Als ich im Dezember letzten Jahres begann, Flüchtlinge zu fotografieren, veränderte sich mein Leben radikal. Noch radikaler veränderte es sich, als ich im Mai in den Kosovo flog, um herauszufinden, warum Menschen aus diesem Land nach Deutschland fliehen.
Über Twitter wurde ich eingeladen, doch mal „mitzukommen“, um mir vor Ort ein Bild von den Zuständen zu machen, in denen die Ärmsten der Armen versuchen, zu existieren. Ich sagte sofort zu und ein paar Wochen später landete ich in Prishtina, der Hauptstadt des Kosovo.
Eine Woche verbrachte ich in einem Kinderheim der Caritas, von dem aus ich mit Helfern und einer Übersetzerin Familien und Einzelpersonen im ganzen Land besuchte. Die Fotos und Berichte darüber habe ich gesammelt und werde hier im Magazin in den kommenden Wochen darüber schreiben. Heute beginne ich mit der ersten Geschichte über eine Familie, die mich trotz des Leides sehr ins Staunen versetzt hat.
Zu Beginn meiner Zeit im Kosovo besuchen wir in der Nähe von Klina eine muslimische Familie, die für mich in der Retrospektive an ein Wunder grenzt. Nachdem wir über eine wackelige Brücke über einen Fluss gefahren und den Jeep durch enge Wege gezwängt haben, kommen wir vor dem Haus der Familie an und werden sofort herzlich begrüßt.
Die Mutter serviert uns schwarzen Tee mit Zucker, der mir vorzüglich schmeckt.
Auf der Couch liegt ein Sohn mit Behinderung. Ich setze mich zu ihm und versuche, mit ihm zu lächeln und mache ein paar Fotos, die ich ihm zeige.
Dieser Junge kam jedoch „normal“ (was auch immer das ist) auf die Welt. Aber im Alter von neun Monaten wurde er krank und bekam hohes Fieber, das über lange Zeit nicht zurückging.
Weil die Familie kein Geld hatte, zum Arzt zu fahren (geschweige denn, ihn zu bezahlen), blieben beim Kind dauerhafte Schäden – und wir mutmaßen, dass es sich um eine Hirnhautentzündung handelte. Dieser Mensch kann nicht laufen und nicht sprechen, weil die Familie arm ist.
In Kosovo gibt es keine Versicherung, die im Falle eines Krankenhausbesuches zahlen kann. Wer kein Geld hat, muss leiden. Und wer kein Geld hat und ein krankes Kind, muss zusehen, wie das Kind leidet – und, wie in diesem Fall, behindert wird.
Dazu kommt, dass der Junge heute Medikamente braucht, die nicht günstig sind. Ohne die Unterstützung der Caritas, die auch beim Hausbau geholfen hat, würde das Leben dieser Familie wesentlich düsterer aussehen.
Die Geschwister des Jungen (der übrigens viel lachte) machen auf mich aber überhaupt keinen düsteren Eindruck.
Sie spielen mit mir fangen, verstecken sich, während ich ihnen mit der Kamera unauffällig folge, kichern und: Strahlen über’s ganze Gesicht.
Auch die Eltern machen auf mich einen lebendigen und klaren Eindruck. Immer wieder wird mir schwarzer Tee angeboten.
Ich hatte mit allem gerechnet, doch nicht damit. Diese Familie schien ihre Armut akzeptiert und die Lust am Leben, die Freude an kleinen Dingen und somit auch die Würde ihrer selbst bewahrt zu haben. Es war, als ob ich die glücklichste Familie im Kosovo kennengelernt hätte.
Ich erinnere mich gut, wie ich noch tagelang über diese Begegnung rätselte und mich darüber wunderte. Auch heute denke ich noch oft an diese Familie, die leuchtenden Augen der Kinder und den Sohn, der nicht laufen kann.
Allein die Vorstellung, eine meiner beiden Töchter würde krank werden und ich müsste dabei zusehen, wie sie sich eine Meningitis zuzieht, lässt mich erschaudern. Ich würde wohl meines Lebens nicht mehr glücklich werden.
Liebe Familie auf der anderen Seite des Flusses. Ihr habt mir so viel gegeben, dass ich Euch für immer dankbar sein werde. Inmitten der Not habt Ihr mich mit Freude und Gastfreundschaft überschüttet. Ich wünsche Euch eine Zukunft, in der Krankheit kein Grund zur Sorge sein muss. Eine Zukunft ohne Armut.