Meine Hoffnung, mein Wunsch
Es war ein verregneter Sommertag und ich 15 Jahre alt. Da mir wie immer die Lust fehlte, Hausaufgaben zu machen, büxte ich spontan aus, schwang mich aufs Rad und fuhr von meinem Heimatdorf Sinzheim in die nächstgelegene Stadt: Baden-Baden. Nach einer halben Stunde Fahrt und ein paar fiesen Mückenstichen entdeckte ich in der Nähe des Hauptbahnhofes neu aufgestellte Baracken, vor denen einige Afrikaner standen.
Ein großer, kräftiger Mann sprach mich von Weitem an, ich stieg ab und wir kamen ins Gespräch. Er war freundlich und erzählte mir davon, dass er nicht genügend zu essen hätte. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, doch ich weiß, dass ich mit einem Gefühl des Mitleids nach Hause fuhr. Am nächsten Tag erzählte ich einem Lehrer des Vertrauens von meiner überraschenden Begegnung und erklärte ihm mein Anliegen: „Ich muß diesem Mann irgendwie helfen!“
Mein Lehrer antwortete mit den folgenden Worten, die mich prägen sollten: „Denen kannst Du nicht helfen, das sind Asylanten.“ Ob er dies aus Besorgnis um mein Wohl oder aus Überzeugung sagte, weiß ich heute nicht mehr.
Die Jahre gingen ins Land und ich sollte meine Begegnung schnell vergessen haben. Ich absolvierte eine Ausblildung zum Erzieher, lernte eine großartige Frau kennen und heiratete. Fand Faszination an der Fotografie, machte mich 2008 selbständig und gründete kwerfeldein.
Fotografisch arbeitete ich mich durch alle Genres, die mich ansprachen. Dokumentierte das lebendige Stadtleben in Karlsruhe, bunte Hochzeiten und die träge Tristesse baden-württembergischer Dörfer auf Schwarzweißfilm. Ich verstand, dass ich mit der Kamera nicht nur Bilder knipste, sondern dass diese ein wichtiges Zeitdokument für zukünftige Generationen sein können.
Als dann letztes Jahr die Flüchtlingsthematik überall in den Medien (Flüchtlingswelle! Pegida! NoPegida!) heiß diskutiert wurde, entschloss ich mich, diese Menschen, die nach Deutschland flohen hier willkommen zu heißen und zu portraitieren. Viele ließen sich gern fotografieren und nur die wenigsten lehnten ab – was ich stets respektierte. Von drei Begegnungen möchte ich nun erzählen.
Keba
Vor einigen Wochen lerne ich Job und Keba im Flüchtlingsheim kennen. Während ich mich mit Job unterhalte, sitzt Keba am Rand seines Bettes und hört gespannt zu. Keba ist aus Gambia und zeigt sofort Bereitschaft, sich fotografieren zu lassen.
„No problem“, schmunzelt er und sein Gesicht leuchtet, als ich ein paar Aufnahmen mache. Etwas unsicher hält er sich die Hand vors Gesicht, doch ich lasse ihn einfach so sein, wie er ist.
Während ich mich wieder auf den Stuhl am Tisch setze, berichtet mir Keba, dass er aus der Stadt Sukuta stammt, die am gambischen Meer liegt. Keba war in seiner Heimat „a fisherman“ und ich entnehme seiner Stimme, dass er seinen Beruf geliebt haben muss.
Und auf meine Frage, was das Schönste an Gambia sei, antwortet er mir: „the seaside and the sun.“ Doch innerfamiliäre Probleme und örtlicher Rassismus veranlassten Keba, alles zurückzulassen und sich auf die Flucht zu begeben. Auch er benennt die Armut als das Schlimmste in Gambia.
Nun ist Keba seit dem 12. Januar in Deutschland und hat schon ein paar Erfahrungen mit Deutschen gemacht. Im Gespräch will er mir eine Sache sagen, die ich an meine Leser weitergeben soll: Er findet es schlimm, dass er als Flüchtling unter Generalverdacht steht, kriminell zu sein.
If a person who is a refugee steals something, that person is a criminal. But that doesn’t mean, that ALL refugees are criminals.
Was Keba auch spürt, ist eine grundlege Ablehnung ihm gegenüber. Manche Menschen würden ihn nicht einmal ansehen, wenn er sich mit ihnen unterhalte, selbst wenn er besonders freundlich sei, so der Gambier. Keba akzeptiert das, doch es macht ihm den Aufenhalt in Deutschland sehr unangenehm.
Ich stimme Keba bedingungslos zu. Wir unterhalten uns noch lange über Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, die in Deutschland gelebt werden und wie wenig wir uns damit anfreunden können. Die Zeit vergeht wie im Flug, doch mein Blick auf die Uhr lässt mich aufstehen und ich verabschiede mich.
Willkommen in Deutschland, Keba. Es ist so gut, dass Du hier bist. Du hast ein gutes Gespür für Zwischenmenschliches und Deine Ehrlichkeit ist schon jetzt eine Bereicherung – für mich. Friede sei mit Dir, wo auch immer Du hingehst. Ich wünsche Dir das Beste.
Abdurahman
Der Tag ist schon fortgeschritten, als ich mich mittags auf den Weg zur Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge mache. Ich genieße die warme Luft, die durch die Fächerstadt Karlsruhe zieht – heute bin ich zu Fuß unterwegs.
Ein junger Herr, groß und von kräftiger Statur, läuft an mir vorbei und ich entscheide mich spontan, ihn anzusprechen. Sein junges Gesicht hat eine kindliche Ausstrahlung, unbedarft und voller Neugier.
Abdurahman (gesprochen: Abduh-Rach-Mahn) stellt seinen Namen vor und ich benötige mehrere Anläufe, bis ich ihn a) mir merken und b) auch korrekt aussprechen kann.
Er sei aus Somalia geflohen, dort habe es „tribe problems“ gegeben, als eine neue terroristische Gruppe, Al-Shabaab, ihr Unwesen trieb. Für Abdurahman ist es bis heute unverständlich, was die Motivation der Gruppe ist.
I don’t know what their problem is.
Nebenbei sagt Abdurahman irgendetwas von 14 Jahren, ich verstehe ihn nicht ganz und frage, wie alt er heute sei. „I’m still 14 years old“ und wir beide lachen. Ich kann es gar nicht glauben und sage ihm, dass ich ihn wesentlich älter geschätzt hatte.
Der Somali floh mit Mutter, Bruder und Vetter nach Deutschland und lebt seit drei Monaten in Karlsruhe. Ich bitte ihn, ehrlich zu sein, was die Räume und Verpflegung betrifft.
Adurahman erklärt, dass das Zimmer, in dem er mit seiner Familie lebt, recht klein sei. Das Essen sei in Ordnung, doch manchmal würde es nicht reichen. Ich bedaure das.
Was mich an diesem Jungen fasziniert, ist seine Gelassenheit. Während unseres Gesprächs lacht er viel und unterhält sich zwanglos offen mit mir. Die ganze Zeit beschleicht mich ein Gefühl, das ich noch nie in meinen Gesprächen hatte:
Abdurahman ist wie ein Freund, den ich schon ein Leben lang kenne. Mir ist bewusst, dass diese Bemerkung kitschig wirkt, aber dennoch fühlt es sich genau so an.
Herzlich willkommen in Deutschland, Abdurahman. Ich wünsche Dir eine gute Zukunft in diesem Land und hoffe, dass Du Dich unter uns wohl fühlen wirst. Friede mit Dir. Es ist gut, dass es Dich gibt.
Jamil
Bei lauwarmen 8 °C stehe ich vor der Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge (LEA). Auf mich läuft ein junger, gutaussehender Syrer zu, sein Name ist Jamil.
Er tägt Jogginghose, Turnschuhe und Lederjacke, seine Augen glänzen im diffusen Licht des bewölkten Montags. Wir einigen uns auf Englisch und Jamil berichtet mir bereitwillig über seinem Leben:
In Syrien wäre die Situation katastrophal und ständig würden Leute ermordet. Dabei wäre es unmöglich, festzustellen, wer eigentlich wen getötet habe. Er selbst wäre mit seiner Familie geflohen, bevor es für sie bedrohlich wurde.
Sie hätten schon ein Jahr in der Türkei gelebt, doch unter den Umständen (nur der Vater durfte arbeiten) konnten sie nicht bleiben. So hätte sich die Familie erneut aufgemacht und floh über Bulgarien nach Deutschland – weite Strecken davon zu Fuß.
Jamil hat große Ansprüche an sich selbst und erzählt von seinem Bachelor-Abschluss. Auch hier möchte er studieren, sobald es ihm möglich ist, erklärt er selbstbewusst.
Auf die Frage, wie es seiner Familie hier in Deutschland gehe, antwortet er zurückhaltend. Die Umstände im Flüchtlingsheim wären schlimm. Ich frage ihn, ob ich ihn mit hinein begleiten könne, um mir selbst ein Bild zu machen. „Of course“, antwortet er mir.
So packe ich meine Kamera ein, stelle mich an der Pforte an und tausche meinen Personalausweis gegen einen Besucherausweis. Jamil führt mich durchs Gelände.
Überall stehen und unterhalten sich Menschen aus unterschiedlichsten Nationen vor dreistöckgen Häusern. Jamil geht voran. Kaum sind wir durch die Tür eines der Gebäude geschritten, kriecht mir ein ekelhafter Gestank in die Nase.
Wir schauen uns eine der Toiletten-Anlagen an. Diese sind alles, nur nicht sauber. Wir öffnen eine Tür, hinter der die Toilette steht, die von einer dreckigen, stinkenden Urinlache umgeben ist. Ich halte mir die Nase zu, es ist unerträglich.
Mein Begleiter führt mich zum Zimmer der Familie. Er klopft an und es wird uns geöffnet. Ich sehe vier Betten in einem Raum, den ich auf 10 qm Fläche schätze. Jamils Mutter, Vater und zwei Geschwister haben gerade geschlafen.
Sie setzen sich auf, nur der kleine Junge im Eck bleibt liegen. Sofort wird mir Tee und ein Stuhl zum Sitzen angeboten. Die kleinste Schwester ist im Kindergarten, wie Jamils Mutter erklärt. Ich versuche, das Ganze zu erfassen.
„You are six people and you have only 4 beds?“ „Yes.“
Ich traue meinen Augen nicht. Wie kann das sein? Jamil erklärt mir, dass es auch unter den Flüchtlingen nicht immer einfach ist, da es Diebe gäbe. Jetzt verstehe ich, warum die Tür abgeschlossen war.
Der Vater macht einen traurigen und resignierten Eindruck auf mich. Jamil erzählt mir, dass er an Nacken und Rücken erkrankt sei. Doch kein Arzt würde ihn behandeln, er bekäme lediglich ein Medikament. Die Sprachbarriere verhindert, dass ich mehr darüber erfahre.
Das Essen der Hauskantine sei für die syrische Familie ungenießbar, da sie deutsche Gerichte nicht kennen und damit wenig anfangen können. Deshalb würden sie sich von den 900 €, die für alle sechs reichen müssen, stets selbst etwas kaufen.
Ich frage, ob ich ein paar Aufnahmen machen dürfe, doch der Vater möchte das nicht. Es wird ihm unangenehm sein, in dieser bloßstellenden Situation fotografiert zu werden. Ich zeige Verständnis dafür, verspreche, dass ich über die Situation berichten werde und wünsche ihnen das Allerbeste.
Doch ich bleibe noch einen Moment sitzen und schweige. Denke nach. Es schmerzt, dass ich nicht mehr tun kann. Ich würde so gern helfen. Doch alles, was ich kann, ist schreiben und fotografieren. So verabschiede ich mich herzlich und Jamil begleitet mich zum Ausgang des Heimes.
Wir adden uns auf Facebook – denn ich möchte ihm das Portrait schicken. Schütteln die Hände und ich schaue ihm noch einmal tief in die Augen. „I wish you the very best and a very good future“, sind meine letzten Worte. An der Pforte tausche ich wieder die Ausweise und laufe zurück zum Auto.
Auf der Rückfahrt rufe ich meine Frau an und erzähle ihr, was ich erlebt habe. Ich kann es immer noch nicht ganz glauben und muss das erst einmal verarbeiten.
Liebe Familie aus Syrien, seid willkommen in Deutschland. Mögen die körperlichen Wunden des Vaters geheilt werden und Jamil die Möglichkeit zum Studieren bekommen. Möge Deutschland eine Herberge sein, die Eure Trauer, Verzweiflung und Resignation in Freiheit, Frieden und Freude verwandelt.
Manchmal fühle ich mich wie damals, mit 15. Dann spüre ich wieder den Regen auf meiner Haut und das innere Drängen, zu helfen. Doch heute weiß ich, dass schon das Da-Sein, das Zuhören und meine Fotos helfen können. Das ist sowohl meine Hoffnung, als auch mein Wunsch.