Die Menschen von Tarlabaşı
Tarlabaşı ist ein auf der europäischen Seite gelegener Stadtteil im Herzen Istanbuls – unweit vom Taksim-Platz und dem Gezi-Park. Das Viertel, das bis vor 50 Jahren noch die griechische und die armenische Minderheit ihr Zuhause nannten, wird heute überwiegend von Kurd*innen und vielen anderen Vertriebenen bewohnt.
Bedürftige, die auf der Straße betteln – Frauen mit Neugeborenen im Arm und Kinder, barfuß im Winter. Transsexuelle Prostituierte warten am Straßenrand und auf den Fensterbänken. Es ist der Ort, an dem Drogen verkauft werden. Aber das ist nur eine Facette. Tarlabaşı ist, wie man sich das alte Istanbul vorstellt: Männer sitzen an der Straße, rauchen, vertreiben sich den Tag mit Teetrinken und Tavla, während Kinder auf der Straße spielen.
Alles ist sehr traditionell, die Lebensweise erinnert an ein anatolisches Dorf, das noch vom Handwerk geprägt ist. In den Erdgeschossen und Kellern der Wohnhäuser liegen Holzspäne, rattern Nähmaschinen oder werden Muscheln mit Reis befüllt. Wer Einzelhandel betreibt, ist meist auf eine einzelne Sache spezialisiert.
Dazwischen Müllsammler, Familien, Austauschstudent*innen. Auf dem Basar werden sonntags unter Gesang und Geschrei allerhand Waren feilgeboten. Die Nachbar*innen kennen sich, die Gassen sind eng. Wäscheleinen, die sich die gegenüberliegenden Nachbar*innen teilen, verbinden die dicht an dicht stehenden Häuser.
Tarlabaşı steht in krassem Kontrast zu angrenzenden Stadtteilen Istanbuls, die im Zeichen des Massentourismus westlich-orientalistische sowie golftouristische Bedürfnisse erfüllen. Nur eine mehrspurige Straße, der Tarlabaşı Bulvari, trennt die Gegend von Shoppingmeile und hippen Vierteln mit Bosporus-Blick.
Während der Zeit, die ich an der Unversität der Bildenden Künste „Mimar Sinan“ Fotografie studierte, lebte ich für einige Monate in Tarlabaşı. Ich liebte dieses Viertel vom ersten Tag an. Ich ging oft durch die Straßen spazieren und wurde dabei von allen Seiten beäugt – hier war ich „die Fremde“.
Ich entschied, meine Eindrücke fotografisch festzuhalten und begann, die Menschen mit meiner digitalen Spiegelreflexkamera zu fotografieren, obwohl ursprünglich eine analoge Fotoserie geplant war. Doch ich hatte Angst, mit meiner analogen Mittelformatkamera nicht „schlagfertig“ genug zu sein. Richtig gute Fotos bekam ich mit meiner Digitalkamera aber nicht.
Die Leute in Tarlabaşı, die größtenteils in ärmlichen Verhältnissen leben, waren irritiert von der großen Kamera. Manche hielten mich wohl für eine Journalistin. Die Art der Fotografie musste so ehrlich sein wie die Umgebung selbst. Also fotografierte ich von nun an mit meiner analogen Mittelformatkamera, wodurch mir schließlich ein Vertrauen und eine Offenheit entgegengebracht wurden, die die von mir gewollte Authentizität erst ermöglicht haben.
Mein türkischer Mitbewohner begann, mich zu auf meinen Streifzügen zu begleiten und brach das Eis zwischen mir und meinen Nachbar*innen. Ich weiß nicht, was er ihnen sagte, aber sie fingen stets augenblicklich an zu lächeln und für die Kamera stillzustehen.
Nun soll Tarlabaşı auch hip und modern werden. Die türkische Regierung plant gemeinsam mit einer Firma, deren Vorsitzender einst Erdoğans Schwiegersohn war und heute Minister (Albayrak) ist, seit Jahren die „Verschönerung“ des alten Istanbuls – auf Kosten der historischen Substanz. Große Teile Tarlabaşıs wirken derzeit zerbombt: Die Menschen werden gezwungen, viel zu günstig zu verkaufen, ihnen wird mit Enteignung gedroht.
Dann werden ihre Häuser für neue Investorenarchitektur, für „schönes Wohnen im neuen Istanbul“ abgerissen. Ein Zurück gibt es für die Bewohner*innen nicht mehr, denn die Mieten werden so teuer, dass das Klientel komplett ausgetauscht wird. Die staatlich gelenkte Gentrifizierung hat auch einen Namen: Taksim 360. Was man in Paris gerade bezüglich der Banlieues zu ändern versucht, schafft Istanbul gerade: eine Klassentrennung.
Diese Fotoserie ist eine Hommage an meine ehemaligen Nachbar*innen, die mich herzlich in Empfang genommen haben und mir ein Istanbul gezeigt haben, an das sich bald kaum mehr jemand erinnern wird.