Streetfotografie: Gedanken zu ethischen Zwickmühlen
Das kennt man so nicht von zu Hause: Ein aufgeregtes Getümmel aus zahlreichen jungen Wähler*innen versammelt sich am Tag der Wahlen zum Student Representative Council vor und auf dem Campus der American University Beirut. Mit schweren Geschützen bewaffnete Männer behalten das Geschehen vor den Toren der Universität im Auge.
„Hisbollah“, raunt mir meine Begleiterin – zu diesem Zeitpunkt im Jahr 2009 Austauschstudentin an der AUB – zu, während wir uns zu Fuß der Szene nähern und zückt sie ihre Kamera. Klick, Foto in der Kiste. Wenige Sekunden später bittet uns einer der Schwerbewaffneten mit Nachdruck in Stimme und Blick, das Bild doch am besten gleich wieder zu löschen.
Es stellen sich uns in dem Moment keinerlei Fragen nach der rechtlichen Lage im Libanon oder nach grundsätzlichen ethischen Imperativen. Gern, tout de suite. Wie gewonnen, so zerronnen. Dafür aber körperlich und seelisch unversehrt. Es scheint uns ein fairer Deal zu sein.
Zum Glück ist die Sachlage da in den meisten Fällen komplexer, wenn man über Tun und Unterlassen in der Straßenfotografie entscheiden möchte: Es gilt neben der juristischen Balance zwischen Recht am eigenen Bild und Kunstfreiheit da auch allerlei ethisch-moralische Tretminen zu berücksichtigen.
Aber ganz von vorn. Wovon sprechen wir überhaupt, wenn wir Straßenfotografie sagen? Natürlich gehen beim Definitionsversuch die Meinungen, zumindest in Detailfragen, mitunter deutlich auseinander. Hier wollen wir uns für den Moment darauf einigen, dass die Straßenfotografie Ereignisse, Menschen und unmittelbare Begegnungen im öffentlichen (oft urbanen) Raum abbildet, dabei häufig einen dokumentarischen oder „Schnappschuss“-Charakter besitzt und im Regelfall nicht inszeniert ist. Sie zeigt, nicht selten mit einem Augenzwinkern, das, was ist – egal, ob hässlich, traurig, besorgniserregend, satirisch, einfach nur lustig oder schnöde. Leben eben.
Und genau da setzen die rechtlichen und moralischen Hintergrundfragen der Straßenfotografie an: Wenn ich ein authentisches, nicht-inszeniertes und möglicherweise so nie wieder reproduzierbares Foto im öffentlichen Raum schießen möchte – muss ich das dann nicht „heimlich“, ohne Vorwarnung, genau jetzt sofort und in Millisekunde tun? Und wenn ich das dann tue, habe ich am Ende das Jahrhundertbild in Sack und Tüten und kann damit nichts anfangen, da es entweder juristisch oder moralisch gar nicht tragbar ist?
Darüber hinaus, wie verhält es sich eigentlich mit dem dokumentarischen Aspekt dieser Kunst? Wenn ich zum Beispiel Vertreter*innen sozialer Randgruppen vor der Linse habe, mit meinem Foto eine wichtige Botschaft transportieren möchte und dadurch womöglich Menschen in ihrer Verletzlichkeit zusätzlich entblöße?
Zunächst einmal ist es natürlich wichtig, zwischen dem zu unterscheiden, was das Gesetz sagt, und dem, was ethisch gut und richtig ist; wobei die erstere Frage leichter zu beantworten ist als die letztere. Einen Berufskodex für Fotograf*innen nämlich, wie er beispielsweise in den USA existiert, gibt es in Deutschland so nicht.
Auch wenn er gerade von Fotojournalist*innen häufig gefordert wird. Das Gesetz ist da, wenn auch nicht immer ganz eindeutig, so doch immerhin ein nützlicher Leitfaden. Das Recht am eigenen Bild genießt in Deutschland einen hohen Stellenwert. Es wurde in Deutschland 1907 im Kunsturhebergesetzverankert und seine Entstehung wurde – kein Scherz! – durch den toten Körper Otto von Bismarcks inspiriert.
Ihm gegenüber steht das ebenfalls verfassungsrechtlich geschützte Grundrecht der Kunstfreiheit. Hier soll es heute aber vor allem um die (noch) komplexeren ethischen Fragen gehen. Denn nur, weil etwas legal ist, ist es nicht notwendigerweise ethisch korrekt. Und anders herum.
Hier möchte ich kurz das betonen, was aus meiner Sicht für die Straßenfotografie spricht, sie sogar zu meinem „Lieblingsgenre“ macht. Die Straßenfotografie zeigt uns, gerade in Zeiten ausufernder Selbstinszenierung à la Instagram und Co., ein ehrlicheres, authentischeres Bild unserer Gesellschaft. Man könnte sogar sagen, sie liefert uns einen gewissen Überblick über die Bandbreite des Menschlichen; Gesellschaft als Mikrokosmos, quasi.
Wer, wie ich selbst, ein ausgeprägtes Interesse an der Conditio Humana besitzt, wird beim Anblick gelungener Exemplare der Straßenfotografie regelmäßig tief berührt sein und eine Art Verbundenheit mit den Motiven verspüren, eine Dankbarkeit für einen derartigen Einblick ins Persönliche inmitten des Öffentlichen.
Nun ist aber der Grat zwischen einer einfühlsamen Dokumentation öffentlichen Lebens einerseits und aggressiver Grenzüberschreitung im Stile Bruce Gildens andererseits häufig schmaler, als man zunächst meinen könnte. Wer seine Motive weder vor den Kopf stoßen, noch einfach heimlich fotografieren möchte, kann zum Beispiel – nun, ganz einfach: um Erlaubnis bitten.
Und zwar nicht nur, wenn er oder sie „erwischt“ wurde (spätestens dann aber auf jeden Fall), sondern ganz generell. Nun werden sicherlich einige protestieren und das oben bereits erwähnte Problem der Echtheit des zu fotografierenden Moments anführen.
Ein gelungener Kompromiss könnte darin bestehen, das Bild zwar unangekündigt zu schießen, dann aber im Nachhinein auf die jeweiligen Personen zuzugehen und ihnen das entsprechende Bild auf dem Kameradisplay zu zeigen. Genau an dieser Stelle kommt einem übrigens ein weiterer Stichpunkt auf der Agenda für ethische Straßenfotografie zufälligerweise sehr zugute: die Protagonist*innen gut aussehen zu lassen.
Und damit meine ich ausdrücklich nicht beschönigen, sondern schlicht und ergreifend, sie nicht vorzuführen, nicht auf ihren augenscheinlichen Schwachstellen herumzureiten. Sagt mein Motiv dennoch „nein“, sollte ich (auch wenn es vielleicht schwerfällt) lächeln, das Foto löschen und ganz einfach weitergehen.
Es spricht aber bei näherer Betrachtung auch gar nicht so viel dagegen, bereits im Voraus um Erlaubnis zu bitten. Fotograf Jamie Windsor beschreibt das sogar als hilfreich, um Stereotype und Vorannahmen über seine Motive durch den direkten Kontakt auszuhebeln und zum Teil gar komplett umzukehren.
Etwas also, das einem generell im Alltag dabei hilft, empathisch statt anmaßend zu sein: Nämlich offen für die Vorstellung zu sein, dass die Person neben mir in der U-Bahn womöglich gerade einen echt miesen Tag hat, einfach nur unter dem „Resting Bitch Face Syndrom“ leidet oder gerade einen lieben Menschen durch eine unheilbare Krankheit begleitet etc.
Eine Situation, die die Beziehung zwischen Fotograf*in und Motiv besonders komplex macht, ist die, Vertreter*innen sozialer Randgruppen vor der Linse zu haben: zum Beispiel, wenn mein Motiv obdachlos ist und auf der Straße lebt. Wer ständig im Blickfeld der Öffentlichkeit lebt, hat keine Möglichkeit, sich vor den Augen der Öffentlichkeit abzuschirmen.
Und selbst, wenn ich mit meinem Foto eine wichtige Botschaft transportieren möchte, kann es passieren, dass ich die Verletzlichkeit eines anderen Menschen (blinden oder sehenden Auges) ausnutze und ihn dadurch einfach nur entblöße. Zudem stellt sich hier generell auch die Frage der Repräsentation:
Kann man als Fotograf*in eine (Sub-)Kultur repräsentieren, der man nicht auch selbst angehört? Wer erzählt dann wessen Geschichte und mit welcher Berechtigung? Hier kommen aus meiner Sicht die zwei großen ‚E’s ins Spiel: Möchte ich mein Motiv trotz eindeutig bestehenden Machtgefälles fotografieren, muss ich mit viel Empathie vorgehen und (wiederum) am besten den direkten Kontakt suchen.
Dadurch kann es mir dann sogar gelingen, die Situation im Sinne des Empowerments der jeweiligen Person zu nutzen, sie aus ihrer vermeintlichen Opferrolle zu herauszulösen und sie als Mensch mit Handlungsmacht und eigener Geschichte zu zeigen statt als Klischee. Fotograf Yousuf Karshhat es aus meiner Sicht perfekt auf den Punkt gebracht, indem er sagte:
Look and think before opening the shutter. The heart and mind are the true lens of the camera.
Das Titelbild stammt von Jianwei Yang und heißt „Other Side of The World“ . Alle hier gezeigten Aufnahmen könnt Ihr als Drucke direkt über Photocircle bestellen.