Neun Quadratmeter
Der Gefängnisdirektor führte mich durch die morgendlich feuchte Amazonasluft zu meiner Gefängniszelle. Anders als die Wärter hatte er seine Pistole demonstrativ hinter sich zwischen Gürtel und T-Shirt geklemmt. Ich hatte erwartet, dass in brasilianischen Gefängnissen schlechte Verhältnisse herrschen müssten, dennoch übertraf dieses meine Vorstellung. Der Geruch des offenen Abwasserkanals, der sich durch den schlecht betonierten Innenhof schlängelte, passte zu den Gesichtern, die mich aus den Zellen heraus anstarrten.
Anfang 2016 war ich im Auftrag einer christlichen Hilfsorganisation in die kleine Stadt gelangt, die die Bevölkerung stolz das Einfallstor zum Amazons nannte. Meine Aufgabe war es, im einzigen Gefängnis der Stadt die Seelsorgearbeit einer Ordensschwester zu dokumentieren. Ich hatte darauf hingewirkt, ebenfalls die persönliche Geschichte eines der Insassen dokumentieren zu können, wohlwissend, dass dies nur schwer zu ermöglichen sein würde.
Nach einigem Hin und Her mit der Direktion gelang es schlussendlich mit dem Segen des Bischofs, eine Genehmigung dafür zu bekommen. Mit dem Gefängnisdirektor steuerte ich nun auf eine in der Mitte des Innenhofs gelegene Zelle zu. Da er wie die meisten Brasilianer*innen kein Englisch sprach, zeigte er bedeutsam vor sich und signalisierte, dass wir dort auf meinen Protagonisten treffen würden. Ein mulmiges Gefühl begleitet mich ohnehin, nun hoffte ich, dass hier nicht die besonders schweren Jungs einsaßen.
Einer der Wärter öffnete gekonnt die verrostete Zellentür. Als sich meine Augen an die Dunkelheit im Inneren gewöhnten, wartete dort entgegen meinen Erwartungen keine schweißgetränkte Luft mit grimmigen Männergesichtern auf mich, stattdessen jedoch eine süßliche Parfümwolke und sechs Frauengesichter, die mich aus der Zelle heraus kritisch musterten. Ich traute meinen Augen nicht!
Der Direktor verlor keine Zeit und zitierte mit scharfem Kommando gezielt eine der Frauen zur Tür, die sich umgehend auf Englisch bei mir vorstellte: „Hey Maurice, my name is Sofia, welcome to my home.“ Ich war erleichtert! Endlich jemand, mit dem ich mich in Brasilien auf Englisch unterhalten konnte.
Der Gefängnisdirektor warf mir einen Blick zu, den ich als „weißt schon, das ist sie – dann mal viel Spaß mit den Mädels“ interpretierte. Es dauert nur wenige Sekunden und er verschwand mit den Wärtern hinter den anderen Zellenblocks. Nun stand ich mit Sofia an der offenen Gittertür und wir schauten uns mit einem längeren Schweigen an.
„Komm rein, wir müssen das Tor schließen, sonst bekommen wir richtig Ärger!“, sagte sie schließlich mit einer einladenden Bewegung. Ich überlegte nicht lange und holte mein Stativ sowie meinen Kamerakoffer, den ich an die Mauer gelehnt hatte, mit hinein. Hinter mir ließ Sofia die Tür mit einem scharfen Knall ins Schloss fallen.
Das erste, was mir auffiel, war die Enge des dunkelrot gestrichenen Raumes. Nach meiner Schätzung waren es wohl nicht mehr als neun Quadratmeter. Auf Kopfhöhe schlängelten sich Hängematten kreuz und quer durch die Zelle und an den Wänden summten klapprige Ventilatoren. Ein alter Fernseher lieferte die Hintergrundmusik zu dieser bizarren Atmosphäre.
„Wir schlafen in den Matten, um nicht von den giftigen Insekten und Schlangen gebissen zu werden – und davon gibt es hier so einige“, sagte Sofia und fing wie die anderen an, ihre Hängematte von den Gitterstäben zu knoten. Langsam lichtete sich die Zelle und die Matten gaben die Malereien und Einkerbungen frei, die jeden erdenklichen Zentimeter der Wände bedeckten. Die Zeichen und Bilder wirkten auf mich wie ein Echo der Gedanken und Emotionen jener Frauen, die hier einen Teil ihrer Lebenszeit verloren hatten.
Gewissenhaft fing Sofia an, mir ihre Zellengenossinnen der Reihe nach vorzustellen: Aline, Jäty, Jhais, Han und Madya waren alle junge Frauen, keine älter als 30 Jahre. Sie waren leicht bekleidet und viele Tattoos blitzten mir von ihrer nackten Haut entgegen. Ihre Blicke wechselten zwischen Neugierde, Scham und Gleichgültigkeit, als sie mir ihre Hand der Reihe nach zur Begrüßungen gaben.
Im Gegensatz zu ihren Zellenkolleginnen hatte Jhais mit Abstand die meisten Tätowierungen. Sie schaute immer wieder mit kokettierendem Blick in meine Richtung. Obwohl ich kein Portugiesisch verstehe, war mir unmissverständlich klar, worüber sie mit den anderen wild lachend schnatterte. Sie streckte mir immer wieder kreisend ihren Hintern entgegen und hob mit lauter Stimme die Augenbrauen. Die Reaktionen der anderen beunruhigten mich jedoch nicht annähernd. Ihnen war das Verhalten ihrer Zellennachbarin eher peinlich.
Das einzige, was mir in dieser Situation vernünftig und logisch erschien, war, Jhais mit meiner Kamera festzuhalten. Nach einer Weile der fotografischen Arbeit hatte sich die anfänglich hitzige Stimmung gelegt, ich konnte mich mit Sofia austauschen und ihr Fragen stellen, die sie prompt mit hitziger Stimme beantwortete.
Du sitzt hier bei 40 °C in Deiner Zelle und der Ablauf eines Tages wiederholt sich unverändert Tag für Tag, bis es Dich in den Wahnsinn treibt. Wir sitzen hier alle wegen Gewaltdelikten oder Drogenhandel am Rande des Amazonas auf unbestimmte Zeit fest. Gegen die meisten von uns liegt kein direkter Haftbefehl, geschweige denn ein richterlicher Beschluss, vor.
Gespannt hörte ich Sofia weiter zu und mein Mitleid mit ihnen wuchs mit jedem weiteren Satz. Wie ich zuvor vom Bischof erfahren hatte, ist die Präventivhaft in Brasilien gängige Praxis und führt zu erheblichen Spannungen zwischen den Inhaftierten und dem Gefängnispersonal. Jedes Jahr sterben so Hunderte Inhaftierte bei gewalttätigen Auseinandersetzungen in brasilianischen Gefängnissen. Das konnte ich mir nun lebhaft vorstellen.
Nach anderthalb Stunden hatte ich für meinen Teil genug Informationen und Bildmaterial gesammelt. Die lähmende Hitze in der Zelle setzte mir erheblich zu und die Stimmung unter den Damen schien sich zu verschlechtern. Irgendetwas lag in der Luft. Ich packte meine Kamera, bedanke mich bei Sofia und den anderen für ihre Zeit und bat sie, mich nun wieder aus der Zelle frei zu lassen. „Du kommst hier nicht raus“, erwiderte Sofia. Nicht, bevor es Abendessen gibt.
„Wieso das denn?“, platzte es aus mir heraus. „Weil niemand vorher die Zellen öffnen wird. Der Direktor und seine Leute sind nicht mehr im Gefängnis. Sie werde erst heute Abend wiederkommen und die Zellen aufschließen. Bis dahin wirst Du wohl hier bei uns bleiben müssen“, teilten sie mir eindrücklich mit. Die Hitze in der Zelle stieg gefühlt schlagartig auf 80 °C an – das musste ich erst einmal verarbeiten.
In der Zwischenzeit kamen die Frauen auf die Idee, dass ich ein Zivilpolizist sein könnte. Außer Sofia saßen sie alle auf dem einzigen Klappbett an der Wand, das ihnen als Sofa diente. An der Wand lehnte Jhais mit einem Telefon in der Hand und redete druckvoll hinein. Auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es meins war. Sie hatten es mir aus der Tasche gezogen und telefonierten nun mit sonst wem! Ich konnte es nicht fassen. Das Schlimmste daran war die vollkommen fehlende Bereitschaft, es mir wiederzugeben. Ich musste mich sammeln.
Ab hier möchte ich den kleinen Erfahrungsbericht gern abkürzen, den Rest sollen die hier sichtbaren Fotos erzählen. Denn auch nach einem Jahr geben sie für mich die Stimmung wieder, die sich bei mir an jenem Tag darbot. Zehn Stunden in dieser Zelle haben ausgereicht, um eine Ahnung davon zu bekommen, was es bedeutet, eingesperrt zu sein. Es ist keine körperliche Gewalt, die diese Frauen erfahren, sondern eine psychische. Zwei von ihnen vermissten ihre Kinder so sehr, dass sie an den Gittern hinten und ihren Schmerz in den Innenhof des Gefängnisses weinten.
Mein Handy bekam ich wieder und ich konnte die Damen letztendlich doch davon überzeugen, kein Polizist zu sein. Die Stimmung verbesserte sich, sodass ich zum Schluss wehmütig Abschied von allen nahm. Sofia schenkte mir einen liebevoll bemalten Papierschnipsel, auf dem ich mit den Frauen zu sehen bin – dazu ein kleiner Text.
Das erste, an das ich dachte, als die Gefängnistore sich hinter mir schlossen, war, unbedingt zwei kühle Bier trinken zu müssen. Mir kreisten die außergewöhnlichen Erlebnisse der letzten Stunden durch den Kopf und ich beschloss, dass sie mit Abstand die kuriosesten meines Lebens waren.
Ich liebe diese Tage, an denen etwas völlig anderes geschieht als man erwartet. Es war einer dieser Tage, die man niemals in seinem Leben vergessen wird. Es waren wie so oft viele Zufälle, die zusammenkamen. Die Geschichten der Frauen und ihre unterschiedlichen Charaktere kommen mir immer wieder ins Gedächtnis. Wenn ich so etwas erlebe, bleibt immer ein Teil von mir dort.