11. Februar 2019 Lesezeit: ~7 Minuten

Zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer

Im Mai 2018 rettete die Crew des zivilen Rettungsschiffs Sea-Watch 3 mehr als 460 Menschen vor dem Ertrinken. Während dieser Zeit wurde ich für drei Wochen Teil der Mannschaft und konnte diese Fotodokumentation über Seenotrettung auf dem Mittelmeer erstellen.

Seit 2015 fliehen vermehrt Menschen vor den Zuständen in ihren Heimatländern über die tödlichste Fluchtroute der Welt. Das Such- und Rettungsgebiet, in dem die meisten Bootsunglücke passieren, liegt außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer im südlichen Teil des Mittelmeers.

Die zweitägige Seereise dorthin starteten wir von Malta aus. Sea-Watch ist mit einem Suchflugzeug, Radartechnik, einem Bordhospital und zwei Tochterbooten ausgerüstet, um mehrere Hundert Menschen gleichzeitig vor dem Ertrinken zu retten.

Männer auf einem Schiff mit Ferngläsern

Während der Zeit auf See trainierten wir genau dies immer wieder. Trotz meiner mangelnden maritimen Erfahrungen lernte ich in kurzer Zeit viel und wurde fester Teil der Besatzung eines der Tochterboote. Rund um die Uhr war die ehrenamtliche Crew im Einsatz, um nach Menschen in Seenot Ausschau zu halten.

Nach Tagen ergebnisloser Suche erreichten uns morgens am 25. Mai Informationen über mehrere Gummiboote in Seenot, die nachts von der libyschen Küste aufgebrochen waren. Innerhalb von zwei Tagen nahmen wir über 462 Menschen an Bord auf und retteten in Kooperation mit italienischen Behörden und anderen NGOs ca. 130 weitere vor dem Ertrinken.

Aus eigener Kraft hatten diese Menschen keine Chance zu überleben. Benzin- und Trinkwasservorräte waren bei Weitem nicht ausreichend. Wetterwechsel, Beschädigung der instabilen Gummiwände und die dadurch verursachte Panik im Boot können schnell zu lebensbedrohlichen Gefahren werden.

Das nehmen die Menschen auf sich, um den Verhältnissen in Libyen zu entkommen. Es gibt zahllose Berichte über Folter, Mord, Sklaverei, Vergewaltigung sowie Erpressung von Verwandten in den Heimatländern.

Überfülltes Rettungsboot

Rettung eines Menschen

In Libyen herrscht Bürgerkrieg und es gibt keinerlei Kontrolle. Eine der Bürgerkriegsparteien stellt die sogenannte libysche Küstenwache und wird von der EU finanziell und materiell unterstützt. Auch wir kamen in Kontakt mit einem ihrer Schiffe, als während einer laufenden Rettungsaktion in internationalen Gewässern die sogenannte libysche Küstenwache eingriff.

In Panik sprangen die Menschen aus dem überfüllten Gummiboot ins Meer. Sie fürchteten die Zustände, vor denen ihnen die Flucht gerade noch gelungen war so sehr, dass sie auf keinen Fall riskieren wollten, dorthin zurückgebracht zu werden. Innerhalb von Minuten befanden sich ca. 50 Nichtschwimmer*innen ohne Rettungswesten im offenen Mittelmeer.

Menschen auf einem überfüllten Boot

Aus allen Richtungen hörte ich Schreie, sah Köpfe im Wasser untergehen und wieder auftauchen. Ich konnte mich im ersten Moment nicht bewegen und mir wurde übel. Schlagartig wurde mir klar, dass es nun um Menschenleben ging. Der Schock legte sich schnell und erstaunlich ruhig taten wir das, was wir trainiert hatten.

Wir positionierten lange Schwimmkörper im Wasser, an denen sich die Menschen festhalten konnten. Nacheinander bargen wir die Menschen und brachten sie mit dem Tochterboot im Pendelverkehr an Bord des Mutterschiffs. Erst im Nachhinein wurde mit Hilfe des Videomaterials klar, dass wir in dieser unübersichtlichen Situation den Tod einzelner Menschen leider nicht verhindern konnten. Geräuschlos und ungesehen gingen einzelne Köpfe im Wasser unter und tauchten nicht mehr auf.

Leeres Boot

Menschen mit Wärmedecken

Der erschreckend routinierte Umgang mit dem Tod ihrer vermissten Weggefährten*innen ließ erahnen, was diese Menschen bereits erleben mussten. Ohne das Eingreifen der sogenannten libyschen Küstenwache wäre an diesem Tag vermutlich niemand ertrunken.

Einer der Geretteten ist Ali. Es war sein sechster Fluchtversuch über das Mittelmeer. Zuvor wurde er von der sogenannten libyschen Küstenwache menschen- und seerechtswidrig fünf Mal zurück in die Lager in Libyen gebracht. Doch die Zustände dort treiben die Menschen dazu, die lebensgefährliche Überfahrt immer und immer wieder anzutreten, denn sie ist ihr einziger Ausweg.

Trauernde Menschen

462 Menschen an Bord zu haben, war intensiv: Nahezu jeder Platz an Deck war blockiert. Alle Geretteten mussten mit Nahrung und Trinkwasser versorgt werden. Sofern sie nicht mit Verletzungen oder Seekrankheit zu kämpfen hatten, schliefen sie viel und erholten sich von den Strapazen der Flucht.

Einige berichteten von grausamen Erlebnissen während ihrer Zeit in Libyen: C. J. ist Anfang 20 und kommt aus Nigeria. Seit über drei Jahren ist er auf der Flucht, weil in seiner Heimat die Terrororganisation Boko Haram wütet. Im libyschen Gefängnis musste er mitansehen, wie sein Bruder erschossen wurde. Während er mir das erzählte, kämpfte er – und schließlich auch ich – mit den Tränen.

Nach drei Tagen Seereise kam der sichere Hafen von Sizilien in Sicht. Die Geretteten konnten an Land gehen, ohne dass sie Folter, Sklaverei oder Vergewaltigung fürchten mussten.

Portrait eines Jungen

Schlafende Menschen

Unsere Mission im Mai 2018 war die vorletzte, bevor die zivile Seenotrettung zum Spielball der europäischen Flüchtlingspolitik wurde. Als Konsequenz der Blockade ziviler Rettungsschiffe ertranken allein im Juni 2018 mehr als 600 Menschen im zentralen Mittelmeer. Und das ist nur die Zahl der dokumentierten Todesopfer. Weitaus mehr dürften unbemerkt auf See gestorben sein. Seit Anfang 2019 sind wieder mehrere NGOs, darunter auch Sea-Watch, im Einsatz.

Militärische und kommerzielle Schiffe halten sich seit Langem aus dem Such- und Rettungsgebiet fern. Das macht es umso wichtiger, dass die NGOs stellvertretend für die Zivilgesellschaft der EU vor Ort sind. Sie sind die einzige Chance auf die Wahrung der Menschenrechte im Mittelmeer.

Portraits

Mehrere Ereignisse während der dreiwöchigen Mission gingen mir persönlich sehr nahe. Ich habe lange über mein Verhalten während der oben beschriebenen Situation mit 50 Nichtschwimmer*innen im Meer gegrübelt. Die Problematik des gesamten Konfliktes gipfelte für die Flüchtenden zu diesem einen Zeitpunkt im dramatischen Schicksal zwischen Ertrinken und Überleben.

Ich habe in dieser Situation nicht mehr als zehn Mal den Auslöser betätigt, sondern zusammen mit der Crew so viele Menschen wie möglich ins Tochterboot gezogen. Später beim Betrachten der entstandenen Fotos fiel mir etwas auf: Nüchtern betrachtet war die Bildauswahl gemessen an den Ereignissen dürftig.

Ich grübelte, ob ich damit der Erwartung an den Reportagefotografen ausreichend nachgekommen war. Im Nachhinein bin ich sehr froh, mich so und nicht anders entschieden zu haben. Ich finde, ein gutes Foto darf niemals wichtiger sein als ein Menschenleben.

Menschen auf einem boot in Decken gehüllt

Viele Eindrücke, die ich während dieser Zeit gesammelt habe, machten mich traurig. Nach meiner Rückkehr fand ich mich zuhause weinend auf dem Balkon wieder. Die Energie, mit der politische Akteuer*innen diese Grausamkeiten unterstützen, ließ diese Traurigkeit bald in Wut umschlagen.

Ich hoffe inständig, dass ich mit den entstandenen Fotos dazu beitragen kann, dass an Europas Außengrenzen kein Mensch mehr sterben muss. Sea-Watch setzt sich auch aktuell vehement dafür ein und freut sich über jede Spende. Für nur 15 € kann eine lebensrettende Rettungsweste finanziert werden.

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