On parades – Ein neuer Blick auf Nordirland
Nordirland gehörte in den 70er und 80er Jahren zu den meistfotografierten Regionen der Welt. Für Fotojournalist*innen aus Europa und den USA war die kleine Provinz Großbritanniens damals relativ leicht zu erreichen. Was sie vorfanden, waren jede Menge Konflikte und visuelles Drama. Als ich 2007 nach Belfast reiste, um dort zu studieren, befand sich das Land bereits mitten in einem bis dato erfolgreichen Friedensprozess und auf den ersten Blick deutlich im Aufschwung. Doch gänzlich verschwunden waren die Spuren des Konflikts nicht.
Bald begann ich, mich inhaltlich und – mit eher weniger fotografischen Vorerfahrungen – mit der aktuellen Politik und Geschichte Nordirlands auseinanderzusetzen. In den folgenden Jahren sollte ich immer wiederkehren, um die Entwicklungen zu verfolgen und fotografisch zu dokumentieren. Doch es dauerte eine ganze Weile, bis ich von den offensichtlichen Motiven abwich und einen Blick unter die Oberfläche wagte.
Brennende Barrikaden, bewaffnete Sicherheitskräfte, paramilitärische Murals an den Hauswänden – es gibt eine ganze Reihe von Motiven, die Erinnerungen an Nordirlands unruhige Vergangenheit hervorrufen. Ein Großteil dieser Motive ist längst nicht mehr Alltag in Belfast. Seit 1998 herrscht Frieden in Nordirland. In der Gesellschaft ist der Konflikt zwischen pro-britischen Protestant*innen und irisch-republikanischen Katholik*innen jedoch nach wie vor präsent.
Territorium und Identität sind nicht selten Hintergrund und Motivation für kleine und größere Auseinandersetzungen auf den Straßen und zwischen den Nachbarn. Zudem geht es um Themen wie soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Anerkennung. Die Konfession, katholisch oder protestantisch, ist lediglich ein Indikator für ethisch-politische Zugehörigkeit des Einzelnen.
Die Spaltung entlang dieser Unterschiede bleibt vielerorts bestehen – sei es manifestiert in Mauern und Zäunen zwischen den Wohnvierteln oder in den Köpfen der Menschen. Bis heute ist das Leben vieler Familien politisch und sozial durch den Konflikt geprägt.
Das wohl eindringlichste Bild aus den vergangenen Jahren ist das von provozierenden Paraden und den darauffolgenden Ausschreitungen zwischen protestantischen und katholischen Jugendlichen. Diese Paraden, veranstaltet von lokalen Blaskapellen, politischen Parteien oder konservativen Institutionen, werden nicht selten in Verbindung gebracht mit Paramilitarismus, Hass auf den Glauben anderer und Gewalt.
Dieser Schatten der Vergangenheit, ein Wochenendausflug in die schlimmsten Tage des Nordirlandkonfliktes, wird fleißig gepflegt durch die nicht selten übertreibende Berichterstattung der Medien. Tatsächlich finden auf beiden Seiten insgesamt jährlich mehr als 3.400 dieser Paraden statt. Allerdings wird nur ein Bruchteil hiervon wird als „strittig“ eingestuft und in noch weniger Fällen kommt es zu Ausschreitungen. Sie sind ein wichtiger Teil der Gesellschaft und ein immer wiederkehrender.
Zudem sind sie weit facettenreicher in ihrer sozialen und kulturellen Bedeutung als es scheint. Sie sind ein Ausdruck politischer und religiöser Radikalität, von Abgrenzung gegenüber den „Anderen“. Gleichzeitig teilen beide Seiten dieselben Sorgen um ihre Identität und Kultur, die es zu bewahren gilt. Dies macht die Bandkultur auf beiden Seiten zu einem hochinteressanten Aspekt des Diskurses der Konfliktlösung in Nordirland.
Kleinere Konflikte, wie die Diskussion um provokative Elemente der Paraden in Nordirland, können einen tiefen Eindruck in die verborgenen Dimensionen des größeren Konfliktes geben. Das Fotoprojekt „On parades“ versucht, einen Blick unter die Oberfläche des von Eskalation und Gewalt geprägten Bildes von Paraden und Bands in Nordirland zu geben.
Als Motivation stand für mich der Wunsch, die so leidenschaftlich vertretenen Positionen beider Seiten genauer nachvollziehen zu können und alternative Sichtweisen einzunehmen. Ein Versuch, zu lernen und zu verstehen statt zu widersprechen und zu kritisieren.
Hierfür konnte ich zwei Bands, aus je einer der beiden ethisch-politischen Gruppen, über einen Zeitraum von drei Jahren begleiten. Die Aufnahmen entstanden im Rahmen einer Vielzahl von Paraden: Im Bus auf dem Weg quer durch die Provinz, auf Friedhöfen und vor Denkmälern in Gedenken an verstorbene Märtyrer*innen und in privaten Räumen einzelner Bandmitglieder.
Die Hintergründe beider Bands und ihrer Mitglieder könnten unterschiedlicher kaum sein: Die einen spielen und marschieren auf Veranstaltungen von irisch-republikanischen Dissident*innen, oftmals ehemalige Aktivist*innen, von denen sich viele heute politisch marginalisiert fühlen und die Politik ihrer ehemaligen Partei Sinn Fein sowie ihre Rolle im Friedensprozess ablehnen.
Die anderen aus dem Umfeld einer kleinen, wohlhabenden protestantischen Gemeinde, wo man, wie der lokale Oranier-Orden, politisch- und religiös-konservative Werte vertritt und sich der britischen Krone eng verbunden fühlt.
Für die Mitglieder beiden Bands haben die regelmäßigen Paraden einen immensen Stellenwert: Sie bieten Raum und Öffentlichkeit für das Zelebrieren der eigenen Identität und ihrer Geschichte. Die Bands spielen zudem eine wichtige Rolle in puncto Zusammenhalt – ob in den engen Gassen von Nord-Belfast oder in den ländlichen Gemeinden.
Hier treffen sich Menschen unterschiedlichen Alters, teilen Erfahrungen und schließen Freundschaften. Die Bands sorgen für Unterhaltung, soziale Begegnung und vor allem: Sie bieten etwas, auf das man gemeinsam stolz sein kann. Gleichzeitig formen sie jedoch massiv die kulturelle und politische Identität der nachwachsenden Generationen und bremsen die Bereitschaft, auf die „Anderen“ zuzugehen.
„On parades“ soll den Betrachter*innen keine alternativen Narrative der Diskussion und Kontroversen um Paraden in Nordirland liefern oder politische Radikalität und Provokation rechtfertigen. Viel mehr hat das Projekt zum Ziel, eine zusätzliche Perspektive zu bieten: Im Fokus stehen die Gemeinsamkeiten, die Bands auf beiden Seiten der ethnischen Grenzen teilen: Musik, Kameradschaft und ein Gefühl von Zugehörigkeit.