Blick auf Wasser.
09. September 2015 Lesezeit: ~6 Minuten

Brauchen wir den Schock?

Ein kleiner Junge liegt am Strand und er ist tot. Sein Gesicht ist in den Sand eingesunken und Wellen berühren den kleinen Kopf nur sanft. Er trägt ein rotes T-Shirt, blaue Hosen und Turnschuhe, fast friedlich liegt er da. Die meistens von uns haben das Bild gesehen.

Als ich dieses Foto am Tag der Veröffentlichung sah, stach es mir tief ins Herz. Mein erster Impuls waren Gefühle von Erschütterung, Trauer und der Gedanke: „Oh nein, das darf nicht wahr sein.“

Dieses Bild lässt mich nicht los – oder besser gesagt: Der Tod des kleinen Alan Kurdi, der mit seiner Familie von Syrien bis nach Kanada fliehen wollte, lässt mich nicht mehr los. Und ich nehme an, dass dies vielen Lesern so geht.

Anschließend wurde in diversen Medien darüber diskutiert, ob es sinnvoll ist, Fotos wie dieses zu publizieren oder nicht. Stefan Plöchtinger, Chefredakteur von süddeutsche.de, schrieb, man müsse dieses Foto nicht sehen, um zu verstehen, was sich ändern muss. Die Süddeutsche verzichtete auf eine Publikation des Fotos.

In der NZZ ging Rainer Stadler sogar soweit, von einem Betroffenheitskult zu sprechen, der den Voyeurismus der Massenmedien kaschiere – die NZZ zeigte den toten Jungen und wie er fortgetragen wird, trotzdem. (Doppelmoral?)

Hendrik Zörner vom Deutschen Journalisten-Verband hingegen ordnete das Foto ein in „die Bilder, die ein Ereignis von historischer Tragweite zeigen, die es emotional begreiflich machen, die mehr als tausend Worte sagen.“

Auch ich habe mich im Gespräch mit detektor.fm dazu geäußert, möchte mich an dieser Stelle jedoch erneut damit beschäftigen.

Ich glaube, es hackt.

Wenn Zeitungen und Medienvertreter die Frage stellen, ob solch ein Foto gezeigt werden muss oder nicht, dann denke ich, dass an der Problematik vorbeidiskutiert wird, statt über die Konsquenzen der grausamen euopäischen Flüchtlingspolitik zu berichten.

Dies ist meiner Meinungn nach ein Phänomen westlicher Berichterstattung, die sich selten mit konkreten Fällen der Flüchtlingskrise beschäftigt, sondern meist abstrakt und auf Metaebenee „über“ die Flüchtlinge schreibt.

Wenn dann plötzlich ein Foto auftaucht, das die harte Realität von Flüchtlingen zeigt, wollen viele „diese Bilder nicht sehen“, halten es nicht aus oder weigern sich, dieses Foto zu drucken.

Entschuldigung, aber: Ich glaube, es hackt. Und zwar gewaltig.

Die Frage ist doch gar nicht, ob wir ein solches Foto sehen oder zeigen sollten, sondern, wie verhindert werden kann, dass Menschen und Kinder wie der kleine Alan nicht mehr vom Mittelmeer verschluckt werden.

Wenn Deutsche sich zu fein, zart besaitet, voyeristisch (sucht Euch was aus) sind, den toten Alan auf einem Foto anzusehen, dann haben sie meiner Meinung nach ein Problem: Verdrängung. Denn ertrunkende Flüchtlinge werden nicht erst seit ein paar Tagen an die Strände gespült.

Es gibt keinen schönen Tod auf dem Mittelmehr. Das ist kein Spielfilm. Nicht mal ein Horrorfilm. Dieser Junge ist echt. Er ist wirklich gestorben.

Pietätlosigkeit auf hohem Niveau

Hier stimme ich mit Dave Pell überein, der schrieb:

…if your kid has to take a flimsy boat across dangerous seas to escape a war zone, then my kid can definitely handle looking at the photos.

Pietätlos ist meiner Meinung nach nicht das Publizieren von Fotos. Pietätlos ist die europäische Flüchtlingspolitik, die verzweifelte Menschen und Familien dazu zwingt, sich auf überfüllte Boote zu zwängen – ohne Garantie auf eine Ankunft. 1.500 $ ist ein Preis, den viele zahlen und einige bezahlen mit ihrem Leben.

Da irritiert es mich, wenn an den Stränden Europas Kinderleichen liegen und die westliche Medienlandschaft darüber streitet, ob so ein Bild gezeigt werden soll oder nicht. Mich persönlich macht das wütend, denn an dieser Stelle ersetzen wir (in unseren Köpfen) ein third world problem mit einem first world problem.

Außerdem möchte ich hinzufügen: Fotos können uns etwas zeigen, das Texte nicht können, sonst wäre die Fotografie als Informationsmedium überhaupt nicht notwendig. Klar kann ein guter Texter beschreiben, dass da ein toter Junge liegt.

Doch ich glaube: Erst, wenn wir den kleinen Alan gesehen haben, begreifen wir, auch emotional. Fragt Euch doch einemal selbst: Von wie vielen toten Flüchtlingen im Mittelmeer habt Ihr schon gelesen? Hat Euch das annähernd so berührt wie das Bild des kleinen Jungen?

Fotos haben eine Kraft, die Texte nicht haben. Sie erreichen uns auf einer Ebene des Menschseins, an die Texte nicht herankommen. Wie das funktioniert, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass es funktioniert.

Außerdem weiß ich, dass Fotos auch politische Veränderungen herbeiführen können und in diesem Falle wäre es nicht das erste Mal. Wenn nur ein*e Poltitiker*in sich nach diesem Foto entschlossener für die Öffnung der Grenzen Europas ausspricht und sich weitere anschließen, dann kann das unter Umständen bedeuten, dass andere Flüchtlingskinder nicht mehr sterben müssen.

Brauchen wir den Schock?

Davon bin ich überzeugt. Denn während viele Deutsche gelangweilt überlegen, wo sie nächstes Jahr den Urlaub (Malle oder Dubai?) verbringen sollen, werden nur ein paar Kilometer weiter südlich tote Kinder an die Strände gespült.

Außerdem gibt immer noch Menschen, die ernsthaft davon überzeugt sind, dass Flüchtlinge nur nach Deutschland kommen, um dem „Staat auf der Tasche“ zu liegen und sich an „unserem Land“ zu bereichern. Nazis zünden beinahe täglich Flüchtlingsheime an und nehmen in Kauf, dass dabei Menschen, die sie nicht einmal kennen, sterben.

Das muss sich ändern und zwar ganz dringend. Und zwar ganz schnell, denn auch, wenn wir es nicht ständig vor Augen haben, sterben Flüchtlinge jeden Tag einen Tod, vor dem wir nicht die Augen verschließen dürfen.

Ruhe in Frieden, kleiner Alan.

Update: Der kanadische Premierminister von Québec, Philippe Couillard, erklärte am 4. September: „Es ist tragisch, dass wir das Foto eines toten Kindes brauchen, um unser Gewissen wachzurütteln.“ Nun sollen in Québec Hunderte, wenn nicht Tausende Flüchtlinge aufgenommen werden.

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