Von Angesicht zu Angesicht: Portraits auf Reisen
Miro Mays Spezialgebiet ist die Reise- und Dokumentarfotografie. Wie er auf seinen Reisen auf fremde Menschen zugeht, was dabei wichtig ist und was er daran liebt, verrät er in unserem heutigen Interview.
Warum überhaupt Portraitfotografie? Was ist daran aus Deiner Sicht besonders dankbar?
Menschen haben mich schon immer fasziniert, besonders Gesichter und die Frage, warum einige so unscheinbar und andere so ausdrucksstark und anziehend sind. Dabei geht es mir nicht unbedingt um Schönheit, sondern um die Wirkung, die komplette Palette der Emotionen von stark, stolz, offen über neugierig, sanft, schüchtern bis schwach und verletzlich.
In einem Gesicht kann sich in Sekundenbruchteilen so vieles abspielen. Manchmal gibt es einen kurzen Moment, in dem sich die Person komplett öffnet und ihr wahres Wesen, ihre Seele zum Vorschein kommt. Dank der Portraitfotografie kann ich diesen kostbaren Augenblick festhalten.
Ich fotografiere fast ausschließlich fremde Menschen in unterschiedlichen Regionen der Welt. Das, was mir daran am meisten Spaß macht, ist die Begegnung und das gegenseitige Vertrauen. Ich habe mal den Satz gehört: „Ein Portrait macht man nicht, ein Portrait bekommt man geschenkt“. Das kann ich nur bestätigen, denn sobald sich jemand auf mich einlässt, passiert etwas und wir sind keine Fremden mehr. Mal ist es magisch, mal völlig unspektakulär – aber immer ein kostbares Geschenk.
Was macht es besonders dankbar?
Dazu muss ich eine kurze Geschichte erzählen: Ich war auf dem Rückweg von einem Hamar-Dorf in der Nähe von Turmi in Äthiopien. Es war spätnachmittags, die Sonne stand tief und auf einmal entdeckte ich Gestalten im Busch. Es waren Frauen aus dem Hamar-Stamm auf dem Weg ins Dorf. Alle traditionell gekleidet, beladen mit Holz, Wasser, Werkzeug und ein wenig Nahrung. Ich wollte sie unbedingt fotografieren und sie waren damit einverstanden.
Eine der Frauen stand abseits. Mein erster Gedanke war, dass sie keine Fotos mag. Ich bin langsam auf sie zugegangen, habe auf die Kamera gedeutet und sie fragend angeschaut. Zu meiner Überraschung hat sie sofort zugestimmt. Als ich ihr dann die Bilder auf dem Display der Kamera zeigte, hatte sie die Hände vor das Gesicht geschlagen und glasige Augen bekommen. Es hat sich herausgestellt, dass sie noch nie im Leben fotografiert wurde. Sie war sehr überwältigt. Solche Momente sind unbezahlbar und lassen alle Strapazen vergessen.
Was ist technisch betrachtet eine Herausforderung im Vergleich mit anderen Spielarten?
Fast alle meine Bilder entstehen auf Reisen, wo ich von morgens bis abends allein unterwegs bin. Obwohl ich mehrere Tage an einem Ort verbleibe, entdecke ich ständig neue Straßen und Ecken – deswegen gehe ich nur äußerst selten zu denselben Plätzen zurück. Durch diese Art zu reisen komme ich in sehr kurzer Zeit mit sehr vielen Menschen in Kontakt und erlebe die unterschiedlichsten Situationen und Reaktionen.
Das ist gleichzeitig toll und aufregend, aber auch extrem intensiv. Nicht selten bildet sich schon nach kürzester Zeit eine neugierige Menschentraube, die Kinder kreisen um mich herum und ich bekomme viel mehr Aufmerksamkeit als gewollt. Das bedeutet ständige Achtsamkeit, schnelle Entscheidungen und schnellen Ortswechsel. Man könnte fast sagen: eine Art Guerilla-Fotografie.
In derlei Situationen geht es nicht nur um die Technik, sondern viel mehr um das richtige Gefühl, Instinkt und gutes Timing. Aber andererseits muss man gerade in solchen Momenten auch die Kamera in- und auswendig kennen, da es oft nur eine Chance gibt, ein gutes Bild zu bekommen.
Portraitieren im Studio ist für mich viel entspannter, da ich hier alles viel besser kontrollieren kann. Bei Reisefotografie muss ich stark auf die Tageszeit, Wetter und die komplette Umgebung achten, inklusive Kinder und Tiere, die gern spontan ins Bild laufen.
Gibt es besonders geeignete Orte?
Am liebsten fotografiere ich draußen. Besuche kleine Dörfer, die nicht einmal auf einer Karte verzeichnet sind, oder große Metropolen wie Dhaka, Manila, Kalkutta oder Nairobi. Überall dort spielt sich das Leben auf der Straße ab – vor den kleinen Geschäften oder auf der Veranda.
Manchmal werde ich von den Einheimischen eingeladen und finde mich in einer Hütte, einer Moschee, einem Innenhof oder Tempel wieder. Ich „verlaufe“ mich gern im Labyrinth der kleinen Gassen. Solange ich genügend Licht und einen schönen Hintergrund finde, ist jeder Ort perfekt.
Auch wenn ich größere Distanzen bewältigen muss, halte ich oft an und fotografiere direkt am Straßenrand. Zuhause in Düsseldorf fotografiere ich ebenfalls lieber in Parks, am Rhein oder einfach mitten in der Stadt. Das ist dann vielleicht weniger intensiv, da ich meist mit einem Modell unterwegs bin, macht aber genauso viel Spaß.
Welche Ausrüstung brauchst Du?
Bei der Ausrüstung bin ich sehr minimalistisch und brauche nur meine Canon 5D Mark III mit meinem Immerdrauf-Objektiv Canon EF 24–70 mm f/2.8L II USM . Auf Reisen nehme ich, als Reserve, einen zweiten Body und ein Canon EF 70–200 mm f/2.8 L IS II USM mit. Beide bleiben aber zumeist unbenutzt im Rucksack liegen.
Natürlich kommen auch die Basics wie Laptop, externe Festplatte, Speicherkarten, Akkus, ein Stromadapter, Ladegeräte und ein einfacher Reflektor mit. Immer dabei habe ich mein iPhone, mit dem ich übrigens unheimlich gern und viel fotografiere! Meine Profoto B1 mit diversen Lichtformern nehme ich nur mit, wenn es notwendig ist.
Eine Frage des Blickwinkels: Hast Du eine „Lieblingsperspektive“?
Auf Augenhöhe, nah und frontal. Aber in der Wirklichkeit passe ich mich immer der Situation an und teste alle möglichen Blickwinkel aus. Deswegen bleibe ich ständig in Bewegung – das kann ich jedem als gute Alternative für andere Sportarten empfehlen. Auf meiner letzten Reise habe ich innerhalb von sechs Wochen 10 kg verloren.
Respektvolle Distanz oder ganz nah ran?
Definitiv nah ran. Ganz nah ran. Für mich ist der persönliche Kontakt sehr wichtig. Ein Händedruck, in die Augen schauen, im Anschluss das Bild auf dem Display der Kamera zeigen, mal ein Selfie machen oder einfach ein paar Worte tauschen. Auch wenn man sich nicht versteht.
Es kommt ja nicht auf die Sprache an, sondern auf die Empathie. Da zeigt jemand auf ein Kind und schon weiß ich, dass es sein Kind ist. Wenn er auf das Kind und mich zeigt, dann bedeutet das wahrscheinlich, dass ich ein Foto machen soll oder er wissen möchte, ob ich auch Kinder habe. Meistens ist es beides.
In jedem Land lerne ich einige Worte. Es müssen nicht viele sein, fünf bis zehn reichen vollkommen aus, um die Leute durch meine Aussprache zum Lachen zu bringen, zu überraschen oder Respekt zu zeigen. Dazu noch ein paar Gesten, etwas Mimik und schon kann man sich verständigen. Nicht selten werde ich zum Tee oder Essen eingeladen, lerne die Familie kennen und werde dann direkt an die Nachbarschaft übergeben. So entwickelt sich ein Shootingtag zum Selbstläufer. Es gibt keine respektvolle Distanz.
Say „cheeeeese“! Das funktionierte schon im Kindergarten nicht – was sind bessere Hilfestellungen für das Modell?
Das ist ganz einfach, ich mache ein Kompliment oder versuche beim Reisen, etwas in der jeweiligen Sprache zu sagen. Das reicht meistens aus, um die Situation aufzulockern oder jemandem ein Lächeln zu entlocken. Aber das Wichtigste ist, selbst entspannt und positiv zu sein. Das färbt immer ab.
Ich fotografiere ganz normale Menschen im Alltag, denen ich zufällig begegne. Es sind keine Profi-Modelle, also wird manchmal ein bisschen rumgealbert, es werden irgendwelche Promis imitiert oder komische „Moves“ aus angesagten Videoclips. Manche ziehen einfach Grimassen und machen dabei das Victory-Zeichen. Das ist aber schnell vorbei. Wichtig ist, sich auf die fotografierte Person einzulassen. Manchmal denke ich, eine Pose geht gar nicht und wenn ich mir das Bild später anschaue – bin ich begeistert.
Du hast es bereits erwähnt – Du fotografierst viel auf Reisen, auch in ärmeren Ländern und indigenen Communities. Das wirft natürlich einige ethische Fragen auf, etwa nach Authentizität und Machtgefällen. Worauf achtest Du dabei besonders stark?
Ja, ich bin sehr viel in Regionen unterwegs, die nur selten oder kaum besucht werden. Ich habe – unter anderem – die Nichtregierungsorganisation German Doctors in Länder wie Sierra Leone, Bangladesch, Philippinen, Indien und Kenia begleitet und so Zugang zu den ärmsten Regionen der Welt bekommen. Ich war auch mehrere Male mit kleinen Teams der sogenannten Rolling Clinics unterwegs. So konnte ich sehr abgelegene Dörfer erreichen.
Unterwegs haben wir bei den Einheimischen auf dem Boden oder in einer Hängematte übernachtet. Bei jedem Stopp sind viele Menschen aus der ganzen Umgebung gekommen. Nicht nur wegen der Behandlung, sondern auch, um Verwandte zu besuchen oder Ware zu tauschen. Für die Menschen vor Ort war es immer eine gern gesehene Abwechslung und ein gesellschaftliches Ereignis. Da ich mit den Ärzt*innen gekommen war, wurde ich auch in diesem Kontext wahrgenommen. So hatten die Menschen keine Scheu vor der Kamera und ich bekam sehr intime Einblicke in das dörfliche Leben.
Bei meinen privaten Projekten wie zum Beispiel in Äthiopien reise ich nur mit einem einheimischen Guide zusammen. Da wir uns fernab der Zivilisation bewegen, wird im Zelt geschlafen, im Fluss gebadet und das Essen am Feuer zubereitet.
Mittlerweile kann man auch in Äthiopien einige Stämme leicht erreichen wie zum Beispiel den Mursi-Stamm im Mago-Nationalpark. Hier kann man mit zig Urlaubsgästen gleichzeitig eine Frau mit Lippenteller oder einen „Krieger“ mit einer Kalaschnikow gegen Bezahlung fotografieren. Aber das ist nicht das, wonach ich suche. Für mich ist es wichtig, authentische Situationen und echte Persönlichkeiten zu finden. Das ist nur abseits der typischen Pfade möglich.
Was das Machtgefälle betrifft: Jede*r ist für seine Grenzen selbst verantwortlich. Wenn man an Orte reist, ohne sich vorher darüber informiert zu haben und sich nicht richtig verhält, dann funktioniert es nicht. Wenn man aber auf der gleichen Augenhöhe auftritt und sich für die lokale Lebensweise interessiert, ist man als kleine Abwechslung vom Alltag meist willkommen.
Die richtige Attitüde ist das Wichtigste, das heißt: normal und ohne Angst auftreten, nicht arrogant oder herablassend sein, sondern sich wertschätzend, neugierig und interessiert zeigen.
Der Eindruck des Machtgefälles entsteht vor allem an Orten wie dem oben erwähnten Mago-Nationalpark, wohin volle Busse mit Urlaubsgästen kommen, die für Fotos zahlen – die aber niemanden grüßen, sich nicht bedanken und sich keine Namen merken.
Dann entsteht Neid oder Wut und es kann auch zu Konflikten kommen. Dort wird keine persönliche Grundlage geschaffen. „Der weiße Mann“ kommt, macht ein Foto und muss bezahlen. Manchmal will er nicht mal dafür bezahlen, obwohl er aus Sicht der Einheimischen natürlich reich ist. Beide Gruppen wissen nichts übereinander und in einer namenlosen Masse ist es leichter, zu beneiden oder sich einfach nicht gegenseitig wertzuschätzen.
So ist es auch leichter, die Einheimischen nur als Urlaubsfotomotive oder als Einkunftsquelle zu sehen. Ich selbst lasse mich gern auf die Menschen ein, zeige aber auch deutlich, wo meine Grenzen sind, um Missverständnisse zu vermeiden. Letztendlich sind wir alle gleich und können selbst entscheiden, was angebracht ist und was nicht.
Hast Du ein absolutes Lieblingsportrait in Deinem Portfolio?
Ja, habe ich. Nicht nur eines, es sind mehrere. Eins davon ist definitiv „Borana Girl“ aus Äthiopien. Ich war auf der Suche nach einem Dorf in der Nähe von Yabello, wo der Borana-Stamm beheimatet ist. Das Dorf habe ich nicht gefunden, stattdessen aber ein Mädchen, das mit ihrer Mutter im Busch unterwegs war.
Ein weiterer Liebling ist „Water pump“ aus Old Dhaka in Bangladesch. Eigentlich wollte ich nur die Frau fotografieren, aber auf einmal war der Hindu-Priester da und hat die Szene vervollständigt.
Ich liebe auch das Portrait „Rainy season“. Es ist entstanden inmitten von Hunderten Menschen auf einem belebten Marktplatz in Äthiopien. Ich hatte das Mädchen gebeten, den Regenschirm aufzumachen und hatte keine Ahnung, dass da alle Farben des Regenbogens zum Vorschein kommen würden.
Vielleicht noch eins – das „Ornament“. Dieses Portrait der jungen Frau aus dem Suri-Stamm hatte ich schlicht übersehen. Es lag ein paar Jahre unbemerkt auf meiner Festplatte, nur um mich später für das Durchstöbern des Archivs zu belohnen!
Was sind Deine fünf Geheimtipps für ein besonders Portraitfoto?
Empathie: An erster Stelle kommt definitiv die Empathie. Ohne Empathie geht gar nichts – das betrifft aber übrigens fast alles im Leben.
Interesse: Wahres Interesse zeigen (und empfinden), das heißt: Fotografiere nur diejenigen Menschen, die Dich zu 100 % ansprechen. Ich habe schon viel zu oft beobachtet, dass Fotograf*innen unnötige Kompromisse eingehen und Personen fotografieren, zu denen sie gar keine Verbindung haben oder die sie als „leichte Beute“ sehen.
Komfortzone: Verlass Deine Komfortzone – sprich fremde Menschen an, die Deine Aufmerksamkeit geweckt haben und mach ein Portrait. Vielleicht werden die ersten Bilder nicht umwerfend sein, das kannst Du als Vorwand für Folge-Shootings nutzen. Lass Dich durch fremde Straßen und Gassen treiben, so triffst Du auf tolle Menschen, die für ein Portrait offen sind.
Respekt: Respektvolles und dabei selbstbewusstes Auftreten – sei nicht arrogant oder herablassend und akzeptiere ein Nein – auch, wenn es manchmal sehr schwer fällt, weil Du gerade Dein Traummodell gefunden hast.
Spaß: Habe immer Spaß und bleibe positiv – Du kannst kein gutes Porträt erzwingen. Wenn Du zu verbissen oder unkonzentriert bist, kannst Du keine guten Ergebnisse erwarten. Positivität und gute Laune helfen immer und sind ansteckend.
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