ersetzte am Computer den grünen Hintergrund mit verschiedenen Fotos von wolkigen Himmeln. Obwohl das Ergebnis gut aussah, hatte ich das Gefühl, dass es zu realistisch wurde. Statt den Greenscreen einzusetzen, beschloss ich deshalb, meine eigenen „Himmel“ mit Sprüh- und Acrylfarbe sowie Kohle zu malen.
Die Arbeit „Sanctuary“ ist die erste, die ich auf diese Weise erstellte. Und sie war der Ausgangspunkt für all die anderen Landschaften, die ich seitdem gebaut und fotografiert habe.
Jetzt wird es für mich schwer, beim Meditieren nicht auch an bunte Landschaften zu denken! Bist Du in den Jahren seitdem der Bedeutung der Landschaften auf die Spur gekommen?
Ich bin nicht sicher, dass diese ursprünglichen Landschaften eine ganz klare Bedeutung haben. Und um ehrlich zu sein, habe ich auch nicht allzu viele Vermutungen darüber angestellt. Ich sehe sie eher als eine schwammige und verdichtete Mischung aus verschiedenen Erinnerungen, Fantasien, Wünschen, Ängsten und auch visuellen Eindrücken aus Filmen, Büchern und echten Landschaften, die ich in meiner täglichen Umgebung wahrnehme.
Für mich haben „Bedeutungen“ weniger mit den Bildern zu tun, von denen ausgehend ich arbeite. Sie beginnen, im Prozess der Schöpfung zu wachsen und werden erst dann definitiv, wenn die Betrachter*innen eine bestimmte Bedeutung in meinen Werken erleben oder „sehen“. Das kann manchmal auch sehr persönlich sein, zum Beispiel hat Anfang des Jahres eine Frau eines meiner Bilder gekauft, weil es sie an das Baumhaus erinnert hat, das sie als Kind gebaut hatte.
Anstatt also von vorn herein nach bestimmten Bedeutungen „zu suchen“, ziehe ich es vor, Landschaften zu erschaffen, die bestimmte Assoziationen auslösen könnten. Dafür nutze ich die Landschaften, die ich selbst vor meinem inneren Auge sehe, als Ausgangspunkt, aber ich kann niemals Eins-zu-eins-Kopien von ihnen machen und im Schaffensprozess verändert sich noch viel.
Obwohl ich also kaum über die Bedeutung der Landschaften spekuliere, möchte ich, dass meine Arbeiten widersprüchlich sind. Die Menschen reagieren oft sehr unterschiedlich auf meine Bilder. Einige finden sie besorgniserregend, sie sehen in den Landschaften etwa die Überreste einer durch den Klimawandel ausgelösten Apokalypse oder ähnliche Desaster. (Heutzutage verbinden Menschen meine Landschaften auch mit der Verlassenheit, die durch die Corona-Pandemie ausgelöst wurde.)
Andere Menschen sehen meine Arbeiten hingegen einfach als schöne Orte, in denen sie nur zu gern leben würden. Sie mögen die Farben und die Atmosphäre. Ich mag es sehr, wenn meine Arbeit (und Kunst im Allgemeinen) es schafft, gegensätzliche Elemente oder Qualitäten zusammenzubringen wie utopisch–dystopisch, verspielt–ernsthaft, Gesellschaft–Natur oder Schönheit–Ödheit.
Warum hast Du Dich dazu entschlossen, Deine Arbeiten als Fotografien bzw. Videos auszuführen? Die Kunstwerke hätten ja auch die Form von Objekten oder Installationen haben können. Warum etwas Dreidimensionales bauen, um es dann doch wieder auf zwei Dimensionen zu reduzieren?
Zuallererst hat das den ganz praktischen Grund, dass mein Atelier ziemlich klein ist. Wenn ich die Landschaften als Installationen umsetzen wollte, müsste ich also zumindest in einen größeren Raum umziehen und bräuchte viel mehr Material. Aber der zweite und wichtigere Grund ist, dass die Medien Film und Fotografie perfekt dazu geeignet sind, um Atmosphäre festzuhalten. Und Atmosphäre ist ein ganz essentieller Aspekt meiner Arbeit.
Fotografien erlauben es mir, mit Lichtsetzung, Tiefe, Komposition und Größe zu spielen. Und sie ermöglichen mir, die Objekte und gemalten Hintergründe, die ich kreiert habe, zu überwinden und zu real aussehenden Orten werden zu lassen. Würde ich hingegen nur einzelne Objekte oder Miniaturorte ausstellen, würden die Betrachter*innen sie immer von außen als so eine Art Skulptur betrachten. Ein Foto allerdings erlaubt innen, auf diese Orte zu blicken als könnten sie sich ebenso gut in ihnen aufhalten und so wahrnehmen.
Wie sieht Dein Arbeitsprozess normalerweise aus, wie entwickelt sich eine Idee in das endgültige Werk?
Mein künstlerischer Prozess besteht aus verschiedenen Phasen, die sich über längere Zeiträume hinziehen. Ich arbeite nie nur an einer einzigen Idee von Anfang bis Ende, sondern mag es, an mehreren Ideen gleichzeitig zu arbeiten. Während des letzten Jahres etwa war ich viel nicht zuhause und auch weit entfernt von meinem Atelier, weil ich mit meinem Partner viel Haustiersitting in den Häusern anderer Leute hier in den Niederlanden gemacht habe.
Diese Zeiten, in denen ich nicht in meinem Atelier sein kann, nutze ich gern, um Ideen zu sammeln. Dann meditiere und skizziere ich sehr viel. Wenn ich dann wieder einmal in meinem Atelier bin und viele Ideen gesammelt habe, beginne ich, die Artefakte zu bauen, die ich in meinen Landschaften verwenden möchte.
Ich sitze dann an einem Tisch mit all den Materialien, die nützlich sein könnten, wie Spießen, Stahlrollen, Glasstücken, Papier und Kleber. Für ein paar Tage oder manchmal sogar Wochen baue ich dann so viele Objekte wie möglich aus diesen Dingen. Danach kreiere ich dann die Umgebungen, in denen ich diese Objekte fotografieren möchte.
Dafür wiederum nutze ich Materialien wie kleine Steine, Holzstücke, Dreck oder Sand für den Vordergrund und außerdem male ich natürlich die Hintergründe für die Landschaften. Inzwischen arbeite ich dabei auf einer ziemlich großen Fläche, sodass all dieses Aufbauen und Malen auch eine ganze Weile dauert.
Erst dann kommt die abschließende Phase, in der der Zauber passieren kann. Ich baue meine Kamera auf einem kleinen Stativ auf, schnappe mir eines oder mehrere meiner Objekte, die ich gebaut habe, und beginne, mit ihnen in der Landschaft und mit Lichtsetzung und Komposition zu spielen. Ich benutze mehrere Lampen verschiedener Größen, eine Nebelmaschine und manchmal auch einen Ventilator.
Während ich so auf der Suche nach der besten Perspektive bin und versuche, die passende Atmosphäre einzufangen, nehme ich viele Bilder auf. Manchmal sind das Hunderte von Aufnahmen und es dauert Stunden oder sogar Tage, bis ich mit dem Ergebnis endlich zufrieden bin. Manchmal – nicht oft – bin ich nach fünf Minuten fertig, weil das erste Bild schon gut aussieht wie es nur sein kann.
Da ich gern in diesem „Fluss“ aus Szenen erschaffen und fotografieren bleibe, arbeite ich in dieser Phase dann auch über eine längere Zeit und setze mehrere Werken hintereinander um.
Was geschieht mit den Objekten, nachdem Du sie fotografiert hast?
Zuerst lasse ich sie ein bisschen länger in meinem Atelier stehen für den Fall, dass ich sie noch in einem Video benutzen möchte. Doch anschließend nehme ich sie auseinander und benutze die Einzelteile und Materialien wieder für neue Werke. Ich mag es, meine Arbeiten zu recyceln, das passt zum Kreislauf des Lebens, der auch meine Kunst inspiriert.
Zu guter Letzt, was sind Deine künstlerischen Hoffnungen und Träume für die Zukunft? Welche nächsten Schritte und Projekte hast Du schon geplant und was würdest Du in Deinem Leben und Deiner Karriere gern erreichen?
Während ich das hier schreibe, befinden sich die Niederlande – wie der Großteil der Welt – in einem Lockdown. Die meisten künstlerischen Veranstaltungen, die ich für mich dieses Jahr geplant hatte, wurden verschoben oder abgesagt. Deshalb habe ich vor dem nächsten Jahr fast nichts mehr geplant.
Ich erlebe diese ungewöhnliche Zeit als eine Art Neustart. Es gibt mir die Zeit, darüber zu reflektieren, was ich bisher gemacht habe und in welche Richtung ich von hier aus weitergehen möchte. Deine Frage ist also perfekt, um darüber in dieser Zeit nachzudenken. Es ist aber auch eine wirklich schwierige Frage, da auch ich, wie alle anderen, nicht weiß, wie die Welt in den nächsten Monaten und Jahren aussehen wird.
Zum Beispiel: Ich hatte den Wunsch, einmal an einer Kunstmesse im Ausland teilzunehmen, um meine Arbeiten einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Aber mit Blick auf die aktuelle Situation bin ich nicht sicher, ob das in der nahen Zukunft überhaupt möglich sein wird. Und global betrachtet, bin ich auch nicht sicher, ob es gut wäre, wenn alle internationalen Kunstveranstaltungen bald wieder stattfinden würden. Diese Unsicherheit macht es unglaublich schwer, für meine Karriere überhaupt irgendwelche konkreten Pläne zu schmieden.
Natürlich hoffe ich, dass die Zukunft mir noch ein paar schöne Ausstellungen bieten wird und dass ich in der Lage sein werde, meine künstlerische Karriere in den kommenden Jahren weiter reifen zu lassen. Aber ich merke jetzt, dass es am wichtigsten ist, meine künstlerische Praxis weiter zu vertiefen und meine Arbeiten einfach auf jedem möglichen Weg mit der Öffentlichkeit zu teilen – sei es offline oder online.
Ein positiver Aspekt dieser Situation ist allerdings, dass sie mich wieder auf den Kern der Dinge besinnen lässt. Kunst zu machen bedeutet für mich, die Rätsel, Weisheit und Schönheit zu erkunden, die unsere Realität uns bietet, wenn wir einmal einen Schritt vom Lärm und Gewusel des Alltags zurücktreten. Durch meine Werke kann ich eine Realität zeigen, in der die Dinge nicht so festgelegt sind und wo Widersprüchliches gleichzeitig existieren kann.