Sebastião Salgado: Exodus und Kinder
Exodus, der lateinische Name für das 2. Buch Mose, in dem die Geschichte des Auszugs der Israeliten aus Ägypten geschildert wird und Genesis, der altgriechischen Bezeichnung für die Geburt und die Schöpfung, das auch das 1. Buch Mose und damit den Anfang der christlichen Bibel bezeichnet, haben nicht nur biblische Gemeinsamkeiten.
Beides sind Titel monumentaler Bildbände des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado, der 2019 als erster Fotograf den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Salgado, der als sozialdokumentarischer und –kritischer Fotograf aktiv ist, war auch im Auftrag von Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ und „Survival International“ sowie für die Bildagentur Magnum und das New York Times Magazin tätig.
In seinen selbst ausgewählten Langzeitprojekten entstanden eindrucksvolle und ästhetische Schwarzweißfotos, die er in mehreren Büchern veröffentlicht hat. Auch wenn die Themen der Bücher unterschiedlich sind, zeigt sich doch überall sein Engagement für Menschen in Not und bedrohte Natur. Auch wenn eigentlich die Genesis vor dem Exodus steht, ist die Geschichte der Bildbände eine andere.
Exodus
In „Exodus“, das erstmals unter dem Titel „Migranten“ im Jahre 2000 erschien und eindrucksvolle, dramatische Bilder der damaligen Flucht- und Migrationsbewegungen beispielsweise aus Afrika, Asien und dem ehemaligen Jugoslawien enthielt, wurde 2016 neu aufgelegt. Salgado schildert in seinem Vorwort zur 431-seitigen Neuauflage, dass er erschüttert feststellen musste, wie sehr sich die Bilder aus den 90er Jahren und die Situation im Jahre 2015 glichen.
Das großformatige Buch (24,8 x 33 cm) enthält analoge Fotos, teils doppelseitig, teils zwei bis drei Bilder auf einer Seite und ist sicher nicht zum einfachen Durchblättern gedacht. Wegen der Größe und des Gewichts, aber auch wegen des Inhalts, eignet sich das Buch nicht für die schnelle Nachtlektüre im Bett. Es ist im Grunde genommen ein Coffee Table Book, das man in Ruhe bei einer guten Tasse Kaffee, auf dem Tisch liegend betrachtet. Die Fotos benötigen Zeit: Zeit, das Gesehene zu analysieren; Zeit, darüber nachzudenken und eigene Schlüsse zu ziehen.
Exodus gliedert sich in vier Themenbereiche:
- Migranten und Flüchtlinge: Der Überlebensinstinkt
- Afrikanische Tragödie: Kontinent der Entwurzelten
- Lateinamerika: Landflucht und Chaos in den Städten
- Asien: Das neue urbane Gesicht der Welt
Wenn man die Bilder, die ohne weiteren Text auf den Seiten stehen, in Ruhe betrachtet, kann man Details entdecken, auf scheinbare Nebensächlichkeiten achten und weiter über das Gesehene nachdenken – immer im Licht der historischen Ereignisse, die vielen Leser*innen noch präsent sein dürften. Hilfreich ist auch der beiliegende Begleittext, der Informationen über den Inhalt und den Kontext der abgebildeten Personen und Szenen sowie die Rahmengeschehnisse enthält.
So vielfältig die Ursachen für Flucht, Vertreibung und Migration sind, so unterschiedlich sind auch Salgados Bilder. Die meisten der Bilder zeigen Menschen. Menschen vor Mauern, die ein Weiterkommen unmöglich machen, Menschen hinter Gittern und Stacheldraht, Menschen in armseligen Camps, die niemals Ziel und Hoffnung waren.
Dazu gehören insbesondere im Themengebiet „Afrikanische Tragödie“ auch erschöpfte, hungrige, leidende, sterbende und tote Menschen – nur Salgados Wahl der Schwarzweißdarstellung lässt zwar eine gewisse Distanz zu und macht das Betrachten zumindest ein wenig leichter und erträglicher.
Salgados Bilder halten uns einen Spiegel vor, sie fördern und fordern ein Nachdenken über das Gesehene und zeigen, welchen Weg Teile der Menschheit unter Zwang und großen Entbehrungen gehen. Die gleichen Bilder in Farbe wären, mal abgesehen von der bewussten und gezielten Nutzung vom Schwarzweißfilm durch Salgado, für viele schockierend, ein intensiveres Betrachten wäre ihnen vielleicht unmöglich und letztlich wäre Salgados mögliches Ziel nicht erreichbar.
Natürlich sind die Gründe für eine geregelte und organisierte Migration, die als Ziel ein besseres Leben in einer anderen Gesellschaft – und deren Zustimmung – hat, und damit auch die gezeigten Bilder, andere als die, die Menschen im Kampf ums nackte Überleben oder auf der Flucht vor einer konkreten Lebensgefahr zeigen. Dies wird für mich insbesondere in den ersten beiden Teilen des Buches deutlich.
Es sind aber auch Bilder von Menschen in ihrem Lebensumfeld zu sehen, die trotz der widrigen Umstände und Gefahren in gewisser Weise noch Optimismus, Hoffnung und Würde ausstrahlen. Das Umfeld der Menschen und der Geschehnisse wird in die Fotos einbezogen oder als Einzelbild einer Fotoserie dargestellt. Effekthascherei fand ich in den Bildern nicht, auch wenn mich einige Bilder sehr betroffen zurückgelassen haben. Salgado fotografiert sicherlich sehr gezielt und der Aufbau seiner Bilder ist für mich stets durchdacht.
Es sind keine zufälligen Bilder, die einzelnen Fotos und Szenen erfüllen einen Zweck und haben einen inneren Zusammenhang, der sich mindestens über das jeweilige Kapitel, manchmal aber auch über das gesamte Thema des Buches, erstreckt.
Im dritten Teil sind teils Bilder einer fragilen, indigenen Gemeinschaft zu sehen, deren Bedrohung durch die Auswüchse der Zivilisation mit ihrem Hunger nach Land und Bodenschätzen bedroht ist. Erst beim Nachdenken über das dort Gezeigte kommt man wieder zu den Bildern im ersten Teil des Buches und damit zur drohenden Gefahr, auch wenn sie nicht sichtbar ist.
Im vierten Teil wird vielfach das Leben der Gestrandeten an den Rändern der großen Städte, die Ziel der Hoffnung waren, gezeigt. Auch hier ist man gefordert, sich vorzustellen, wie schlimm die Zustände am Ausgangspunkt der sicherlich langen, gefährlichen und entbehrungsreichen Reise waren, um sich letztlich mit diesen Umständen zu arrangieren.
Das Thema wird von Salgado sehr vielschichtig in seinen Bildern gezeigt. Teilweise sichtbare Körnung und Unschärfe sowie harte Hell-Dunkel-Kontraste sind sicherlich nicht nur der damaligen Qualität höherempfindlicher Filme geschuldet, sondern werden auch gezielt als Stilmittel eingesetzt.
Beispielsweise ist auf einer Doppelseite in vier Bildern die Landung eines Bootes mit Geflüchteten erkennbar. „Erkennbar“, denn hier werden keine technisch und gestalterisch präzisen Fotos genutzt, sondern es scheinen Bilder einer mitlaufenden Filmkamera zu sein – sie unterstreichen die Heimlichkeit, die Gefahr und den Ablauf der Aktion.
Kinder
Parallel zu „Migranten/Exodus“ hat Salgado das 125-seitige Buch „Children – Kinder der Migration“ herausgebracht. Das Buch, das es eigentlich gar nicht gibt. Salgado hatte laut seinem Vorwort eigentlich nicht vor, diese Bilder zu veröffentlichen. Er hatte die Bilder im Rahmen seiner Reisen und Reportagen zu Exodus gemacht, die Kinder mochten es, fotografiert zu werden und er konnte danach weiter an seinem Thema arbeiten.
Nach dem Entwickeln der Filme erkannte er die Faszination, die in diesen Portraits steckt. Die 90 portraitierten Kinder strahlen Sorgen, Ängste, Ernsthaftigkeit und Würde aus. Die Kinder sind auf den Bildern nur sie selbst – eigene und starke Persönlichkeiten, mit all ihrer Verletzlichkeit, ihrer Unsicherheit und ihren Wünschen.
Obwohl ihre Lebenssituation zum Zeitpunkt der Aufnahme alles andere als gut und ihre Zukunft nicht gesichert war, haben einige Gesichter sogar einen leichten Anflug von Optimismus. Die Kinder blicken direkt in die Kamera und insbesondere ihre Augen beindrucken mich. Was mussten diese Augen schon alles sehen, wohin schauen diese Augen – man kommt bei fast jedem Bild ins Nachdenken. Insbesondere, wenn man dieses Buch in Verbindung mit Exodus betrachtet.
Ein sehr intensives Seherlebnis, auch wenn die Motive, anders als bei Exodus, thematisch und inhaltlich sehr ähnlich sind.
„Exodus“ erfährt mit „Children“ eine Erweiterung, bildlich aber auch inhaltlich. Es geht um diese Kinder, die nächste Generation, die Zukunft – für manche Eltern der Grund, den Exodus auf sich zu nehmen. Für mich gehören diese beiden Bücher einfach zusammen.
Informationen zu den Büchern
„Exodus“ von Sebastião Salgado
Sprachen: Deutsch
Einband: Hardcover mit Begleitheft
Seiten: 432 Seiten
Maße: 24,8 x 33 cm
Verlag: Taschen
Preis: 50 €
„Children“ von Sebastião Salgado
Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch
Einband: Hardcover
Seiten: 124 Seiten
Maße: 26 x 33 cm
Verlag: Taschen
Preis: 40 €