Im Gespräch mit Gerald Pirner
Im Podcast kwergehört haben wir gestern unter anderem über die Ausstellung „Blinde Fotograf*innen“ in Berlin gesprochen, wofür das folgende Interview mit dem ausstellenden Fotografen Gerald Pirner entstanden ist.
Monika und Nora sprachen mit ihm über seinen fotografischen Prozess, wie Blinde und Sehende Bilder wahrnehmen, wie Bilder konstruiert werden, im Kopf entstehen und was all das mit Berührungen zu tun hat.
Hallo Herr Pirner, möchten Sie zu Beginn vielleicht etwas über sich selbst erzählen? Wer sind Sie und was hat Sie zur Fotografie gebracht?
Ich komme vom Theater her und wollte eigentlich Schauspieler werden. Aber ich hatte damals schon das Gefühl, dass das meine Augen wahrscheinlich nicht mitmachen werden. Ich habe Theaterwissenschaften studiert und bin dann vor etwa 30 Jahren erblindet. Das hat alles vollkommen über den Haufen geschmissen, wie Sie sich wahrscheinlich vorstellen können.
Ich habe dann angefangen, nochmal von vorn über Bildern nachzudenken. Über Essays habe ich dann angefangen, über Bilder zu reflektieren und für ein Online-Magazin über Bilder, Filme und Gemälde geschrieben. So habe ich mich über diesen Weg dem Bild wieder angenähert.
Vor ein paar Jahren hatte ich über einen Workshop der Alice Salomon Hochschule hier in Berlin die Gelegenheit, blinde Fotografie kennenzulernen. Das war damals noch nicht das Light-Painting, wie ich es jetzt nutze, sondern Versuche, aus dem Spüren heraus Bilder zu machen. Das gefiel mir schon nicht schlecht.
Aber dann kam der Film „Shot in the Dark“ von Frank Amman, der auch in der Ausstellung nochmals zu sehen ist. Über diese drei blinden Fotograf*innen aus den USA im Film wurden mir ganz andere Möglichkeiten eröffnet. Und dadurch probiere ich seit einigen Jahren diese Technik des Light-Paintings aus. Das war mein Weg zurück in die Fotografie.
Was sind die Themen, die Sie in Ihren Bildern bearbeiten?
Ich arbeite sehr konzeptionell. Alle Bilder, die ich mache, entstehen zunächst am Schreibtisch. Ich überlege mir dort, was ich fotografieren möchte, arbeite dazu ein Konzept aus und gehe es dann gemeinsam mit meinem Modell und meiner Assistentin an.
Wie sieht diese Zusammenarbeit genau aus?
Ich sage mein Modell, was sie zu tun hat und was ich gern sehen möchte und die Assistentin macht die Kamera auf. Die Kamera, die dann auf Dauerbelichtung oder Langzeitbelichtung eingestellt ist, nimmt alles auf, was ich mit meiner Taschenlampe belichte, da der ganze Raum sonst im Dunkeln liegt. Ich hole aus dem Dunkeln heraus, was ich sehen möchte und bringe es ins Licht. Das ist im Grunde genommen das ganze Geheimnis der Technik und so arbeite ich schon seit einigen Jahren.
Ich habe Retinitis Pigmentosa, einen Zerfall der Netzhaut. Ich konnte letztendlich meine Erblindung beobachten und zusehen, wie ich erblindete. Ich habe mit jemandem gesprochen und da tauchte dann plötzlich ein riesiger, schwarzer Punkt auf und zerfraß die Hälfte des Gesichts meines Gegenübers. Das war ein bisschen skurril, denn mein Gegenüber sprach immer weiter und wusste natürlich nicht, was ich von ihm sehe – das war aber ein Moment, den ich in meine Fotografien eingebaut habe.
Mein allererstes Selbstportrait ist genau diesem erblindeten Sehen geschuldet. Ich habe dann nämlich angefangen, Bilder aus meiner Blindheit heraus zu machen.
Wie genau kann ich mir das vorstellen?
Wenn ich Bilder sehe, sehe ich sie aus meiner Hand. Ich habe hier einen Tisch und da liegt meine Hand darauf. Im Grunde genommen schneidet diese Hand einen Teil dieser Tischplatte aus. Sie schneidet Holz aus, schneidet Material aus, schneidet eine Fläche aus. Wenn ich meine Hand ans Gesicht lege, schneidet mir die Hand einen Teil meiner Stirn aus, meiner Nase, meiner Wange. Das sind Dinge, die ich dann auch tatsächlich sehe. Und mit denen arbeite ich als Ausgangspunkt.
Das sind Dinge, mit denen ich tatsächlich auch am Anfang viel experimentiert habe, mit diesen Ausschnitten, diesem Zerfressenen, diesem Versehrten.
Gibt es noch andere Dinge, die Sie inspirieren und Themen, die Sie in Ihre Arbeiten aufnehmen? Wo kommen die Konzepte her, wenn sie am Schreibtisch sitzen?
Das ist ganz unterschiedlich. Zum einen bin ich erblindet. Das heißt, ich habe in meinem Kopf ein riesiges Bildarchiv. Bilder, die ich gesehen habe, in Filmen, Bilder, die entstanden sind, wenn ich Bücher gelesen habe, Dias, Hefte, Gemälde.
Ich hatte jetzt Anfang des Jahres beispielsweise eine Serie zum Maler Francis Bacon gemacht. Dabei habe ich seine Serie schreiender Päpste noch einmal aufgegriffen. Ich habe meinem Modell gesagt, sie soll die Pose dieses schreienden Papstes einnehmen, aber habe diese dann letztendlich nicht genauso wieder fotografiert, wie Bacon es gemalt hat, sondern habe es ganz ausgeleuchtet.
Für mich ist Licht eine sehr gewalttätige Angelegenheit. Licht ist etwas, das zerstört. Licht ist etwas, das versehrt. Meine Erblindung erfolgte durch überdimensionierte Lichtzufuhr. Licht hat mich geblendet. Es blieb letztendlich im Grunde genommen aus dieser Blendung heraus nichts mehr übrig. Und diese Versehrung, diese Verletzung durch Licht ist etwas, was ich auch darzustellen versuchte. Und damit konfrontierte ich dann mein Modell. Die Serie heißt auch „Wege des Lichts“.
Also kurz: Ich stütze mich auf ein ziemlich großes Archiv von Bildern in meinem Kopf und lasse es in meine Arbeit einfließen.
Es gibt ja auch täglich neue Fotografien, neue Ausstellungen und so weiter. Erlangen Sie durch Beschreibungen neue Bilder für dieses Archiv?
Ja, das passiert permanent. Ich lebe letztendlich auch durch die Beschreibung und Heidi Brenner, die hier neben mir sitzt, versorgt mich die ganze Zeit über immer wieder mit irgendwelchen Dingen, die ich zum Beispiel auf Ausstellungen oder in Filmen sehe.
Ich gehe jetzt auch wieder ins Kino. Das habe ich eine ganze Weile nicht mehr getan. Und so bieten sich meinem Kopf natürlich wieder neue Bilder, die dann aber natürlich auch immer wieder zurückgreifen auf ältere Bilder, auf einen Pool von Bildern, die sich dann auch wieder vermischen und vermengen. Und so entstehen auch wieder neue Bilder.
Wie reagieren Modelle darauf, wenn Sie sagen, Sie sind Fotograf und möchten sie gern fotografieren?
Ich arbeite jetzt seit einigen Jahren immer wieder mit denselben Modellen. Momentan hauptsächlich mit einer sehnenden Fotografin, Sonia Klausen. Sie weiß, was ich möchte und sie weiß auch genau, worauf sie sich damit einlässt. Mit ihr hatte ich zusammen hatte ich in der Brotfabrik im Juni auch eine Ausstellung. Wir hatten darin letztendlich so eine Art Kommunikation von sehender Fotografie und blinder Fotografie. „Schmerz und Berührung“ hieß sie. Sonia nutzt mittlerweile selbst auch Light-Paintings in ihren Bildern.
Was das Light-Painting für mich so praktikabel macht, ist, dass ich letztendlich versuche, meine Bilder „in den Griff zu bekommen“. Ich gehe von meiner Berührung aus und muss das Modell berühren. Ich muss sehen, wie sie aussieht – ich fotografiere wie gesagt vorwiegend mit Sonia Klausen – und muss spüren, wie sie dasteht, wie die Mimik ist. Und das alles ertaste ich mir. Und aus diesem Ertasten heraus kommt das Bild.
Wenn ich etwas berühre, dann taucht bei mir im Kopf sofort ein Bild auf. Das heißt, es gibt sowieso permanent Bilder, die sich in meinem Kopf festsetzen und mit denen kann ich auch wieder arbeiten. Ich suche mir die Pose aus und beschreibe diese. Dann versuche ich, zu kontrollieren, ob sie das auch genauso macht. Und dann, nachdem das Bild entstanden ist, lasse ich mir von der Assistentin und von dem Modell beschreiben, was dabei herausgekommen ist.
Ich habe eine klare Vorstellung davon. Ich sehe dann zum Beispiel: Okay, da muss mehr Licht rein und da muss ein bisschen Licht raus. Das Modell muss etwas anders stehen. All diese Dinge kontrolliere ich dann weiter. Im Grunde ist das Bild ein Protokoll dessen, was ich mit Berührung am Modell letztendlich erwirke.
Sie arbeiten auch als blinder Reporter und besuchen Ausstellungen und Museen. Wie genau arbeiten Sie dort?
Ich gehe meist mit meiner Assistentin ins Museum und lasse mir von ihr die Bilder beschreiben. Aber ich befrage auch Menschen, die das Museum besuchen. Ich frage, wie sie ein bestimmtes Bild sehen. Und letztendlich führe ich die Menschen dadurch, dass ich ihnen die Fragen stelle, dazu, dass sie es viel genauer sehen. Wenn ein Blinder dabei ist, fangen die Sehenden plötzlich an, vollkommen anders zu sehen und auch viel mehr zu sehen. Das ist letztendlich auch das, was für die Sehenden selbst sehr spannend ist.
Ja, das finde ich auch ganz spannend, dass man dann anfängt, ein Foto oder ein Bild gar nicht mehr als einfach nur rein visuelle Fläche wahrzunehmen, sondern beginnt, über Bilder, über Kunst anders nachzudenken.
Das ist gut, weil das Bild für mich nie eine Fläche ist. Das Bild ist immer etwas mit Volumen, etwas Dreidimensionales. Das Bild kommt tatsächlich vom Spüren, von der Berührung her. Und letztendlich ist das Bild nur eine Übersetzung, ein Protokoll dieser Berührung.
Wie nehmen Sie das kulturelle Bild von blinden Menschen in der Gesellschaft wahr?
Das nehme ich hauptsächlich so wahr, dass ich mich als Blinder sehr häufig nicht so ganz ernst genommen fühle. Also beispielsweise, wenn ich anfange, zu fotografieren. Das ist etwas, womit ich im Grunde erst einmal gar nicht ernst genommen werde. Und es ist auch nicht selten so, dass ich in verschiedenen Dingen, zu denen ich meine Meinung äußere, doch spüre – ich sehe es natürlich nicht – wie in den Köpfen der jeweiligen Menschen sich ein Gedanke formt wie: „Es ist halt ein Blinder und nicht so ganz ernst zu nehmen.“ Das nehme ich zunächst ganz zentral als Moment wahr, der mich sehr, sehr ärgert.
Das kann ich nachvollziehen. Denken Sie, dass solche Ausstellungen wie die aktuelle im Freiraum für Fotografie dieses Bild in den Köpfen ändern können?
Naja, was ich dort ausstelle, ist im Grunde, dass ich versuche, so eine Art von anderer Ästhetik zu entwickeln. Ich habe früher tatsächlich auch versucht, ganz schöne Portraits abzuliefern, zu denen die Sehenden dann gesagt haben: „Das ist ein schönes Bild. Das hast Du gut gemacht.“ Und das hat mich unbefriedigt zurückgelassen, weil ich genau merkte, dass ich damit eigentlich nichts zu tun habe.
Ich muss letztendlich viel mehr reduzieren, muss viel mehr zu dieser „reduzierten Sicht“ auf die Welt kommen, viel mehr zu dem kommen, was wirklich aus meiner Berührung herauskommt. Und das hat mit Sicherheit sehr wenig mit dem zu tun, was schöne Bilder sind.
Von daher versuche ich, eine andere Ästhetik vorzustellen. Und diese Ästhetik schlage ich vor als etwas, worüber man diskutieren kann, weil ich denke, dass das Bild nicht im Auge gemacht wird. Das Bild wird im Kopf gemacht. Und das ist im Grunde genau der Punkt, an dem Sehende und Blinde sich durchaus verständigen könnten, weil man vielleicht dadurch auch hinterfragen könnte: Was machen die Sehenden sich da eigentlich tatsächlich für Bilder im Kopf?
Die haben sie nicht gesehen, sondern sie konstruieren sie und ihr Gehirn konstruiert die mit. Und das ist, finde ich, ist eine Basis, auf der man sich wiederum gut unterhalten könnte. Über verschiedene Bilder, über verschiedene Bildproduktion. Und meine Bilder, diese versehrten Bilder. Diese teilweise sehr reduzierten Bilder. Diese Fragmente. Diese Zerrissenheit. Diese sind letztendlich ein Versuch, vorzuschlagen, sich noch einmal anders über das Bild zu verständigen. Es gibt nichts Vollständiges. Alle Bilder, auch die Bilder der Sehenden, haben etwas Defektes, wenn man das unter anderen Aspekten sehen könnte.
So eine Diskussion versuche ich anzustoßen. Wenn das als Folge der Ausstellung tatsächlich jetzt herauskommen würde, fände ich das total super.
Ja, sehr spannend, denn tatsächlich haben wir beide Fotografie studiert. Einer unserer Professoren hat etwas ganz Ähnliches über das Konstruieren von Bildern gesagt. Ist das auch so ein Grund, warum Sie das Fotostudio für blinde Fotograf*innen in Berlin mitgegründet haben?
Das Fotostudio ist für mich ein total wichtiges Labor. Es geht nicht nur darum, dass der Raum ganz abgedunkelt ist, sondern dass die Wände auch tatsächlich schwarz sind und so keinerlei Reflexionen auftauchen. Es ist ein Ort, an dem ich mit Bildern herumexperimentieren kann und versuche, andere Ausdrucksmöglichkeiten zu finden.
Welche Aufnahmen erwarten uns in der aktuellen Ausstellung im Freiraum für Fotografie?
Da wird man meine Selbstportraits sehen können. Das ist auch die Tendenz, in die ich weiterarbeiten möchte.
Dann wünschen wir Ihnen viel Erfolg mit der Ausstellung und bedanken uns für das Gespräch!