Hüzün: Die Melancholie Istanbuls
Valeska und Miriam sind in Istanbul unterwegs, um ehrliche Bilder aufzunehmen, die die Stadt zeigen, wie sie ist. Ohne Fokus auf ein bestimmtes politisches, sozial- oder gesellschaftskritisches Thema, fernab der Touristenbezirke. Sie gewähren dem Betrachter Einblicke in das echte Leben der türkischen Metropole am Bosporus.
In der Konzeptphase des Projekts stellten sich die beiden Designerinnen die Frage: Interessieren Türken sich für Fotografien des alltäglichen Geschehens in ihrer Hauptstadt? Sie fragten und die Antwort war: Ja! Denn die Türkei ist ein sehr vielseitiges Land mit nur wenigen Mega-Städten. So waren viele Landbewohner noch nie in der pulsierenden Metropole.
Die beiden arbeiteten mit einem typisch türkischen Medium: Einem vertrauten, immer und überall präsenten Begleiter – dem Handy. Denn was steht der Echtheit eines Augenblicks stärker im Weg als mit einer großen Kamera auf Menschen zu zielen?
Ihnen gelingt der Spagat zwischen Bildern, die ästhetisch komponiert, angenehm konsumierbar sind und auf der anderen Seite ungeglättet die Wirklichkeit der Stadt zeigen: Die Schönheit des Alltags ebenso wie seine Härte und Vielfalt. Man sieht einen Querschnitt der Gesellschaft: Jede soziale Schicht, jedes Alter ist vertreten, weil den beiden all diese Menschen auf den Straßen begegnen.
Dort begegnet einem auch Hüzün – oder viel mehr ist dieses besondere Gefühl dort allgegenwärtig. Orhan Pamuk, türkischer Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger 2006, beschreibt es so:
Die Melancholie Istanbuls ist „huzun“, ein türkisches Wort, dessen arabische Wurzel (es taucht fünf Mal im Koran auf) ein Gefühl von tiefem spirituellem Verlust andeutet, ebenso aber eine hoffnungsvolle Art, das Leben zu betrachten, „ein Zustand des Geistes, der letztlich so lebensbejahend wie verneinend“ ist.
Für die Sufis ist Hüzün die spirituelle Qual, Gott nicht nah genug zu sein; laut Johannes vom Kreuz führt diese Qual dazu, dass der Leidende so tief sinkt, dass seine Seele als Ergebnis davon zu göttlicher Sehnsucht aufsteigt. „Es ist die Abwesenheit der Erfahrung Hüzün, die dazu führt, dass man sie fühlt.“
Hüzün ist keine einzelne Beschäftigung, sondern eine alle umfassende Emotion, nicht die Melancholie des einzelnen, sondern die dunkle Stimmung, die Millionen miteinander teilen.
Diese Stimmung sieht man in den Bildern, auf ihr basiert der gewählte Bildstil, in dem die Fotos gestaltet sind. Die transportierte Aussage verschmilzt mit der Bildgestaltung zu einer Einheit, sodass eine echte, authentische Nähe entsteht.
Genau diese Nähe zu den Menschen ist den beiden Istanbul-Liebhaberinnen besonders wichtig. Nicht nur zeigen ihre Arbeiten im Projekt „Hüzün“ Menschen in alltäglichen Situationen. Auch das Ausstellungskonzept zum Projekt dockt am gleichen Gedanken an: Die Ausstellungen finden in Cafés, kleinen Stores und deutsch-türkischen Gemeinden statt.
Zu einigen der Bilder geben die beiden weitere spannende Informationen zum Alltag der Stadt, der sich natürlich teilweise ganz gravierend von unserem eigenen unterscheidet. Zum Beispiel gibt es dort die Papiersammler:
Sie nennen sie „kagit toplayici“, zu Deutsch „Papiersammler“. Sie sind jung und alt, Männer und Frauen, sie brauchen eine Menge Kraft und werden kaum von der Gesellschaft wahrgenommen. Wir sprechen hier von Menschen, die den Müll Istanbuls, der von anderen Menschen auf die Straße geworfen wird, durchsuchen, sammeln und sortieren.
Täglich schleppen sie sich mit großen Taschen aus stabilem Material die Straßen hoch und runter. Tag und Nacht sind sie damit beschäftigt, bergeweise Müll zu entwirren und nach brauchbarem Papier und Plastik zu suchen. Die Müllsammler werden von der Gesellschaft ausgeschlossen, aber trotzdem sind sie unersetzlich für die Stadt.
Valeska Hoischen und Miriam Schmalen, beide studierte Kommunikationsdesignerinnen, arbeiten seit Jahren als freiberufliche Fotografinnen an der Schnittstelle zur freien, künstlerischen Fotografie und dem Design. Valeska aktuell mit ihrem türkischen Partner in Istanbul, wo sie die Verbindung zu Land und Leuten schlägt, während Miriam zur Zeit wieder in Deutschland ist, wo sie sich um PR und die Ausstellungsgestaltung kümmert.
Zusammen haben beide in einer gemeinsamen Projektphase im Herbst 2013 bereits über 100 Bildeindrücke erarbeitet. Diese können nach und nach mit kleinen Anekdoten im Projektblog und bis Ende 2014 in den Ausstellungen gesehen werden. Im Jahr 2015 ist außerdem geplant, ein Kunstbuch mit einer Auswahl der gesammelten Fotografien in einer kleinen Auflage zu verlegen.
Fotographie und Echtheit sind zwei Begriffe die sich wohl nicht vertragen. Das Wahre darstellen, zeigt es doch schon: es wird immer eine Darstelung bleiben. Wahrheit als Konzept finde ich höchst problematisch. Aber sicher kann man sich auch an diesem Scheitern versuchen und wachsen. Man sollte es vielleicht sogar!
„Valeska und Miriam sind in Istanbul unterwegs, um ehrliche Bilder aufzunehmen, die die Stadt zeigen, wie sie ist.“
Was genau sollen „erhliche Bilder“ oder später die „Echtheit des Augenblicks“ sein?
Mal ein anderer Blick auf Istanbul. Mir gefällt das, und ich finde die Stadt gut getroffen.
Hallo, schön das Ihr euch mit unseren Bildern befasst. Nicht „Die Wahrheit/ Die Echtheit“ ist unser Konzept sondern „Der Versuch eine Stimmung authentisch zu ein zu fangen“ – Hüzün. Es sollen angenehm konsumierbare Bilder entstehen, frei von einer Bewertung oder einer anhaftenden, ins Bild diktierten Message.
Mein Kommentar kommt ein paar Jahre zu spät (bin über einen anderen Artikel hierhergelangt), aber es ist meines Erachtens trotzdem relevant. Ich denke nicht, dass es möglich ist, wertfreie Bilder zu produzieren. Sonst wäre die Fotografie schnell belanglos. Das ist auch nichts Verwerfliches, schließlich sind wir alle geprägt durch unsere Sozialisation und Umwelteinflüsse (insofern finde ich auch den oft benutzten Begriff „authentisch“ kritisch).
Das drücken ja auch die Bilder aus, die Eure Interpretation von hüzün zeigen mit euren fotografischen Mitteln und eurem fotografischen Blick als yabancılar (Fremde/Ausländerinnen). Schön finde ich vor allem die bewusste Wahl des Mediums.