Ein Kind, das einen Arm verloren hat, liegt auf einem Bett,
07. September 2015 Lesezeit: ~6 Minuten

Haitis Generation der Amputierten

Im Jahr vor dem großen Erdbeben ging ich zum ersten Mal im Auftrag der NPH (Hilfe für Waisenkinder) nach Haiti. Die NPH hat dort eine Kinderklinik, ein Rehabilitations-Zentrum für Kinder mit Behinderung, ein Waisenhaus und 18 Straßenschulen, um Kindern in akuter Not zu helfen.

Es gibt wenige Orte auf der Welt, die für Kinder so herausfordernd sind wie Haiti; die Todesrate der Kinder ist faktisch die höchste in der westlichen Hemisphäre. Unterernährung, HIV, Infektionen der Atemwege, TBC, Magen-Darm-Entzündungen, Diarrhö und Malaria sind die führenden Todesursachen.

Ein Mädchen mit amputiertem Bein schaut zur Seite.

Angeline (4) verlor während des Erdbebens ein Bein. Krankenhaus San Damien, Tabarre.

Zusätzlich erleben Haitis Kinder einen täglichen Kampf, weil viele durch den Tod ihrer Mütter zu Waisen wurden und nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung, Nahrung, Sozialfürsorge und Bildung haben. Sie sind Opfer von Gewalt und Missbrauch und werden gezwungen, als unbezahlte Bedienstete zu arbeiten.

Mein Projekt brachte ein Buch und eine Ausstellung hervor, die einen Monat vor dem massiven Erdbeben der Stärke 7 eröffnet wurde. Das Beben traf die gesamte karibische Nation. Hunderttausende starben, wurden verletzt oder verloren ihr Zuhause. Die Hauptstadt Port-au-Prince und umliegende Gebiete wurden zerstört.

Als ich von den Nachrichten hörte und die Bilder im Fernsehen sah, war ich schockiert, denn ich fühlte mich sehr mit der Insel und den Menschen verbunden. Ich wusste, dass die Situation ohnehin schon schwierig war und konnte mir vorstellen, dass die politische Instabilität und zusammenbrechende Infrastrukturen jeden Hilfeversuch ausbremsen würden.

Ein Mädchen mit Beinprothese steht auf der Straße.

Michelle (8), die gerade eine Beinprothese bekommen hat, versucht, ohne Krücken zu laufen. Gegend von La Saline.

Nun ging ich wieder zurück nach Haiti. Glücklicherweise überstand das Krankenhaus Saint Damien von NPH das Beben. Dort blieb ich während meines Aufenthaltes. Es schien, als ob es das einzige Krankenhaus war, das gegen das Erdbeben standgehalten hatte. Alle Räume, Gärten und Höfe waren voll mit Patienten. Zusammen mit den Ärzten und Helfern schlief ich auf dem Dach.

NPH kümmerte sich um Kinder mit grausamsten Verletzungen und Amputationen und rief kurz danach ein Kinder-Prothetik-Programm ins Leben.

Zwei Kinder auf einer Laufbahn, im Fokus eine zweijährige mit Beinprothese.

Veronica und Odeline (beide 2) lernen, mit ihren Prothesen zu gehen. Saint Germain, Tabarre.

Das Leben nach einer Amputation ist wesentlich schwieriger in Haiti als in einem weiterentwickelten Land: Es gibt keine öffentlichen Toiletten für Menschen mit Behinderung, die Straßen sind matschig und voller Trümmerteile. Mindestens 80 % der Haitianer*innen sind auf körperliche Gesundheit angewiesen, um zu überleben und arbeiten zu können. Meist müssen sie einige Kilometer laufen, um an Nahrung, Wasser oder Medikamente zu kommen. Oder zur Schule zu gehen.

Die Kinder selbst sprachen auf das Programm sehr gut an, jedoch benötigten sie intensivste Rehabilitations-Maßnahmen, um ihre künstlichen Körperglieder einzusetzen.

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wurde es sehr schwer für sie, zur Therapie zurückzukommen, weil Saint Damien in der Gegend von Tabarre liegt. Mit all dem Geröll und Schutt auf den zerstörten Straßen dauerte es bis zu drei Stunden, um in der Klinik anzukommen.

Eine Mutter mit ihren Kindern, von denen das jüngere kein Bein mehr hat.

Viele Kinder kamen von den ärmsten Teilen der Hauptstadt, aus Citè Soleil, Martissant oder aus den Zeltstädten im Zentrum. Genau an diesen Orten fotografierte ich jeden Tag. Fortillien, der mir beim Projekt half, besaß einen sehr alten Minivan und so kam es dazu, dass wir den Bus als Kinder-Taxi nutzten.

Das Krankenhaus verließ ich meist vor dem Sonnenaufgang, um das gute Licht zu nutzen und den Verkehr zu vermeiden. Nach 8 Uhr morgens war es sonnig und heiß. Ich holte die Kinder aus der Nachbarschaft ab und fuhr sie zum Krankenhaus. Als die Kinder versorgt waren, ging ich wieder raus, um zu fotografieren.

Ein Mädchen ohne Arm und ohne Bein liegt auf einer Matte und lacht in die Kamera.

Keshna (5), die sowohl einen Arm als auch ein Bein durch das Erdbeben verlor, macht Rehabilitationsübungen, um für den Einsatz einer Prothese fit zu werden. Saint Germain, Tabarre.

Die Kids wurden sehr schnell zum zentralen Thema meiner Reportage. Sie und ihre Eltern gewöhnten sich schnell an mich, denn sie sahen mich vom ersten Moment im Krankenhaus – ich fotografierte sie dort und auch zuhause. Das ist auch der Grund, warum die Kinder auf den Fotos nicht auf die Kamera reagieren.

Ich habe viel von diesen Familien gelernt. Denn sie zeigten mir, wie man mit wenig oder gar nichts überlebt und auf diese Tragödie komplett ohne „Drama“ reagiert. Und sich dafür einzusetzen, das Leben so normal wie möglich zu führen.

Die schwierigsten Momente erlebte ich stattdessen, wenn ich die Kinder abholte und ihre älteren Geschwister mit Amputationen traf. Einmal bettelte mich ein Vater an, dass ich doch auch seine 21-jährige Tochter mitnehmen solle. Jedoch waren im Krankenhaus schon zu viele Patienten und es konnten keine weiteren Erwachsenen ins Prothetik-Programm aufgenommen werden. Später, als die Situation sich entspannte, nahmen sie die Tochter auf.

Leogane: Michenly (2) verlor während dem Erdbeben beide Arme.

Leogane: Michenly (2) verlor während des Erdbebens beide Arme.

Zum Jahrestag des Erdbebens kam ich wieder zurück nach Haiti. Ich war von einem Magazin beauftragt worden und mein Fokus richtete sich auf die Wahlen, den Ausbruch der Cholera und den Wiederaufbau. Doch ich versuchte, die Kleinen wieder zu finden.

Während die Kinder älter wurden, mussten sie die künstlichen Körperteile immer wieder austauschen und zur Therapie kommen, bis sie 18 waren. Erst dann bekamen sie ihre richtigen Prothesen. Alles hing von der Geduld ihrer Familien ab. Manche Eltern wurden dem Programm überdrüssig und brachten die Kinder nicht mehr zur Klinik. Andere schafften es nicht, die Kinder zu behalten und überließen sie einem Waisenhaus.

Zwei Mädchen liegen auf einem Tuch, von denen das ältere Mädchen kein rechtes Bein mehr hat.

Marie Martha (11), verlor während des Erdbebens ein Bein. Ihre Stiefmutter ist nicht bereit, sich um sie zu kümmern, deshalb lebt sie bei ihren Onkeln in Archaie.

Jedoch gab es auch Familien, die das Programm weiter verfolgten und deren Kinder es irgendwann schafften, mit den künstlichen Körperteilen zu laufen, Rad zu fahren und zu spielen. Fünf von 15 Familien schafften es. Ein gutes Resultat für ein Land wie Haiti.

Dieser Artikel wurde für Euch von Martin Gommel aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

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