S-W-Portrait eines alten Mannes mit Hut, Bart und Schläfenlocken
20. Juli 2016 Lesezeit: ~3 Minuten

Eindrücke aus Mea Schearim

Seit drei Tagen fotografiere ich bereits die Altstadt von Jerusalem; überall spürt man die Stimmung dieses legendären Ortes. Niemals zuvor bin ich einer so großen religiösen und kulturellen Vielfalt begegnet. Dennoch zieht es mich jenseits der Gemäuer der Altstadt, dorthin, wo sich das „echte Jerusalem“ verbirgt: ohne die Touristen und die unzähligen typischen Verkaufsstände.

Wenn ich vom „echten Jerusalem“ spreche, dann meine ich damit vor allem die Tradition, die so groß ist, dass sie die Zeit überdauert, der Moderne die Stirn bietet und der zeitgenössischen Wahrnehmung trotzt, denn nur die nötigsten Anpassungen an die breite Gesellschaft werden überhaupt vorgenommen. Ich tauche in diese Gegend ein, wo ein herzliches Willkommen und ein Lächeln auf den Lippen nicht fern ist, man sich an meiner Anwesenheit erfreut und dennoch sehr reserviert ist – willkommen im ultraorthodoxen jüdischen Viertel Mea Schearim.

Drei schwarz gekleidete Männer mit Schläfenlocken

Mea Schearim ist ein chassidisch geprägtes Viertel Jerusalems, das in der Nähe der Altstadt liegt. Dort leben die Charedim, die konservativsten Anhänger*innen des orthodoxen Judentums. Der Begriff „Charedim“, auch als „Haredim“ bekannt, geht auf das hebräische Wort „charada“ zurück und bedeutet Furcht oder Ehrfurcht vor Gott.

Selbst diese sehr grundlegenden Informationen lassen erahnen, dass das Fotografieren vor Ort kein Kinderspiel ist. Überall an den Häusern hängen die so allgegenwärtigen Plakate, die wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens sind. Es hat definitiv seinen Reiz, wenn man die Bewohner*innen bei der Lektüre dieser Aushänge beobachtet oder sie einfach nur an diesen schwarz auf weiß festgehaltenen Informationen vorbeischlendert sieht.

Gemeinsam mit der dunklen Kleidung der Menschen, die dort leben, erzeugt das einen wunderbaren Kontrast. Was ebenfalls sofort ins Auge fällt, ist der Zustand der Straßen und Gebäude. Die staubigen Wege, die Geschäfte, die zerfallenden Häuser – all das erschafft ein Szenario, das an eine Welt vor einhundert Jahren erinnert.

Ein in dunkle Kleidung gehüllter Mensch vor einer Mauer voller weißer Plakate in hebräischer Schrift

Aus europäischer Sicht ist die hygienische Versorgung nicht besonders gut; empfindliche Menschen würden sie wohl als „unzureichend“ bezeichnen. Die niedrigen Gesundheitsstandards vor Ort zusammen mit dem enormen Bevölkerungswachstum verschlechtern die Bedingungen zusätzlich, in denen die stolzen Charedim leben.

Die Familien der Charedim haben durchschnittlich sechs oder mehr Kinder und wie sich zeigt, sind Kinder im Viertel einfach überall. Der gesamte Bezirk ist von einer Mauer umgeben und die Häuser und Gebäude sind in Rechtecken oder Quadraten angeordnet, um sie vor der Außenwelt zu „schützen“.

Dass das Viertel einst vom Rest der Stadt isoliert war, wird immer noch deutlich. Die ursprünglichen Pläne wurden von einem deutschen Architekten namens Conrad Schick entworfen. Obwohl sie nicht endgültig waren und die ursprüngliche Anordnung des Viertels heute größtenteils nicht mehr sichtbar ist, bleibt das alte Konzept dennoch erkenntlich.

Ein Junge läuft eine Gasse entlangEin Mann geht eine Gasse entlang

Wenn man die Charedim das erste Mal sieht, dann ist ihre ganz eigene Aufmachung und ihre allgemeine Haltung besonders beeindruckend. Die Männer tragen größtenteils schwarz und hüllen sich in einen dunklen Anzug. Dazu tragen sie meist ein weißes Hemd und keine Krawatte.

Ebenfalls weit verbreitet sind schwarze Gehröcke. Am Sabbat, der eigentlich auf den Samstag fällt, aber bereits am Freitagnachmittag beginnt, wählen die Männer auch andere Farben, vor allem weiß und gold. Nicht zu vergessen sind natürlich die Kopfbedeckungen, die so untrennbar zu den ultraorthodoxen Juden gehören.

Obwohl die Charedim von außen gleich erscheinen, ist das Gegenteil tatsächlich der Fall. Sie gehören verschiedenen Strömungen und Sekten an, die sich unterschiedlich kleiden und daran erkennbar sind. Es sind jedoch der Kopfschmuck, die Knöpfe, die Hosen und die unzähligen anderen Kleinigkeiten, die Laien zunächst ins Auge fallen, wenn sie den Bewohner*innen des Viertels das erste Mal begegnen. Doch selbst die legendären Schläfenlocken sind nicht nur den Charedim zu eigen.

Portrait eines alten MannesPortrait eines jungen Mannes mit Schläfenlocken, Hut und Zigarette

Für Frauen gelten nicht ganz so strenge Bekleidungsregeln; dennoch können sie auf Europäer*innen veraltet wirken, weil die Kleidung der Frauen mindestens knielang sein muss. Wenn der Rock nur bis zu den Knien reicht, müssen die Beine zudem in Strumpfhosen stecken. Auch die Ärmel der Oberteile dürfen die Ellbogen nicht entblößen. Erwartet jedoch keine Abwechslung, keine lebhaften Kombinationen oder extravagante Farben auf den Wangen der Frauen, denn die meisten ziehen zurückhaltende Kleidung vor, die keinerlei Aufmerksamkeit erregt.

Verheiratete Frauen bedecken ihr Haar ganz oder teilweise mit einem Kopftuch. In manchen Gruppen schneiden sich die Frauen nach der Hochzeit auch die Haare, rasieren sie vollständig ab oder tragen auf der Straße eine Perücke. Es ist nicht ungewöhnlich, gänzlich verhüllten Mädchen und Frauen zu begegnen. Das lange schwarze Gewand und der Kopfschmuck unterstreichen die orthodoxe Einstellung.

Eine Frau in einem dunklen schwarzen Kleid steht an einem Fenster

An diesem Punkt bedarf es einiger Überwindung, dennoch die Kamera zu zücken. Sollte man einfach draufhalten? Das täten wohl nur Unerschrockene. Denn in Mea Schearim gibt es Regeln, die man nicht brechen sollte, wenn man es nicht auf eine Konfrontation mit den Anwohner*innen anlegt. Zu den wichtigsten dieser Regeln zählt die Tatsache, dass Fotografieren ohne Einverständnis nicht erlaubt ist. Leider geben 95 Prozent der Bewohner*innen aber kein Einverständnis ab, weshalb Fotograf*innen, die nur eine kurze Brennweite verwenden, unschöne Ergebnisse erzielen.

„Wie kann das nur sein?“, frage ich mich, nachdem ich bereits mehrere Stunden völlig ergebnislos das Viertel und die naheliegenden ultraorthodoxen Wohngebiete durchstreift habe. Ein paar Mal lichte ich Straßenzüge ab, weiterhin ohne jede direkte Kontaktaufnahme. Die Menschen gehen mir aus dem Weg, die Kamera wirkt abschreckend auf sie. Ich wähle ein paar Orte aus, an denen ich die lebhafte Stimmung, die dort herrscht, einzufangen gedenke. Doch wo eben noch die Menschen entlangströmten, macht sich bald gähnende Leere breit, weil die Leute lieber einen anderen Weg wählen, als mir zu begegnen, sobald klar wird, dass ich fotografiere.

Straßenszene mit drei Männern

Selbst wenn ich jeden direkten Kontakt vermeide, weigern sich die Leute einfach, fotografiert zu werden und stapfen aus dem Bild heraus. Auch natürliche Freundlichkeit, höfliches Grüßen oder Lächeln helfen nicht, denn solche Gesten finden keine Erwiderung. Man merkt sehr schnell, dass man als Eindringling gilt. Einfach in der Menge unterzugehen, ist nicht möglich, denn die eigene Kleidung sticht so deutlich hervor, dass man als Außenstehender bereits aus weiter Ferne erkannt wird. Deshalb stehen die Chancen denkbar schlecht – als hätten sich jeder und alles gegen einen verschworen.

Als ich mich anderntags in der Gegend aufhalte, werde ich dort von Kindern begrüßt, die ausspucken, sobald sie merken, dass ich fotografiere. Aufregung macht sich in mir breit. „Endlich Emotionen, endlich etwas Schönes!“, denke ich. Denn obwohl die Kinder obszöne Gesten in meine Richtung machen und laut grölen, haben sie ganz offenbar ihren Spaß. Und so komme ich zu dem Schluss, dass die Fotografie wohl doch nicht so schlimm sein kann. Mein Überlebensinstinkt versagt und ich entschließe mich, trotz des damit verbundenen Ärgers meine Bilder nach Gutdünken aufzunehmen.

Straßenszene mit vier Männern in dunklen GewändernZwei Kinder in einer Gasse

Ich lächle und möchte lieber nicht wissen, weshalb mich die Bewohner*innen auspfeifen. Doch langsam scheint ihnen meine Anwesenheit zu gefallen. Die Angst fällt von mir ab und ich versuche, ein paar Kinder zu fotografieren. Leider sind sie weit weg, weshalb ich mein leidiges Zoomobjektiv verwende. Aber wozu? Die Ergebnisse gefallen mir nicht, denn sie bestätigen mir, dass ich lieber bei einer kurzen Brennweite bleiben sollte. „Hoffentlich hilft mir das dabei, den Leuten meine Gründe für die Bilder zu erklären.“

Die Kinder sind dennoch skeptisch und möchten nicht fotografieren werden. Gegenüber Ausländer*innen sind sie argwöhnisch, das zeigt sich in ihrem ganzen Verhalten. Fröhliche Gesichter und neckische Posen, wie sie uns beispielsweise aus Asien bekannt sind, sucht man an diesem Ort vergebens. Wer eine Kamera in der Hand hält, hat keine Chance. Frauen sind ebenfalls schwierig. Wer aus dem Ausland kommt, hat von vornherein schlechte Karten. In all der Zeit, die ich inmitten der ultraorthodoxen Juden verbrachte, reagierte nicht eine Frau freundlich auf mich. Aus europäischer Sicht teilen ultraorthodoxe Jüdinnen ein hartes Los, denn sie sind nicht gleichberechtigt und müssen viele Regeln beachten, die eigens für sie erdacht wurden.

Zwei Männer in einer Gasse

Nach einigen Besuchen im Viertel bin ich alles andere zufrieden, tatsächlich sogar ziemlich frustriert. Nach ein paar Tagen ändert sich die Lage jedoch und ich darf problemlos Orte und Menschen ablichten. Mein unbedingter Wille, selbst dann durchzuhalten, wenn es zu einem Konflikt kommt, zahlt sich offenbar langsam aus. Ich gehe meiner Arbeit nicht ohne skeptische Blicke nach; weil ich jedoch schon ein paar Tage durch den Bezirk streife, bin ich offenbar mittlerweile „bekannt“.

Langsam gehen die Anwohner*innen auch auf meine Fragen ein, weil sie wie ich neugierig sind – allerdings stellen mir nur die Männer Fragen. Und jedes Mal macht jemand folgende Bemerkung: „Ziemlich schwer, hier Bilder zu machen, nicht wahr?“ Zum ersten Mal spüre ich keine Abweisung. Endlich zeigt mir das Viertel sein freundliches Gesicht. Ich erinnere mich an den Schutzschild, den die Juden um sich herum errichtet haben. Sie sind wie ein Kaktus: außen hart und stachelig, innen weich.

Portrait eines kleinen Kindes, aufgenommen durch ein Fenster

Während meiner Tätigkeit bei den Ultraorthodoxen treffe ich viele Menschen aus der ganzen Welt und alle sagen sie: „Israel ist die Heimat der Juden, deshalb bin ich hier zuhause.“ Je mehr Zeit ich in Mea Schearim verbringe, desto besser gefällt es mir dort. Aus Abneigung wird Zuneigung. Der erste Eindruck mag eben trügen. Von anfänglichen Rückschlägen sollte man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen.

An meinem letzten Abend begegne ich einer Gruppe Studenten. Ich stehe am Eingang ihres Wohnheims, sie bitten mich herein, bieten mir Snacks und Zigaretten an und wir unterhalten uns. Sie zeigen mir ihren Zufluchtsort; die natürliche Neugier auf beiden Seiten führt ganz wie von selbst dazu, dass wir uns gegenseitig mit Fragen durchlöchern. Es ist eine sehr angenehme Erfahrung, die mir zeigt, dass mein Vergleich mit dem Kaktus zutrifft. Nun, da ich Zugang zu dieser Welt erhalten habe, ist mein Wunsch, diesen außergewöhnlichen Ort in Bildern festzuhalten, sogar noch größer geworden.

Dieser Artikel wurde für Euch von Laura Su Bischoff aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

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