Mein Istanbul
In den letzten Wochen war Istanbul die Bühne von großen und geschichtsträchtigen Ereignissen. In den oftmals von Lebenslust, einem wahnsinnigen Durcheinander und von Kontroversen geprägten Alltag mischten sich Bombenanschläge und ein nicht mehr für möglich gehaltener Putschversuch.
Die ganze Welt blickt in die Türkei, speziell nach Istanbul, um die Entwicklungen zu beobachten. Was für viele Menschen besondere Ereignisse sind, für viele Städte einmalig wäre, ist für Istanbul nicht von Bedeutung. Istanbul hat schon so viele wichtige Geschehnisse erlebt und ignoriert. Diese Stadt entwickelt sich seit Jahrhunderten einfach weiter, fast so, als wenn sie ihre eigenen Pläne hätte, ohne Rücksicht auf ihre Bewohner und menschliche Handlungen. So vieles scheint vergänglich. Istanbul ist es nicht.
Vielleicht habe ich genau diese Besonderheit schon als Kind gespürt, wenn der jährliche Heimatbesuch wieder auf dem Plan stand. Meine Eltern haben damals ihren gesamten Jahresurlaub und die kompletten Sommerferien genutzt, um so lange wie nur möglich in den Genuss ihrer eigentlichen Heimat zukommen. Für sie ging es in eine mehr als bekannte Umgebung, für mich aber waren es Fahrten ins Unbekannte, in eine fremd wirkende Welt.
So endlos und langweilig mir diese langen Reisen auch vorkamen und auch, wenn die Fahrt durch die türkische Grenzkontrolle etwas Spannung aufkommen ließ, ich bemerkte die Ankunft in der Türkei erst, wenn die ersten Kilometer durch Istanbul zurückgelegt wurden.
Zum ersten Mal seit Tagen war ich wieder kindlich neugierig und interessiert. Es waren genau diese anfänglichen Begegnungen, die, obwohl sie sich heute nur noch sehr verschwommen vor meinem geistigen Auge abspielen, meine Zuneigung zu dieser Stadt erst ermöglich haben: das Meer, nicht enden wollende Straßen, eine Symphonie aus Autohupen, mit Chlor durchsetztes Leitungswasser, Katzen, Müllberge auf den Straßen und natürlich Onkel Ahmet, das Gesicht meiner Istanbul-Besuche.
Seit dieser Zeit hat die Stadt Istanbul für mich nichts von ihrer Herrlichkeit und ihrer Anmut verloren, doch wächst und verändert sie sich so schnell, dass ich lange Zeit den Drang verspürt habe, ihre Gegenwart in Bildern festzuhalten. Ich wollte mich in Zukunft nicht mehr mit verblassenden Erinnerung zufriedengeben müssen. So war es für mich eine Herzensangelegenheit, dass mein erstes großes Straßenfotografie-Projekt im Zusammenhang mit Istanbul stehen muss.
Über ein Jahr lang habe ich den Alltag in Istanbul fotografisch dokumentiert, immer mit dem romantischen Hintergedanken, die Zeit für die Nachwelt festzuhalten, so wie es der große Ara Güler in Bezug auf Istanbul für heutige Generationen gemacht hat. Das heutige Istanbul hat natürlich weniger mit der Stadt aus meiner Kindheit zu tun, sie ist noch viel größer, lauter, voller, bunter, in vielen Sachen besser, manchmal auch schlechter geworden.
Wer Istanbul richtig spüren möchte, der muss eintauchen in diese Stadt, dahin, wo sich ihre Seele versteckt. Es sind gerade die traditionsreichen Stadtteile wie die Altstadt, Balat, Tarlabasi, Beyoglu, Kasimpasa oder Kadiköy, die einem ein Gefühl für die Besonderheit dieser Perle am Bosporus geben können – insbesondere, wenn man sich auch den Menschen öffnet.
Menschen stehen in meiner Fotografie im Vordergrund. So bin ich für mein Projekt in die Stadt eingetaucht und habe mich auf die Suche nach Menschen und wertvollen Motiven gemacht.
Das Ergebnis meiner Arbeit und Beziehung zu Istanbul kann man in meinem hochwertig produzierten Bildband „Istanbul’um“ mit 100 Schwarzweißfotos betrachten und sich hoffentlich genauso von der Stadt faszinieren lassen, wie ich es seit über 30 Jahren tue.