Einblicke in ein fast 100-jähriges Leben
Ich kannte die alte Dame schon länger und war sehr beeindruckt von ihrer Disziplin und ihrem Zuhause, das für mich wie ein Museum ihres Lebens aussah. Sie lebt allein und normalerweise verlässt sie ihr Haus nicht mehr. Die meisten ihrer Freund*innen sind bereits verstorben, sodass sie auch nicht mehr viel Besuch bekommt.
Es hat mich schon etwas Überwindung gekostet, meine Protagonistin zu fragen, ob sie zu einem gemeinsamen Fotoprojekt bereit wäre. Nach meinen Erklärungsversuchen, wie so eine Fotoserie denn aussehen könnte, war sie interessiert und einverstanden.
Ihr Gesicht durfte ich aber nicht zeigen, was ich wiederum als fotografische Herausforderung mit positivem Nebeneffekt empfand: Die Anonymisierung weckt in den Betrachtenden Erinnerungen an eigene Bekannte oder Erlebnisse. Die Geschichten sind nicht mehr an diese eine Person, an dieses eine Gesicht, gekoppelt. Wie oft habe ich in Ausstellungen etwa schon gehört: „Genau die Seife hatte meine Oma auch“ oder „den Lampenschirm kenne ich von meinen Eltern“. Und schon sind die Betrachtenden mittendrin.
Trotz ihrer zunehmenden körperlichen Einschränkungen hat sie „unser Projekt“ wunderbar mitgemacht und so entstand eine sehr intime Fotoserie über ihren Alltag in ihrer perfekt auf sie zugeschnittenen Umgebung. Auch, wenn das Leben immer beschwerlicher wird, strahlt sie eine friedliche Zufriedenheit aus. Sie ist ein religiöser Mensch und sagt mit einem Augenzwinkern „Der liebe Gott will mich noch nicht“. Dieses Zitat habe ich zum Titel meiner Fotoserie erklärt.
Die Serie ist ein fotografischer Blick durch das Schlüsselloch, das Portrait eines Menschen, ohne sein Gesicht zu zeigen. Die alte Dame möchte nicht erkannt werden, aber sie steht für ihre Generation und zeigt uns einen beeindruckenden, nachahmenswerten Respekt sich selbst und ihrem Leben gegenüber.
Besser als ich es kann, hat Wolfgang Zurborn die Fotoserie beschrieben. Dankenswerter Weise darf ich ihn hier zitieren:
Eine Nachttischlampe spendet das Licht für die Lektüre im Bett. Von der alten Dame, die Ninette Niemeyer in ihrer Serie „Der liebe Gott will mich noch nicht“ fotografiert, sieht man nur ihre Hand, die ein Buch hält. Ein kleines Kreuz und ein Druck mit den betenden Händen von Dürer an der Wand versinnbildlichen die Religiosität der Portraitierten. Alle Details in dem Bild kreieren im Zusammenspiel einen persönlichen Lebensraum.
Die fast 100-jährige Frau ist sehr präsent in allen Fotografien dieser Serie, obwohl ihr Gesicht nie zu erkennen ist. Mit äußerst subtilen Wahrnehmungen des Mobiliars, der Gegenstände, Interieurs und Alltagsrituale sensibilisiert die Fotografin die Betrachtenden für einen ganz privaten Kosmos, den sich ein Mensch im Alter geschaffen hat, angereichert mit Erinnerungen an ein langes Leben.
Die friedliche Stimmung in den Bildern erscheint dabei nie als ein verklärendes Idyll. Der präzise Blick von Ninette Niemeyer sucht nach einer Authentizität, die für sie nicht durch eine sachliche Zurückgenommenheit erlangt wird, sondern durch ein emphatisches Interesse an ihrer Protagonistin und deren Gefühlswelt zwischen Zufriedenheit und Einsamkeit.
18 Bilder dieser Serie und einige Textauszüge aus ihrem Tagebuch sind Bestandteil der Ausstellung „grey is the new pink“, die noch bis zum 1. September 2019 im Weltkulturen Museum in Frankfurt/Main zu sehen ist.