Wir fahren zu einer Frau, Elmase, die zwischen Klina und Prishtina wohnt und sechs Kinder hat. Wir (Sara, die Aktivistin und Violetta, Caritas-Mitarbeiterin) parken den Jeep vor dem Haus und klopfen am Tor. Es öffnet uns eine dünne Frau, die nicht wusste, dass wir kommen würden. Sie freut sich sehr über unseren Besuch und bittet uns herein. Sofort setzen sich ihre beiden Söhne (8 und 6 Jahre alt) zu uns auf die Couch und hören zu.
Heute werden wir Elmase (ich bin nicht sicher, ob ich ihren Namen richtig aufgeschrieben habe) ins Krankenhaus zur Untersuchung bringen. Sie könnte sich eine Fahrt dorthin nicht leisten und so bezahlt die Caritas. Elmase macht sich schick und auf der Fahrt erzählt sie uns, wie es um sie und ihre Familie steht.
Gemeinsam mit ihrem Mann und ihreren Kindern lebt Elmase von 100 € Sozialhilfe. Früher schlug ihr Mann sie, wenn er betrunken war, doch weil seine Frau nun krank ist, hat er damit aufgehört. Ihre Krankheit wurde nie definiert, was auch der Grund für den Krankenhausbesuch ist.
„Es gibt keinen besseren Platz zum Leben, als dort, wo man geboren wurde“, sagt sie. Ich bin erstaunt über eine solche Aussage von ihr. Dieser Satz wirkt wie ein Lichtstrahl im Dunkeln.
„Aber es ist auch wahr, dass man besser leben will. Alle haben das Recht auf ein besseres Leben.“
Wie recht sie doch hat. Elmases Stimme ist dünn und gebrochen, aber bestimmt. Ich vergesse, was um uns herum ist und höre nur noch, was sie sagt. Stelle Fragen, die von Sara auf Italienisch und von Violetta auf Albanisch übersetzt werden, und denke über Elmases Antworten nach.
„Wir sind eine Familie mit sechs Kindern. Mein Mann ist immer zuhause, weil er keine Arbeit hat. Und wenn es draußen regnet, dann regnet es auch drinnen. Unsere Heizung ist kaputt. Es ist schwer, so zu leben.“
Ja, das muss schwer sein. Ich nicke, schaue sie an. Denke nach.
„Wenn Du Deinen Kindern nichts zu essen geben kannst, dann ist es normal, dass sie ständig draußen sind und und etwas suchen. Ich kann nicht kontrollieren, was sie machen. Und es ist auch normal, dass mein Mann dann trinkt.“
Alkohol ist in Kosovo spottbillig, das weiß ich. Und weil es so billig ist, greifen viele Menschen, inbesondere die, die unter Arbeitslosigkeit leiden, dazu.
Ich frage an dieser Stelle nicht weiter nach, denn es ist nicht meine Aufgabe hier zu urteilen. Elmase erzählt auch, dass es schon besser geworden ist und ihr Mann sich Mühe gibt.
Einer ihrer Söhne, so erzählt sie, möchte nicht mehr zur Schule. Er ist 13, doch weil seine Familie arm ist, wird er ständig ausgelacht.
„Wenn ich meine Kinder sehe, die so traurig sind, bin ich mehr als traurig. Wir haben oft nichts zu essen. Das ist so traurig.“
Ich kann sie verstehen. Ihre Worte gehen in diesen Momenten an mir vorrüber, doch im Nachhinein wirken sie umso stärker.
Im nächsten Moment meint sie: „Ich bin sehr stark. Ich habe so viel Schlechtes erlebt. So viel Blut verloren. Es ist, als ob ich 100 Seelen hätte.“
Am Krankenhaus angekommen, parken wir ein. Violetta, die selbst Kosovarin ist, hakt sich bei Elmase unter den Arm und spaziert mit ihr voran.
Nach kurzer Wartezeit vor einem Zimmer stellt sich schon das erste Problem ein. Nachdem wir für die Allgemeinuntersuchung schon bezahlt haben, treffen wir Elmases Mann, der einen Zettel dabei hat, der bescheinigt, dass Elmase Sozialhilfeempfängerin ist und deshalb nicht bezahlen muss.
Doch die Dame an der Krankenhausinformation lässt nicht mit sich reden. Geld gibt es keines zurück, sowas könne man nicht so einfach machen. Violetta ärgert sich und wir schütteln alle mit dem Kopf.
Und mir wird klar: Elmase hätte hier keine Chance, wenn sie nicht jemanden dabei hätte, die für sie streitet und für sie argumentiert. Sie steht völlig überfordert neben uns.
Das ganze Krankenhaus ist ein einziges Chaos. Wir treffen zufällig Elmases Mann mit ihrem Sohn, der seit drei Tagen auf einen Gips wartet, aber keinen bekommt – seine Hand ist dick und wir bekommen die Röntgenbilder zu sehen (hinterher stellt sich heraus, dass Vater und Sohn nach Prishtina müssen und hier keinen Gips bekommen werden). Ein einziges Hin und Her.
Weil wir schon da sind, darf Elmase direkt zu einem Allgemeinmediziner, doch alles dauert seine Zeit. Fotografieren darf ich nicht, das möchte der zuständige Arzt nicht. Also gehe ich mit Sara einen Kaffee trinken und abwarten.
Auf dem Heimweg erzählt uns Violetta, wie der Besuch beim Allgemeinmediziner war, der sie schon 15 Jahre kennt: Er wusste nicht mehr, wer Elmase war. Nicht, weil der Arzt vergesslich ist, sondern weil Elmase so sehr abgenommen hat.
Zuhause angekommen zeigt uns Elmase Fotos, die vor 14 Jahren gemacht wurden. Zu sehen ist sie selbst. Und ja, auf diesen Bildern ist sie beinahe eine andere Frau, das fällt auch mir auf. Jetzt weiß ich, warum sie es so bedauert, nicht mehr so hübsch zu sein wie früher.
Beim Verabschieden schaue ich ihr in die Augen und sage etwas, was ich normalerweise nicht sage: Dass ich finde, dass sie schön ist. Ihr Lächeln im Auto und im Krankenhaus hat mir so gut gefallen und manchmal strahlte sie regelrecht aus sich heraus.
Elmase sagt: „Das freut mich sehr, auch wenn ich weiß, dass das nicht stimmt.“ Ich versichere ihr, dass ich das genau so meine, wie ich es gesagt habe. Eigentlich sage ich fremden Frauen überhaupt nicht, dass ich sie schön finde. Warum auch? Aber jetzt und hier, da passt es.
Liebe Elmase. Danke für die Zeit, die ich Dein Leben begleiten durfte. Du hast mir gezeigt, dass Trauer und Hoffnung oft so nah beineinander liegen und ich wünsche Dir und Deiner Familie Kraft, Mut und Freunde, die Euch unterstützen. Dass Du gesund wirst, Deinen Tränen getrocknet werden und Du Trost findest. Friede mit Dir, Elmase.